Mittwoch, 19. August 2015

Der vergangene Sommer begleitet mich mit seinem Restlicht


Das Wort Restlicht kannte ich bis anhin nicht. Es begegnete mir erstmals auf einer Einladungskarte zur Eröffnung einer Fotoausstellung im Grossmünster Zürich. Weit voraus wurde ich telefonisch aus Norwegen auf dieses ausserordentliche Ereignis aufmerksam gemacht. Die norwegische Freundin Brit kennt den Schweizer Fotografen Bernd Nicolaisen und seine Familie und war schon informiert. Sie sprach von Eis und Wasser. Diese Ausstellung müsst ihr sehen, sagte sie am Telefon. Das war ihr Anliegen und der Hinweis für uns ein Geschenk.

Die Krypta im Grossmünster gilt als Ort der Kraft. Einen würdigeren Ort für eine solche Bilderschau kann ich mir gar nicht vorstellen.

Es war dann die Farbe Blau, die den Raum für sich einnehmen durfte. Sie erinnerte uns sofort an den Himmel von Trondheim.

In der Grossmünster-Krypta beleuchteten die ähnlich blauen Eisbilder den Raum und verwandelten ihn in ein Juwel. Sie stammen aus Island. Das dortige Gletschereis sei kristallklar. Und es berge Feuer in sich, weil es feine Einschlüsse von Lava in sich trage. Das Eis von unseren Alpengletschern hingegen sei milchig, hörten wir.

Schon beim ersten Rundgang erkannte ich Lebensprozesse, die in den Fotos aufgefangen worden sind. Da sah ich Ausschnitte aufeinander geschichteter Eisschichten, wie sie nur Naturkräfte bewerkstelligen können. Dem einen Ort etwas weggenommen, dem andern aufgebürdet.

Sie zeigten mir Belastungen und Wandlungen im Leben.

Da war einmal nur Wasser. Kälte liess es erstarren. Wasser wurde zu Eis. Als sich Wärme ausbreitete, verwandelte sich Starres wieder in Flüssiges zurück. Solange bis die Kälte diesen Prozess erneut gefrieren liess. Ein ewig sich wandelnder Vorgang, von den Temperaturen abhängig.

Reststücke verlorener Schichten waren auf den Fotos ersichtlich. Und diese Reststücke gaben und geben den Gletschern ihre bizarren Formen. Sie werden von den Naturkräften belastet, gebrochen und teilweise aufgelöst Anschliessend werden unter neuen Bedingungen wieder neue Formationen gefroren. In diesen Umwandlungsprozessen können in den Eiswüsten dünnwandige Räume entstehen und diese fangen Restlicht auf. Nach diesen hat der passionierte Fotograf geforscht und ihre Bilder eingefangen.

Wer sie gesehen hat, muss an den weltweiten Gletscherschwund denken. An die Verantwortung, die uns allen aufgetragen ist. Gletscher sind Wasserspeicher. Nicht auszudenken, was mit uns geschieht, wenn sie eines Tages verdurstet sind.

Bei einem zweiten Besuch in dieser Ausstellung setzten wir uns auf ein niedriges Steinmäuerchen an der linken Seitenwand, um die Tiefe dieses Ortes zu erleben. Zu dieser Zeit waren wenig Ausstellungsbesuchende anwesend. Wir nahmen diese nur schemenhaft wahr. Das Licht gehörte den blauen Bildern. Ich bemerkte, dass wir gemustert wurden. Vielleicht sahen wir auf den ersten Blick wie steinerne Figuren aus.

Wir fühlten uns gut an diesem Ort, in der friedlichen Tiefe vieler Ereignisse, die zur Geschichte des Zürcher Grossmünsters und zu Zürich allgemein gehören. Ohne dass sich diese als Restlicht gemeldet hätten.

Zu diesem Zeitpunkt konzentrierten wir uns auf Tropfen, die ins Wasser fielen, und wir liessen den Eiswind auf uns wirken. Aus der Tiefes unseres Sitzplatzes entdeckte mein nach oben gerichteter Blick ein markantes Gesicht in einem Gletscherbild. Freundlich ausstrahlend. War es vielleicht die Seele jenes Ortes, die wir sehen durften? Vor ihm stehend sah die Foto dann anders aus.

Die beiden Ausstellungsbesuche ergänzten sich. Man kann diese aber nicht nur bereden. Die Bilder sprechen für sich. Das Buch Bernd Nicolaisen – RESTLICHT wird bei der Turm-Kasse im Grossmünster verkauft und erscheint im Herbst in den Buchhandlungen.
ISBN 978-3-7757-4061-6 (Deutsch, Englisch)
Auf dem Heimweg dann, nach dem 2. Besuch im Grossmünster, entdeckte Primo an der Heinrichstrasse beim Viadukt eine Kunstinstallation von URBAN JUNGLE. Eine Sommerattraktion von Zürich: «Aufsehen! The Summer Festival». Die amerikanische Malerin Kelsey Montague hatte dort überlebensgrosse Schmetterlingsflügel installiert. Um einen Abflug zu simulieren. Unser Fotoapparat war dabei. Es genügte, uns abwechselnd zwischen die beiden filigran gestalteten Flügel zu stellen und abzudrücken.

Auch wenn uns diese Flügel trotz Grösse und Schönheit nicht wegtragen konnten, der Halt an diesem Ort, der Kontakt mit dem Kunstwerk, sie vermittelten aber Spass.

Ob sich dieses kurze Ereignis leicht abschwemmen lässt oder ob es eines Tages vom Restlicht beleuchtet wird, das weiss noch niemand.

Sicher wissen wir aber, dass Bernd Nicolaisens bewegende Ausstellung, noch täglich von 10–18 h offen, aber bald beendet sein wird.
Am 21.08.2015 wird sie geschlossen.

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