Mittwoch, 23. Dezember 2015

Die kleine Tanne, der Christbaum, Wohnorte mit Namen Wald und das Stille-Nacht-Schnarchkissen

Die kleine Tanne
Als unsere Töchter noch bei uns lebten, entdeckte Felicitas, damals Sekundarschülerin, auf einem gemeinsamen Spaziergang an einem Waldrand ein kleines Tännchen. Wie eine Miniatur. Sie grub es aus und setzte es in einen Tontopf. Diesen stellte sie im Garten an einen geeigneten Platz. Der kleine Baum wuchs bedächtig. Zu Weihnachten wurde er regelmässig ins Haus getragen.

Schwierig empfand ich jeweils nach den Feiertagen, den richtigen Augenblick zu erhaschen, um den Topf wieder ins Freie zu bringen. Die Pflanze, die über die Feiertage von Zimmerwärme umgeben war, sollte ob tiefen Aussentemperaturen nicht erschrecken.

Felicitas nahm diesen Baum nicht mit, als sie von Zuhause wegzog. Er gehörte schon längst zur Familie. Wohl schenkten wir ihm noch Zuneigung, doch geschmückt wurde er nie mehr.

Eines Tages bemerkte ich, dass die Wurzel den Topf gesprengt hatte. Wir sagen im Dialekt
S hät en verjagt
. Zur selben Zeit vernahmen wir von Felicitas, dass sie nach Canada auswandern werde. Ich vermute, dass sie die Schweiz damals genau so empfunden hatte, wie das Bäumchen den Topf. So interpretierten wir den Befund und versetzten die kleine Tanne ins Erdreich eines Wäldchens, weit weg von uns. Hier konnte es sich besser entfalten.

Der Baum, der Christbaum wird
Am vergangenen Sonntag benützten Letizia und Primo die Gelegenheit, den diesjährigen Familien-Christbaum aus dem Forstgarten Albisgüetli selber zu schneiden. Grün Stadt Zürich (Departement für den Bau und die Pflege sämtlicher städtischer Grünflächen) lud an diesem Tag dazu ein. Auf einem begrenzten Feld durften Bäume ausgesucht und eigenhändig geschnitten werden. Mustergültig die Organisation. Moderat die Preise. Allseitige Begeisterung. Beachtlicher Aufmarsch von Familien mit Kindern. Gute Stimmung am Ort. So wurde ich informiert.

Den Baum für unsere diesjährige gemeinsame Weihnacht habe ich erst auf einer Foto gesehen. Ich erwarte das Weihnachtsfest mit einer wohltuenden Entspanntheit. Bin nicht mehr für alles verantwortlich.

Vielleicht wirkt auch schon das Geschenk von Felicitas:
Das Stille-Nacht-Schnarchkissen aus Oesterreich.

So wird es beschrieben:

Diese wohlriechende Duftkombination sorgt für einen tiefen und entspannten Schlaf und setzt die Pulsfrequenz runter. Die Inhaltsstoffe sorgen für freie Atemwege. Am Besten unters Kopfkissen legen oder direkt darauf schlafen.

In der Sprache der Herkunft* dieses wertvollen Geschenks tönt es so:
Stille-Nocht-Schnorchpoista
Va den guadn Gschmoch schlofst gonz bessa,
s'Heaschz weaschd schtada und s'schnaufn geht
a leichta. An Bestn untan Poista legn, mogst owa a glei drauf schlofn.

Diese Geschichte ist zu schön, um Felicitas gegenüber zu verheimlichen, dass ich ihr Paket, das dieser Tage in Zürich angekommen ist, schon geöffnet habe. Ich vermutete, der Inhalt könnte mir eine kleine Geschichte fürs Blog-Archiv bereit halten.

Was mich auch berührte, ist der Ort Wald im österreichischen Pinzgau. Ich selbst stamme auch von einem Ort mit diesem Namen. Der meine: Wald im Kanton Zürich. Beide Orte tragen in ihrem Wappen 3 Tannen. In jenem von Wald im Pinzgau verweisen zusätzlich drei goldene Kugeln auf den Kirchenpatron Sankt Nikolaus.

