Montag, 31. August 2015

Ein Kind lässt das Bild von liebenswerten Grossmüttern entstehen

Wald, ZH – Wohnort meiner Grossmütter
Ich sass auf einer Parkbank, als sich ein kleines Mädchen für mich interessierte. Vielleicht 6-jährig. Ihre Mama war mit dem jüngeren Bruder beschäftigt, der laufen lernte.

Das Mädchen schaute mich prüfend an und fragte: Bist du ein Grösy (eine Grossmutter)? Nein. Zu jener Zeit war ich es noch nicht. Ich antwortete ihr, ich sei Mama von 2 Mädchen. Was schaffsch Du? fragte es weiter. Ich zählte meine Arbeiten auf, die zur damaligen Mutter gehörten: Fürs Essen und Trinken sorgen, putzen und waschen, damit unser Zuhause und unsere Kleider sauber und schön seien. Dann weiter: Die Kinder begleiten, mit ihnen spielen und spazieren. Ihnen Geschichten erzählen, sie trösten, wenn sie traurig seien. Aber auch mit ihnen lachen. Und ihnen vieles lernen. Auch bei den Schulaufgaben helfen, wenn sie nicht mehr weiter wissen.

Und ich erzählte ihr, dass mein Mann ein Schreiner sei, und dass ich in seinem Büro arbeite.

Dann nannte sie ihren Namen: Laura. Sie erzählte, woher sie kämen. Aus dem Berner Oberland. Sie nannte den Ort und fragte, ob ich das Restaurant XY kenne. Dort wohne der Fritz und im Haus dahinter, da sei sie zu Hause.

Den Ortsnamen und jenen des Gasthauses habe ich vergessen, nicht aber das Kind, das mir Fragen stellte und mich durchdringend musterte. Auf einmal sagte Laura zusammenfassend: Du bist aber doch ein Grösy. War es mein Aussehen oder meine Antworten, die zu diesem Schluss führten?

Ein andermal war ich mit dem Velo in der Innenstadt unterwegs. Ich wartete bei einer Ampel auf Grün. Ein junger Mann sauste an mir vorbei, rief Grosy, hopp Schwyz! Vorausschauend konnte er durchstarten, weil er zum rechten Zeitpunkt, etwas später als ich, an der Kreuzung angekommen war. Ich hatte keine Freude an seinem hämischen Ruf. Er machte die Grosseltern-Generation lächerlich.

Jetzt, ungefähr 20 Jahre später, ist die Situation nochmals anders. Alle Velofahrenden stehen heute unter dem Motto Hopp Schwyz, nicht nur in der Schweiz. Weil das E-Bike das Tempo angibt. Weil man offensichtlich nur noch an gehetztem Fahren und ebensolchem Vorwärtskommen interessiert ist.

Das Thema Highspeed meldet sich überall. Jetzt gerade sprach mich dazu eine Aussage von Alfred de Quervain, Schweizer Naturforscher, an. Als erster Mensch durchquerte er 1912 Grönland von West nach Ost. In der soeben erschienenen Zeitschrift Schweizer Familie 35 vom 27. August 2015 wurde er porträtiert. Wir erfahren, dass er dem Bericht über die erwähnte Expedition später noch eine sogenannt kleine Wahrheit angefügt habe. Ich verstehe sie als Quintessenz seiner Erfahrungen. Er spricht von Einsichten, die ihn das Inlandeis, die Mitternachtssonne und die hundert Fältchen eines alten Inuits gelehrt hätten. 1914 schrieb er:

«Wenn die Eindrücke, die auf uns eindringen, zehnmal schneller daherstürmen, so wird dafür ihre Wirkung um das zehnmalzehnfache geringer. Und das Ergebnis ist dies, dass wir, je hastiger wir leben, um so ärmer werden.»

Also tun wir der Welt und unseren Mitmenschen Gutes, wenn wir Ruhe und Gelassenheit verströmen und auf Hopp-Schwyz-Rufe verzichten.

Zufällig passt zu diesen Gedanken ein origineller Text zum Thema Grossmutter. Er wurde in der Rubrik Humour einer Zeitschrift veröffentlicht. Eine befreundete Primarlehrerin sandte ihn mir zu. Sie konnte sich vorstellen, dass mich der französisch sprechende Schüler aus Genf (un petit Genevois) begeistere. Im Gespräch mit seiner Lehrerin entstand sein persönliches Grossmutter-Bild. Sie stellte Fragen. Seine Antworten sind hier aufgelistet. Ich habe sie sinngemäss ins Deutsche übersetzt.

Die Grossmutter ist eine Frau, die keine Kinder hat.
Darum liebt sie die andern Kinder.
Grossmütter haben nichts zu tun. Sie müssen nur da sein.

Wenn sie mit Euch spazieren, gehen sie langsam und achtsam.
Sie zertreten weder Laubblätter noch Schnecken.

Das Format der Grossmutter ist rundlich, beleibt,
aber doch so, dass sie die Schuhe schnüren kann.

Und sie weiss, dass man immer ein zweites, grosses
Stück Kuchen braucht.

Eine richtige Grossmutter schlägt die Kinder nicht.
Sie lacht, wenn sie wütend geworden ist.

Die Grossmütter tragen Brillen.
Manchmal können sie sogar ihre Zähne in die Hand nehmen.

Die Grossmütter sind die einzigen Erwachsenen,
die immer Zeit haben.

Und sie sind nicht so zerbrechlich, wie sie es uns weismachen,
auch wenn sie viel öfters sterben als wir.

Alle Menschen sollten versuchen, eine Grossmutter zu haben,
vor allem jene, die ohne Television leben.

Solche Einsicht bestärkt mich in meiner Rolle als Grossmutter. Sie darf bedächtig und soll friedfertig sein. Auch humorvoll, und die Kinderseele verstehen.

Hinweis auf die Neuerscheinung
Die Naturforschenden im Verlag HIER und JETZT, CH-Baden:
In diesem Buch wurde Alfred de Quervain porträtiert.

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