Dienstag, 9. Mai 2017

Vergessen – aus der Erinnerung verlieren

In der Schlange vor der Kasse im Supermarkt wartend, entstehen manchmal kleine Gespräche unter Kunden, die ein Thema ansprechen, über das ich dann auf dem Heimweg nachdenken kann.
Dieser Tage hat sich wieder einmal eine solch kleine Geschichte ergeben. Wir Kunden standen hintereinander, warteten bis wir zahlen konnten. Plötzlich bemerkte ein ebenfalls wartender älterer Mann, dass er etwas vergessen hatte. Er trat aus der Warteschlange, schimpfte über sich selbst und liess uns wissen, dass er wegen einem Liter Milch hieher gekommen sei. Nun habe er alles andere in den Einkaufskorb gelegt, nur keine Milch. Dann ging er weg.

Einem jungem Mann fiel dann ein tröstliches Wort ein, das sein Vater in jeweils ähnlichen Situationen ausspreche:
Nur Derjenige,
der nicht mehr in dieser Welt lebt,
vergisst nichts.
Dieser Gedanke hat mir sofort gefallen. Es interessierte mich, aus welchem Land er ihn mitgebracht habe. Ich hörte aus seiner Stimme, dass er kein Schweizer sei.

Zuerst antwortete er, dass dieser Gedanke für alle Menschen gültig sei. Sie gehöre nicht zu einem bestimmten Land. Aber dann verriert er mir doch noch die Heimat seines Vaters: Albanien.
Sturm im Wasserglas

Vergessen… diese Schwäche meldet sich mit zunehmendem Alter und verlangt Geduld. In meinem bildhaften Denken existiert eine mächtige Tonne, in die alles Erlebte, alles Gelernte, alles Gehörte, alles Verstandene und Bestandene im Laufe der Lebensjahre hinein geflossen ist. Alle Ereignisse schwimmen in ihr. Alles Erfahrene wird dort als eine Art Reichtum empfunden. Kommt im Altwerden viel Neues hinzu, erlebe ich manchmal das Neue wie ein Sturm im Wasserglas. Es sind neue Ordnungen entstanden, die ich nicht immer sofort verstehe. Es stehen uns heute Techniken zur Verfügung, die meiner Generation eher fremd sind. Darum höre ich oft von Menschen die älter sind als ich, das frühere Leben sei viel schöner gewesen. Es war vermutlich darum schöner, weil die damaligen Ordnungen gut bekannt waren und sich für die damalige Verhältnisse auch verlässlich erwiesen. Meine Generation fühlt sich jetzt oft zwischen den Welten.
Dem Lexikon der Synonyme entnehme ich einige Deutungen zum Wort Vergessen:

Aus der Erinnerung verlieren.
Nicht im Kopf behalten.
Verschusseln.
Der Vergessenheit anheim fallen.
Auch: zerstreut

Aus diesen wenigen Worten leite ich für mich einen Hinweis ab, dass die Fähigkeit sich zu erinnern, bis zu einem gewissen Grad aufrecht erhalten werden kann. Ruhe ist wichtige Voraussetzung, stelle ich an mir immer wieder fest. Nicht schusseln. Erst dann können wir Mitteilungen und Geschichten besser aufnehmen, wenn wir in uns ruhig sind. Nur gerade einer Sache verpflichtet. Oft bitte ich Primo, wenn er etwas erzählen will, dass er den ersten Satz, den er soeben ausgesprochen hat, nochmals wiederhole. Ich erlebe solches Nachfragen als fühlbare Verankerung von Namen oder Gedanken und kann danach des Gehörte besser behalten.

Die Sinneseindrücke, die uns heute an vielen Orten zufallen, bewirken viel Unruhe und manchmal Verwirrung. Vieles saust auch an uns vorbei. Darum ist es wichtig, wenigstens im eigenen Zuhause eine wohltuende Ruhe zu schaffen, die unsere Gedanken nicht zerstört. Geduld ist wichtig geworden. Langsam sein — plötzlich ein Gebot.

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