Es freut mich, dass der Nikolaus in meinen diesjährigen weihnächtlichen Gedanken auch dabei ist.

* Adresse für Gebrauchsartikel mit Tradition:
www.gipfelrausch.at

Sonntag, 13. Dezember 2015

Vom Papierstern über schmutzige Fenster
zum Licht und zu Farben

Besuch bei der Tochter Letizia. Ich bringe ihr unseren Christbaumständer. Sie wird für die Familie den Weihnachtsabend gestalten. Primo hat von der Stafette gesprochen, dass er ihr diese Aufgabe jetzt übergebe. Sie freut sich. Und wünschte sofort, dass auch die wenigen Christbaumkugeln aus dem Nachlass ihres Grossvaters zu dieser Übergabe gehören.

Wir sitzen eine Weile zusammen und sie fragt mich, ob mein Zuhause schon weihnächtlich geschmückt sei. Sie könnte uns einen aussergewöhnlichen Stern herstellen. In wenigen Minuten. Ja gern!

Einer in Deutschland gekauften Packung mit Papiertüten für Sandwichs entnahm sie 7 Stück, und zauberte nach einer Anleitung aus dem Internet im Nu einen Papierstern. Hier der Link zur Anleitung: www.vimeo.com/148355957

Erstaunlich wie wenige Bedingungen erfüllt werden müssen, um ein solches Kunstwerk zu erschaffen. Als Zuschauerin wirkte diese Aktion wie ein Jahrmarktzauber. Gern nahm ich den Stern entgegen. Mit wenigen Handgriffen konnte er in die Ausgangslage zurückgefaltet werden. Unverletzt brachte ich ihn heim. Und dort gelang es auch mir, ihn aufzufalten.

Da hängt nun das zarte Gebilde am Fenster im Stübli, wie wir unser kleines Esszimmer nennen. Ich beobachte, wie es auf Feuchtigkeit und Wärme und wahrscheinlich auch auf uns und unsere Bewegungen reagiert. Es scheint zu atmen, ist auf seine Art lebendig.

Tags darauf, am Sonntagmorgen, sassen wir länger als an Werktagen üblich am Frühstückstisch. Wir hörten Radio. Dazu schaute ich beinahe pausenlos zum Stern am Fenster, bis der Blick auf einmal zu den schmutzigen Fensterscheiben wechselte.
Auf einmal sah ich nicht mehr nur den dreidimensionalen Stern, sondern auch Staub und Schmutz auf dem Glas. Der tiefe Sonnenstand warf eine Zeit lang fadengerade Strahlen auf unsere Fensterscheiben. Oh je! Wie schmutzig diese geworden sind. Sie hätten es nötig, gründlich gereinigt zu werden. Ganz besonders jetzt vor Weihnachten. An diesem Morgen interessierte mich aber nur noch, was am Glas hängen geblieben sein mag. Primo zählte sofort auf: Feinstaubige Erde, vom Wind überwirbelter Wiesen und Felder, von zersetzten Baumblättern, Pollen von Pflanzen, Russ von Kaminen, von Autoabgasen, Abrieb von Pneus, Abrieb von Asphalt. Alle zu kleinsten Partikeln zerfallen.

Wie ich so dasass und weiter zu den Fenstern schaute, vollzog sich noch eine eindrückliche Schau, eine Demonstration von vorbeiziehenden Staubpartikeln. Im Gegenlicht zeigten sie sich mir als kleine Schäumchen. Von der Luft getragen schwebten sie tanzend an mir vorbei.
Eine berührende Lektion.

Und dann noch die Zugabe. Plötzlich fiel mir auf, dass Kratzer im alten Glas ebenfalls von der Sonne angestrahlt wurden und als Finale meiner Beobachtungen noch prismatische Farben um sich warfen.
Über das Prisma am Fenster wirft das Sonnenlicht die Regenbogenfarben auf die gegenüberliegende Wand.
Und das alles am 13. Dezember, dem Namenstag von Santa Lucia, der heiligen Lucia. Ihr Name bedeutet die Lichtvolle. Die junge Frau, die diese Figur verkörpern darf, trägt eine Lichter-Krone. Ihr Fest entstand in Schweden, strahlt aber in andere Länder aus. In Zürich werden wir jedes Jahr auf sie aufmerksam. Die hier lebenden Schweden feiern ihre Lucia und bringen sie uns näher. Ein sympathisches Fest. Meine Familie war auch schon dabei.

