Freitag, 25. September 2015

Formen in der Natur: In den Blumenkisten und in der Handschrift

Gestern habe ich unseren Balkon geputzt. Gründlich, wie nur möglich. Den Boden auf den Knien geschruppt. Die Steine auf dem Fenstersims gewaschen und wieder neu plaziert. Das Gestrüpp in den Blumenkisten sachte dezimiert. Und ihre Formen und Farben nochmals bestaunt. Besonders auch heute, als die Sonne mithalf, die schönen Bilder, die der Herbst verschenken kann, mit Fotos einzufangen.

In meinen Blumenkisten dürfen sich zugewanderte Samen entwickeln und uns überraschen. Die Pflanzen, die sich hier ansiedeln, sind willkommen, müssen sich aber mit Nachbarn arrangieren. Ob auch Revierkämpfe ausgetragen werden, weiss ich nicht.

Bevor die Herbststürme die Samenstände forttragen und die dürren Pflanzenstengel brechen, sprachen sie mich auf ihre Art nochmals an. Z.B. die blaue Blume, die sich ganz allein zeigte. Ihre Verwandten seien schon fortgegangen. Sie geniesse die Ruhe und den schönen Ort, wo sie zur Geltung komme. Aber auch der wattenähnliche Flausch, der hunderte von Samen in sich trägt und auf den Wind wartet, der den Transport in die Ferne übernimmt.

Alle Pflanzen bezaubern durch ihre Formen, die erst jetzt, als ihre Blätter abgefallen sind, sichtbar wurden.
Kalligraphie aus der Natur

Das eine Bild, das den Namen Kalligraphie trägt, lässt mich an Handschriften befreundeter Menschen denken. An ihren Schwung, aus dem Gefühl und Herzlichkeit sprechen. Solche Briefe oder auch nur Briefumschläge lasse ich gern auf dem Schreibtisch liegen. Sie bringen Leben in meine Bude, beflügeln mich. Ganz anders nun die neue Basisschrift, die für die Kinder in der Schweiz ab Schuljahr 2016/2017 neu vorgesehen ist. Entschuldigung: Aber so sehen doch Schriften auf Grabsteinen aus.

Die Handschrift, die Kinder in der Schweiz bis anhin erlernten, nannten wir "Schnüerlischrift". Einer Schnur vergleichbar.

Wir übten diese in einem sogenannten Schreibheft. Ihre Linien waren in 3 Zonen eingeteilt. Diese Zonen werden in der Graphologie mit Oberzone = Geist, Mittelzone = Seele, Unterzone = Leib betrachtet. Ebenso wurde eine leichte Schräge nach rechts vorgegeben.

Wir wurden angehalten, alle Bereiche gleichwertig einzubeziehen. Aber sofort, als die stützenden Linien in Heften anderer Fächer wegfielen, wurde nach und nach die Persönlichkeit der schreibenden Person offenbar. Die Grundlage war einmal für alle dieselbe. Doch die persönliche Eigenart und die Entwicklung wirkten mit.

Schauen wir Handschriften an, sticht sofort ins Auge, dass niemand diese Bereiche exakt gleich und ausgewogen gewichtet.

Für mich ist die Handschrift etwas Schönes und offenbart die Persönlichkeit der schreibenden Person. Sie drückt das aus, wer die Person wirklich ist.

Ich beobachte schon lange, dass Menschen, die jetzt 100 Jahre alt wären, viel schwungvoller geschrieben haben.

Ich vermute, dass die Kinder von heute, genau wie wir damals auch, einer Leitlinie folgen müssen und später dann, ohne es zu wissen, ihre Persönlichkeit in der Schrift darstellen.

Also lasse ich sogenannte Verlustängste fahren… Auch im neuen Zeitalter werden sich Herzlichkeit, Grosszügigkeit, aber auch Gegenteile von ihnen in der eigenen Schrift zeigen.

Montag, 14. September 2015

Was hat die Mooreiche mit dem Pfingstweidpark zu tun?

In der S-Bahn Richtung Zürich-Altstetten, allein im Abteil, schaute ich während der Zugsabfahrt nicht auf Menschen oder Plakate. Ich folgte keinem Gedanken, schaute nur auf die zahlreichen zürichblauen Deckenlampen mit ihrer Aufschrift ZÜRICH HB. Im diffusen Licht der Unterwelt leuchteten sie besonders heiter und als der Zug abfuhr, schienen sie zu tanzen. Und sogleich tauchte die Geschichte der Mooreiche aus meinen Erinnerungen auf. Und dann die Idee, sie auch fürs Blog-Archiv aufzuschreiben.

Das Ereignis liegt 30 Jahre zurück. Ich staune, dass sich diese Geschichte gemeldet hat.

