Nachdem ich im Blog vom 3.1.2015 den Schutzgatter-Begriff erklärte, kann ich heute eine Schutzgatter-Geschichte erzählen.
Das Ereignis, von dem ich berichten will, liegt einige Monate
zurück. Ich dachte öfters daran und spielte mit dem Gedanken, in einem
Blog davon zu erzählen. Aber ohne die Zustimmung der Hauptperson, einer
jungen Frau, überliess ich die Notizen nur dem Tagebuch.
Die jungen Leute, die in unserem Haus wohnen, kommen und gehen, wie
es ihre Arbeit oder ihr Studium bestimmt. Die Bekanntschaft mit ihnen
ist flüchtig.
Aber heute gab es unerwartet ein Wiedersehen. Wir trafen uns in der
Eingangshalle. Sie kam aus der Waschküche aus dem Untergeschoss und ich
durch die Haustür. Wir grüssten, blieben einen Augenblick stehen,
beäugten uns. Sie erkannte mich nicht sofort, weil ich eine wollene
Mütze trug. Spontan sprudelte aber aus mir die Frage heraus, ob sie jene
Person sei, die von der Laube heruntergesprungen sei. Ja! Da erkannte
sie mich wieder. Unsere gemeinsame Geschichte würden mittlerweile alle
ihre Bekannten kennen. Ich könne mir nicht vorstellen, wie oft sie von
der lieben, alten Frau erzähle, die ihr geholfen habe. Und ja!
Selbstverständlich dürfe ich darüber schreiben.
An jenem Tag wollte sie erstmals in unserem Haus ihre Wäsche
waschen. Sie hatte sich in der Liste eingetragen und bei einem
Kontrollgang bemerkt, dass die Vorgängerin das Zeichen gesetzt hatte,
die Maschine sei wieder frei. Diese Vorgängerin war ich. Da ich den
Trocknungsaum und die Waschküche im Voraus gewischt hatte, konnte ich
meine Wäsche nur aus der Maschine nehmen und sie zu mir auf den Balkon
tragen. Schnell war ich wieder aus der Waschküche verschwunden.
Wir beide sahen uns nicht. Sie traf die Maschine leer an, füllte
sie mit ihrer Wäsche und wollte sie in Betrieb setzen. Aus welchen
Unstimmigkeiten es ihr nicht gelang, wissen wir nicht.
Sie brauchte Hilfe, entschloss sich, systematisch an den
Wohnungstüren zu läuten, bis man ihr werde helfen können. Sie begann
ihre Tournée auf dem Hochparterre und hätte mich angetroffen, wenn sie
ihren vorgesehenen Weg nicht aufgegeben hätte. Sie hörte aber, wie die
Tür zur Laube hinter ihr ins Schloss fiel. Sofort fühlte sie sich
gefangen. Da wollte sie nur einen Ausweg finden und verschwinden. Sie
hatte ihren privaten Schlüsselbund in der Waschküche auf dem Tisch
liegen gelassen und ängstigte sich enorm, er könnte ihr gestohlen
werden.
Was sie dann tat: Anstatt auf dem Laubengang an 2 Haustüren zu
läuten – da hätte sie mich gleich getroffen –, wählte sie einen Sprung
auf die Wiese. Die Laubenwand gab ihr fürs erste etwas Halt. Sie liess
sich an ihr herunterfallen. Zitternd, aber unversehrt kam sie auf dem
Erdboden an.
Jetzt befand sie sich im Freien, konnte aber nicht ins Haus
zurückkehren. Unsere Haustüre ist immer abgeschlossen. Aber sie läutete
intuitiv am richtigen Ort. Ihr stürmisches Läuten erreichte mich. Ich
eilte hinaus, traf sie in einem erbärmlichen Zustand an. Sie zitterte.
Noch nie habe ich einen Menschen so zittern gesehen – auch wenn ich
weiss, was das Schutzgatter-Zittern ist. Ich versuchte, sie zu
beruhigen, hielt sie am Arm, gab ihr Halt. Stossweise hörte ich, was
abgelaufen sei. Zum Sprung sagte sich noch, wenn man jung sei, könne man
sich einen solchen erlauben.
Ruhig gingen wir miteinander in die Waschküche hinunter. Der
Schlüsselbund lag noch da. Ich konnte ihr zeigen, wie ich die
Waschmaschine starte. Ohne Probleme gelang es auch diesmal. Der vorher
empfundene Schreck zerstreute sich. Ruhe kehrte ein. Wir verabschiedeten
uns, und ich stellte mir vor, dass wir einander immer wieder einmal im
Treppenhaus begegnen würden. Monatelang kreuzten sich unsere Wege nicht
mehr, obwohl sie immer noch im selben Haus wohnt.
Jetzt sprachen wir aber nochmals über unsere Geschichte, und ich
hörte, welchen Beruf sie ausübt und dass sie noch ein Studium begonnen
habe. Sie wundert sich, wie sie im Beruf Ruhe bewahren könne, wenn es
darum gehe, andern Menschen Ängste abzunehmen. Mache sie aber selber
Fehler, dann laste das schwer auf ihr. Diese Beschreibung passt auch auf
mich.