Dienstag, 24. November 2015

Ein Abend in der Innenstadt. Lichter zur Weihnachtszeit

Dieser Tage räumte ich die verdorrten Pflanzen aus den Blumenkisten ab. Noch während ich damit beschäftigt war, fielen Hagelkörner vom Himmel. Und Winde pfiffen mir um die Ohren. Nur eine kleine Weile. Wie ein Spuck. Ein leicht zu deutendes Zeichen: Der Winter zieht ein.
Und mit ihm die Weihnachtszeit. Zürichs Festbeleuchtungen wurden am vergangenen Donnerstag eingeschaltet und die Vorweihnacht eröffnet.

Mit Tochter und Ehemann war ich an jenem Abend in die Stadt gekommen. Wir trafen uns, um den erweiterten Weihnachtsmarkt auf dem Sechseläutenplatz anzuschauen. Auf dem Weg dorthin, besuchten wir den Neumarkt. Seit Jahren bewundern wir an diesem Ort die schlichte, feinfühlig farbige Weihnachtsdekoration. Zeitgleich mit der Bahnhofstrassen-Weihnachtsbeleuchtung wurde auch sie eingeschaltet.

Es sei eine Tradition, sagte uns die Buchhändlerin aus der Reisebuchhandlung am Rindermarkt, dass man an diesem Tag die eigenen Türen öffne und sich mit den Gästen unterhalte. Sie offerierte uns einen exotischen Tee und ermunterte uns, auf weitere offene Türen zu achten.
Zufällig waren wir zur rechten Zeit am rechten Ort, wo sich Neumarkt, Rindermarkt und Froschaugasse treffen. An dieser Stelle hatte sich kurz zuvor die Feuerwehr-Musik Zürich-Altstadt aufgestellt. Wir wussten nicht einmal, dass eine solche existiert. Erst an diesem Abend lernten wir sie kennen. Wir liessen uns gern von ihrer Musik einnehmen. Wir waren nicht die einzigen, die den warmherzigen Tönen lauschten. Auch Kinder freuten sich. Manche Augen leuchteten. Alt und Jung blieb stehen. Vielleicht erging es andern Erwachsenen wie mir. Die Musik trug mich in die Kindheit zurück, als sie noch ohne Elektrokabel auskam und den Ohren nicht schadete. Und auch die Sinne nicht erschreckte.

Die Feuerwehr-Musikanten freuten sich an unserer Begeisterung und lächelten verschmitzt.



Auf unserem weiteren Anmarschweg Richtung Bahnhof Stadelhofen und Bellevue kamen wir am Grossmünster vorbei. Die Tür war offen. Es traten viele dunkel gekleidete Personen ins Freie. Sehr ruhig, in sich gekehrt. Hatten sie an einer Feier teilgenommen? Es muss sich um etwas Bewegendes, Trauriges und um Abschied gehandelt haben. So meine Interpretation. Mehr weiss ich nicht. Die Foto spricht für sich. Jede Person, die sie betrachtet, kann sich dazu eine Geschichte ausdenken. Ereignete sich diese vielleicht in Paris?

Eine Viertelstunde später befanden wir uns im neuen Weihnachtsdorf auf dem Sechseläutenplatz. Inmitten von ungefähr 100 orangeroten, zu einem Dorf aufgestellten Verkaufs- Holzhäuschen, hier Hütten genannt. Sie lassen an Skandinavien denken.
An diesem Abend wurde hier Vernissage gefeiert. Fröhlich gestimmte Menschen prosteten einander zu. Ja, ihr Werk verdient Applaus. Hier tritt eine neue Generation auf, die sich dem Thema Weihnachten auf ihre Art annimmt. Mir gefallen die Gedanken, die den Vorbereitungen des Festes unterlegt worden sind. Für Weihnachts-Romantiker, Stadtzürcher und Besucher aus der ganzen Welt erschaffen. Von Neuem und Traditionellem ist die Rede. Mit starkem lokalen Bezug.