Als im Zürcher Hauptbahnhof für die unterirdische S-Bahn gebaut wurde und man in 8 Meter Tiefe vorgedrungen war, fanden die Bauarbeiter bei den Aushubarbeiten einen ungefähr 6 m langen Baum. Er lag im Kies. Man freute sich nicht über diesen Fund. Er wurde als Störenfried empfunden. Sorglos wurden darum Scheiben abgeschnitten, bis der Stamm etwa 3 m lang war. Erst dann wurde es möglich, ihn aus dem Schotter herauszuziehen.

Eine solche Scheibe wurde in die Schreinerei meines Ehemannes Primo gebracht. Obwohl er die Geschichte dieses Baumes nicht kannte, sah er sofort seine Einmaligkeit und das Archaische an ihm. Die Mooreiche. Die dunkle Farbe und die zottige Rinde wiesen auf sie hin. Solche Bäume werden selten gefunden. Im Zürcher Furnierwerk, wo der Baum aufgeschnitten wurde, sagte ihm der Furnierschneider, in seiner 30-jährigen Tätigkeit habe er erst dreimal eine Mooreiche aus der Schweiz (Funde aus dem Rheintal) aufgeschnitten.

Diese Mooreiche, die den Namen Zürcher Mooreiche tragen darf, wurde untersucht. Das Geografische Institut der Universität Zürich-Irchel ermittelte mit der 14C-Methode ein Alter von 109 Jahren. Vermutlich wurde der Baum vom Blitz erschlagen. Als Schwemmgut im Fluss (in der Sihl, eventuell in der Limmat) im Untergrund des heutigen Hauptbahnhofes im Kies festgehalten und vom Wasser überschwemmt. Dort ruhte der Baum rund 3'000 Jahre.

Eine Geschichte, die uns bewegte und immer noch bewegt.

Nachdem der Baum zu Furnier geschnitten in die Werkstatt zurückgebracht worden war, entstand aus zwei zusammengefügten Furnierblättern das "Bärenfell". So nennt Primo sein erstes Zürcher Mooreichen-Kunstwerk.
Am 5. September 2015, nur einen Tag nach meiner S-Bahnfahrt mit den Erinnerungen an den Mooreichenfund, wurde der Pfingstweidpark eröffnet. Die Quartierzeitung berichtete von einem dynamischen Einweihungsakt. Ihn haben wir nicht erlebt. Wir besuchten den Ort erst gegen Abend. Die Bilder, die dazugehören, erzählen von heiterer Stimmung und Freude.
Das Wort RENAISSANCE am Hotel-Tower verstehe ich als Wiederaufleben dieses Ortes. Alte, ausgediente Industriegebäude sind verschwunden. Ebenso die Familiengärten, wie sie einst in vielen Städten an ihren Rändern anzutreffen waren. Ich hörte einen Mann sagen, der neue Park gefalle ihm gut, doch der Verlust seines eigenen Gemüsegartens, der wiege schwer.
Als Bagger in der Pfingstweid auffuhren
Ich bin in der Nähe, in einer Fabrik, aufgewachsen, habe erlebt, wie sich unser damaliges Umfeld verwandelte und wie sich der Abbruch des Alten zugunsten von etwas Neuem durchsetzte. Wenn ich heute in der S-Bahn aus Oerlikon durch den Wipkingertunnel zur Hardbrücke fahre, staune ich immer wieder. Das erhöhte Trasse der Bahn wird dann zum Aussichtspunkt über Zürich-West. Der Blick fängt einen weiten Raum auf. Unbekannt nüchtern und steinern zeigt sich die Architektur.

Wo bin ich gelandet, fragte ich mich, als ich Zürich-West mit Abstand betrachtete. Der Anblick befremdete. Ich sah eine sehr kühle, nur rationale Umgebung. Und jetzt neu das Gegenstück zu ihr. Der weit offene Pfingstweidpark ist seine Ergänzung. Er atmet, er lässt Pflanzen und Bäume wachsen. Eine Wohltat für alle Menschen aus diesem Quartier.

Wer den Park besuchen will, fährt mit der S-Bahn Richtung Altstetten ab Hauptbahnhof zur Station Hardbrücke. Fahrzeit nur 2 Minuten.

Wer mit der S-Bahn im Untergeschoss des Zürcher Hauptbahnhofs ein- oder ausfährt, der befindet sich im Untergrund, in dem die Mooreiche ihren 3'000-jährigen Schlaf geschlafen hat.

1985 wurde die Mooreiche gefunden. Heute erzählte ich ihre Geschichte. Darum gehört auch sie zum Thema RENAISSANCE.