Dienstag, 30. Mai 2017

Sogenannt schlechtes Wetter verwandelte sich in eine Art himmlischer Schau

Als wir meinen Besuch in Bulle festlegten, fühlten wir uns schon im Sommer. Es gab da ein paar heitere, sonnige Tage und wir nahmen an, diese seien nun wegweisend. 2 Tage vor meiner Abreise, als ich die Zugsankunft meldete, verkündeten die Wetterprognosen für meinen Reisetag einen markanten Temperatursturz, Regen und möglicherweise Schnee.

Maria liess sich nicht verunsichern. Mein Besuch bei ihr war angesagt. Daran wollte sie festhalten. Sie erwarte mich. Wenn es wirklich garstig sein sollte, dänn hocked mer i dä Stubä und erfindät d'Wält neu. (Ihr Schlechtwetterprogramm: In der Stube sitzen und zusammen die Welt neu erfinden.)

Dieses Programm für alle Fälle imponierte mir sofort. Ich mag ihre unerwarteten Gedanken. Sie ist eine feinsinnige Frau, Krankenschwester mit viel Erfahrung, vor allem auch mit Kranken in afrikanischen Spitälern.

Sie kann gut erzählen, nimmt einen mit in ihre Welt und wer gern zuhört, kann erleben, dass eine Geschichte unerwartet in einen Wortwitz mündet. Dann lachen wir und das Thema ist gleich abgeschlossen. Ich denke manchmal, sie könne ein Thema auf heitere Art beenden. Und sie sorge dafür, dass wir unsere Gedanken nicht überhöhen.

Die Welt an einem Nachmittag neu erfinden, dieses Angebot hatte sich rasch verflüchtigt.
Wir erinnerten uns aber gern an gemeinsame Erlebnisse aus der Vergangenheit. Unsere Männer arbeiteten in jungen Jahren eine Zeit lang miteinander. Ihnen verdanken wir unsere Frauen-Freundschaft. Und gemeinsame, unvergesslichen Ausflüge.

Und jetzt das:
Vor wenigen Minuten fand ich im Briefkasten eine Karte von Maria, die mir gerade noch gefehlt hat. Sie kann nicht wissen, dass ich begonnen habe, in einem Blog von meinem Besuch in Bulle zu erzählen.

Der französische Kartentext sagt: Macht Blödsinn, macht ihn aber mit Begeisterung! Dieser heitere Befehl spricht uns alte Frauen besonders darum an, weil unsere Jugend von strengen Rahmen in allerlei Richtungen umgeben waren. Und Lebensfreude eher nicht dank Blödsinn erwartet werden durfte.

Der Wetterbericht für Bulle am Tag meiner Reise entsprach exakt dem Wetter, das wir dann erlebten. Erst am späten Nachmittag hellte sich der Himmel auf. Auf umliegenden Bergen entdeckte ich Schnee. Maria begleitete mich noch in die Altstadt von Bulle, zeigte mir Gebäude und Orte, die mich interessierten. Und sie führte mich in eine Bäckerei und zum Metzger, damit ich ein Mümpfeli aus der Region heimbringen konnte.

Dann weiter zum Bahnhof. Im Kiosk kaufte Maria für mich die regionale Zeitung, von der sie mir berichtet hatte. Und schon war der gemeinsame Tag vorbei.

Kaum war der Zug abgefahren, begann für mich ein unbekanntes Lichtspiel am Himmel. Noch war es nicht Zeit für den Sonnenuntergang. Viele der grauen Wolken, die am Vormittag für Düsternis sorgten, hatten ihren Schnee teilweise fallen gelassen. Es entstanden verschiedenste Himmelsbilder, weil die Eisenbahn keine schnurgerade Linie fuhr aber auch weil verschiedene Höhenunterschiede mitspielten. Auf tiefer liegenden Orten, weit weg von der Bahn, sassen immer noch dicke Wolkenfrachten. Ich folgerte, dass ich jetzt streckenweise über den Wolken reise. Dort, wo sich Nebel aufgelöst hatte, entstand ein Fenster und öffnete die Sicht zum strahlend blauen Himmel. Die Landschaft bekam eine besondere Form nur für diesen Tag und den persönlichen Augenblick. Es fehlen mir Worte, die ich gern aussprechen möchte, wenn ich an diese Reise zurückdenke. Auf der Strecke nach Fribourg begleiteten uns dann die frisch verschneiten Alpen, deren Namen ich nicht kenne. Markante Gesteine, alle im Schneekleid. Aufgestellt, wie in einem überirdischen Museum. Und immer wieder offene Fenster zum blauen Himmel.

Die Fahrt bis Fribourg und zum Teil auch noch bis Bern, beschenkte mich mit manchen Wetter bedingten Bildern und vor allem Lichtern.