Am Sonntag danach konnte ich diesen Ort aus dem fahrenden Tram überblicken. Sehr belebt, heiter, wie auf einer beliebten Spielwiese.

Nachbar des neuen Weihnachtsdorfes ist das Opernhaus. Es offeriert den kostenlos klingenden Adventskalender in ihrem Haus. Und ergänzt so die materielle Seite von Weihnachten mit Musik. Dass es ein Gesamtkunstwerk werde!

Musikalischer Adventskalender im Zürcher Opernhaus

Montag, 26. Oktober 2015

Von Zündorf nach Weiss:
Romantische Fähre führt über den Rhein

Der Rhein bei Köln
Unsere Veloausfahrt als Familie. Ein Konvoi zu sechst. Angeführt vom Schwiegersohn ab Bayenthal dem Rhein entlang Richtung Bonn. Über die Autobahnbrücke ans andere Ufer. Angekommen in einem wohlgeordneten, lieblich grünen Land. Wiesen und Bäume. Land der Seligen?

Wir fuhren auf dem Rheinuferweg in den imposanten Flussbogen hinein. Dem Wasser nahe. Der Raum des Rheins zeigt sich in diesem Abschnitt besonders offen und weit. Sein Name Weisser Bogen.

Gerade als die Freude an dieser gemeinsamen Fahrt gross geworden war, schleuderte das neue Fahrrad unsere Enkelin Nora zu Boden. Es entglitt ihrer Führung. Es warf das Kind über den Uferwerg auf die gegenüberliegende Wegseite. Ein Pedal hatte sich aus der Verankerung gelöst. Glücklicherweise kam Nora mit dem Schrecken davon. Sie wurde nicht verletzt. Und der weiche Stoff ihrer Hosen wehrte auch Hautschürfungen ab. Wir erlebten sofort grosse Anteilnahme von Spaziergängern. Berührend. Eine Frau brachte ein Glas Wasser, um den Schock zu entspannen. Ihr Mann entnahm seiner Tasche, die mit «1. Hilfe gekennzeichnet» war ein Pflaster. Felicitas – Noras Mama – nahm es gern an, als psychologische Hilfe, wie sie sagte. Grossvater konnte in der Zwischenzeit das Pedal provisorisch fixieren.
Dann setzten wir uns ans Ufer. Wir schauten aufs Wasser. Sein Fluss beruhigte uns. An diesem Tag wurde die Deutsche Einheit gefeiert. Es zogen verschiedene kleine Schiffe an uns vorüber, die diesem Gedenken einen besonderen Glanz verliehen.

Dann Weiterfahrt auf den Rädern Richtung Zündorf. Offensichtlich ein beliebter Ausflugsort. Kein freier Platz in einer der Gartenwirtschaften. Aber an einem Kiosk konnten wir Eis im Cornet kaufen und die grossen Portionen geniessen. Mit Kleidergrössen verglichen, müssten sie mit XXL bezeichnet werden. Sehr, sehr cool wurden sie empfunden.
Wieder gestärkt, fuhren wir zur Schifflände. Felicitas informierte, dass uns eine Fahrt über den Rhein bevorstehe. (Von Zündorf nach Weiss). Was für eine tolle Überraschung! Viele Leute bereits am Warten. Wir schlossen uns an. Der kleinen, romantischen Fähre mit Namen Krokolino zuzuschauen, wie sie Fussgänger und Radfahrende verschluckte und sie sicher ans andere Ufer brachte, bezauberte. Erstaunlich, wie viele Velos dieses kleine Schiff aufnehmen konnte.

Zur Zeit unserer Überfahrt begann die Fähre plötzlich zu schwanken. Richtung Bonn zog ein grosser Rheinkahn vorüber. Und als Überraschung dahinter noch einer aus der Gegenrichtung nach Köln. Die Wellen trafen aufeinander, wurden zum Wellensturm. Die kleine Fähre, sicher gesteuert, brachte uns problemlos ans gegenüberliegende Ufer. Da lachten auch jene Passagiere wieder, die im Sturm ui-ui-ui oder oohhh gerufen hatten. Erschrecken und Spass sind oft Verbündete.

Die Weiterfahrt auf unseren Rädern führte auf einem Radweg von Weiss durch den Naturpark Rheinland. Einmalig für uns die Radwege, wie sie Kölns Wälder bieten können. Gross und weit sind Ihre Räume. Offensichtlich vom Grundwasser des Rheins gut genährt. Die Bäume aufrecht, von gutem Wuchs, gross und stark. Zu hohen Hallen gewachsen. Mit Domen vergleichbar und doch viel grösser als sie.

Und dann...! Nochmals bockte das Pedal an Noras Rad und versagte jeglichen Dienst. Und jetzt? Wir rechneten aus, dass unser Heimweg zu Fuss ca. 3 Std. dauern würde. Der Schwiegersohn entschloss sich, sein eigenes Velo zu fahren und gleichzeitig links neben sich Nora, auch auf dem Rad sitzend, heimzuführen. Mit der rechten Hand steuerte er sein eigenes Gefährt und mit der linken jenes von und mit Nora. Eine Glanzleistung. Ohne Zwischenhalt oder weitere Probleme kam unser Familien-Konvoi dann unversehrt nach Hause.
Die Freude an den Velo-Ausfahrten mit dem Grossvater schrieb Nora in den Sand.

Sonntag, 18. Oktober 2015

Neu für mich: Mein Fahrrad hat mich ins Ausland begleitet
Reise nach Köln und zurück

Für mich ist der Velotransport eine ganz spezielle Dienstleistung der Bahn, aber auch von Primo, der sich um mein Rad kümmerte. Allein hätte ich den Selbstverlad nicht geschafft. Die internationale Fahrradkarte (20 Euro) sicherte für die Hin- und Rückfahrt einen reservierten Platz. Wir reisten im Euro-City-Zug nach Köln.
Nach der Fahrkartenkontrolle im Umfeld von Freiburg im Breisgau, entschlossen wir uns, im Bordrestaurant zu essen. Wir machten uns auf den Weg. Unser Sitzplatz und das Restaurant lagen weit auseinander. Unterwegs trafen wir auf eine weitere Kontrollperson. Wir wurden aufgefordert, unsere Billette nochmals vorzuweisen. Wir zeigten alle Papiere, auch jene fürs Velo. In ihrem Übereifer entwertete die Schaffnerin dann die Fahrkarte für unseren Rückweg nach Zürich. Ich machte darauf aufmerksam. Sie notierte mit dem Vermerk SR (siehe Rückseite) die irrtümliche Entwertung. Die Karte für die Heimreise sei noch gültig. – «Kein Problem!» wurde uns zugesichert. Hatte sie uns falsch eingeschätzt? Meinte sie, wir würden schwarzfahren?

Wie eine strenge Lehrerin wies sie uns zurecht. Sie kritisierte, dass wir unsere Plätze und die persönlichen Habseligkeiten verlassen hätten und wies auf Diebstähle hin. Ja, unsere Jacken hatten wir zum Essen nicht mitgenommen. Hastig assen wir dann einen Teller feinster Suppe und kehrten an die unberührten Plätze zurück. Später hörten wir eine Mitteilung über Lautspecher, man vermute, dass Taschendiebe zugestiegen seien.

So macht Reisen immer weniger Spass.

Bevor wir Bonn erreichten, wurden wir ebenfalls über Lautsprecher informiert, dass eine Person dringend medizinische Hilfe benötige. Wenn sich Ärzte im Zug befänden, möchten sie sich unverzüglich im Wagen XY melden. Aus unserem Blickfeld folgten 4 Personen diesem Notruf. Danach hielt der Zug ausser Fahrplan in Bad Godesberg-Bonn an. Hier holten Sanitäter eine junge Frau ab.