Kein Mensch in meinem Umfeld schaute aus dem Fenster. Eine junge Frau kämmte auf der schönsten Strecke Richtung Fribourg hingebend ihre langen Haare und alle andern Reisenden waren mit ihren E-Mails beschäftigt. Wie traurig!
Da werden am Himmel Lichtbilder geboten, die kein Mensch herstellen könnte und niemand schaut hin.

Zu Hause habe ich selbstverständlich alle diese Bilder beschrieben.

Um Mitternacht dann erwachte ich und sah diese himmlischen Stimmungsbilder nochmals. Um nicht süchtig zu werden oder die Augen zu überfordern, befahl ich mir nach einer Stunde, dieses Ereignis jetzt abzulegen.

Es war unglaublich schön.

Dienstag, 9. Mai 2017

Vergessen – aus der Erinnerung verlieren

In der Schlange vor der Kasse im Supermarkt wartend, entstehen manchmal kleine Gespräche unter Kunden, die ein Thema ansprechen, über das ich dann auf dem Heimweg nachdenken kann.
Dieser Tage hat sich wieder einmal eine solch kleine Geschichte ergeben. Wir Kunden standen hintereinander, warteten bis wir zahlen konnten. Plötzlich bemerkte ein ebenfalls wartender älterer Mann, dass er etwas vergessen hatte. Er trat aus der Warteschlange, schimpfte über sich selbst und liess uns wissen, dass er wegen einem Liter Milch hieher gekommen sei. Nun habe er alles andere in den Einkaufskorb gelegt, nur keine Milch. Dann ging er weg.

Einem jungem Mann fiel dann ein tröstliches Wort ein, das sein Vater in jeweils ähnlichen Situationen ausspreche:
Nur Derjenige,
der nicht mehr in dieser Welt lebt,
vergisst nichts.
Dieser Gedanke hat mir sofort gefallen. Es interessierte mich, aus welchem Land er ihn mitgebracht habe. Ich hörte aus seiner Stimme, dass er kein Schweizer sei.

Zuerst antwortete er, dass dieser Gedanke für alle Menschen gültig sei. Sie gehöre nicht zu einem bestimmten Land. Aber dann verriert er mir doch noch die Heimat seines Vaters: Albanien.
Sturm im Wasserglas

Vergessen… diese Schwäche meldet sich mit zunehmendem Alter und verlangt Geduld. In meinem bildhaften Denken existiert eine mächtige Tonne, in die alles Erlebte, alles Gelernte, alles Gehörte, alles Verstandene und Bestandene im Laufe der Lebensjahre hinein geflossen ist. Alle Ereignisse schwimmen in ihr. Alles Erfahrene wird dort als eine Art Reichtum empfunden. Kommt im Altwerden viel Neues hinzu, erlebe ich manchmal das Neue wie ein Sturm im Wasserglas. Es sind neue Ordnungen entstanden, die ich nicht immer sofort verstehe. Es stehen uns heute Techniken zur Verfügung, die meiner Generation eher fremd sind. Darum höre ich oft von Menschen die älter sind als ich, das frühere Leben sei viel schöner gewesen. Es war vermutlich darum schöner, weil die damaligen Ordnungen gut bekannt waren und sich für die damalige Verhältnisse auch verlässlich erwiesen. Meine Generation fühlt sich jetzt oft zwischen den Welten.
Dem Lexikon der Synonyme entnehme ich einige Deutungen zum Wort Vergessen:

Aus der Erinnerung verlieren.
Nicht im Kopf behalten.
Verschusseln.
Der Vergessenheit anheim fallen.
Auch: zerstreut

Aus diesen wenigen Worten leite ich für mich einen Hinweis ab, dass die Fähigkeit sich zu erinnern, bis zu einem gewissen Grad aufrecht erhalten werden kann. Ruhe ist wichtige Voraussetzung, stelle ich an mir immer wieder fest. Nicht schusseln. Erst dann können wir Mitteilungen und Geschichten besser aufnehmen, wenn wir in uns ruhig sind. Nur gerade einer Sache verpflichtet. Oft bitte ich Primo, wenn er etwas erzählen will, dass er den ersten Satz, den er soeben ausgesprochen hat, nochmals wiederhole. Ich erlebe solches Nachfragen als fühlbare Verankerung von Namen oder Gedanken und kann danach des Gehörte besser behalten.

Die Sinneseindrücke, die uns heute an vielen Orten zufallen, bewirken viel Unruhe und manchmal Verwirrung. Vieles saust auch an uns vorbei. Darum ist es wichtig, wenigstens im eigenen Zuhause eine wohltuende Ruhe zu schaffen, die unsere Gedanken nicht zerstört. Geduld ist wichtig geworden. Langsam sein — plötzlich ein Gebot.