Eine Woche später verhinderte eine Stellwerkstörung die fahrplanmässige Rückreise nach Zürich. Der Zug aus Hamburg konnte in Köln nicht einfahren. Als er nach halbstündiger Verspätung auf dem Perron eintraf, kam Hektik auf. Die Wagen wurden gestürmt. Wir empfanden die Aussteige- und Umsteigezeiten sehr kurz bemessen.

Unsere 13-jährige Enkelin half uns beherzt. Weil der Grossvater zuerst eine Anzahl voluminöser Rollkoffer umbeigen musste, um das Velo an der vorgesehenen Halterung aufhängen zu können, kümmerte sie sich um unser Gepäck. Sie sorgte dafür, dass jene Personen, die unsere reservierten Sitzplätze erobert hatten, umzogen und schob unsere persönlichen, schweren Gepäckstücke an geeignete Orte. Dann verliess sie den Bahnhwagen. Sie rief uns noch zu, wo unsere Gepäckstücke deponiert seien und winkte adieu. Die Türen schlossen automatisch. Der Zug fuhr ab.

Dass unsere bezahlten Sitzplätze nicht erneut erorbert wurden, dafür sorgte die mit uns reisende 9-jährige Enkelin. Ruhig sass sie am Ort und verteidigte die Sitzplatz-Nummern 41, 42, 43. Die reisetüchtigen Kinder von heute wissen, wie das geht.

Auch diesmal konnte nicht übersehen werden, wie rücksichtslos reservierte Plätze eingenommen werden. Wir waren nicht allein von diesen Eroberungen betroffen. Immerhin habe ich keinen Streit miterlebt. Wenn aufmerksam gemacht wurde, diese Plätze seien reserviert, erhoben sich die angesprochenen Personen. Meist folgte vorher noch ein Blick zu den Reservationsanzeigen. Für manche mag es ein Spiel oder Sport sein, einen Platz zu ergattern. Anständig empfinde ich aber solches Verhalten nicht.

Im Blog vom 12.01.2014 habe ich dieses Problem schon einmal, jedoch aus einer andern Perspektive, beschrieben.

In Basel erneut eine Durchsage, die uns betraf. Wieder eine Störung, die unsere Weiterfahrt verzögerte. Wir wussten aber, dass dieser Zug nach Zürich zurückkehren musste. Also blieben wir sitzen. Mit uns nur 5 weitere Personen. Alle andern Reisenden wechselten in einen Regionalzug. Schlussendlich kamen wir in Zürich beinahe zeitgleich an.

Für die Heimfahrt nach Zürich-Altstetten benützten wir Tram Nr 4. Ohne Velo, aber mit schwerem Gepäck. Schon fühlten wir uns daheim und vor allem auch entspannt. Da trat aber noch der VBZ-Kontrolleur auf und verlangte die Fahrkarten.

Ich seufzte, war doch noch auf Köln programmiert, sagte das dauere aber einen Moment, den er mir gern gewährte. Ich weiss nicht, ob er dachte, es stünde für ihn ein Fischfang von Schwarzfahrenden bevor. Primo wies als erster seine Karten vor und ich folgte dann nach. Da antwortete er sichtlich überrascht, aber freundlich: «Vorbildlich!»

Die Velostation Zürich Nord – neben dem Landesmuseum – wird als Integrationsprojekt von Migranten betreut. Hier konnte ich mein Velo zweimal in einem gesicherten Raum abstellen. Als ich es anfänglich anmelden wollte, wurde ich nicht gleich verstanden. Auf einmal sagte einer der Betreuer aus einem fernen Land: «Du willst Dein Rad parken?» Jawohl! So hätte ich sprechen müssen.

Als ich am Tag danach mit ihm erschien und es «parken» wollte, freuten sich die Männer, dass ich von ihnen etwas gelernt habe. Als ich es später auslöste, um nach Köln mitzunehmen, wurde ich mit erhobener Hand und ebensolchem Daumen verabschiedet. Ich verstand, dass man der Grossmutter viel Power wünschte.

Nach der Rückkehr verbrachte mein Rad nochmals eine Nacht in dieser Station. Als ich es abholte, dankte ich und sagte: «Nun bin ich froh!» Der Mann, der mich nun kannte, antwortete sofort: «Wir auch!»

Freitag, 25. September 2015

Formen in der Natur: In den Blumenkisten und in der Handschrift

Gestern habe ich unseren Balkon geputzt. Gründlich, wie nur möglich. Den Boden auf den Knien geschruppt. Die Steine auf dem Fenstersims gewaschen und wieder neu plaziert. Das Gestrüpp in den Blumenkisten sachte dezimiert. Und ihre Formen und Farben nochmals bestaunt. Besonders auch heute, als die Sonne mithalf, die schönen Bilder, die der Herbst verschenken kann, mit Fotos einzufangen.

In meinen Blumenkisten dürfen sich zugewanderte Samen entwickeln und uns überraschen. Die Pflanzen, die sich hier ansiedeln, sind willkommen, müssen sich aber mit Nachbarn arrangieren. Ob auch Revierkämpfe ausgetragen werden, weiss ich nicht.

Bevor die Herbststürme die Samenstände forttragen und die dürren Pflanzenstengel brechen, sprachen sie mich auf ihre Art nochmals an. Z.B. die blaue Blume, die sich ganz allein zeigte. Ihre Verwandten seien schon fortgegangen. Sie geniesse die Ruhe und den schönen Ort, wo sie zur Geltung komme. Aber auch der wattenähnliche Flausch, der hunderte von Samen in sich trägt und auf den Wind wartet, der den Transport in die Ferne übernimmt.

Alle Pflanzen bezaubern durch ihre Formen, die erst jetzt, als ihre Blätter abgefallen sind, sichtbar wurden.
Kalligraphie aus der Natur

Das eine Bild, das den Namen Kalligraphie trägt, lässt mich an Handschriften befreundeter Menschen denken. An ihren Schwung, aus dem Gefühl und Herzlichkeit sprechen. Solche Briefe oder auch nur Briefumschläge lasse ich gern auf dem Schreibtisch liegen. Sie bringen Leben in meine Bude, beflügeln mich. Ganz anders nun die neue Basisschrift, die für die Kinder in der Schweiz ab Schuljahr 2016/2017 neu vorgesehen ist. Entschuldigung: Aber so sehen doch Schriften auf Grabsteinen aus.

Die Handschrift, die Kinder in der Schweiz bis anhin erlernten, nannten wir "Schnüerlischrift". Einer Schnur vergleichbar.

Wir übten diese in einem sogenannten Schreibheft. Ihre Linien waren in 3 Zonen eingeteilt. Diese Zonen werden in der Graphologie mit Oberzone = Geist, Mittelzone = Seele, Unterzone = Leib betrachtet. Ebenso wurde eine leichte Schräge nach rechts vorgegeben.

Wir wurden angehalten, alle Bereiche gleichwertig einzubeziehen. Aber sofort, als die stützenden Linien in Heften anderer Fächer wegfielen, wurde nach und nach die Persönlichkeit der schreibenden Person offenbar. Die Grundlage war einmal für alle dieselbe. Doch die persönliche Eigenart und die Entwicklung wirkten mit.

Schauen wir Handschriften an, sticht sofort ins Auge, dass niemand diese Bereiche exakt gleich und ausgewogen gewichtet.

Für mich ist die Handschrift etwas Schönes und offenbart die Persönlichkeit der schreibenden Person. Sie drückt das aus, wer die Person wirklich ist.

Ich beobachte schon lange, dass Menschen, die jetzt 100 Jahre alt wären, viel schwungvoller geschrieben haben.

Ich vermute, dass die Kinder von heute, genau wie wir damals auch, einer Leitlinie folgen müssen und später dann, ohne es zu wissen, ihre Persönlichkeit in der Schrift darstellen.

Also lasse ich sogenannte Verlustängste fahren… Auch im neuen Zeitalter werden sich Herzlichkeit, Grosszügigkeit, aber auch Gegenteile von ihnen in der eigenen Schrift zeigen.

Montag, 14. September 2015

Was hat die Mooreiche mit dem Pfingstweidpark zu tun?

In der S-Bahn Richtung Zürich-Altstetten, allein im Abteil, schaute ich während der Zugsabfahrt nicht auf Menschen oder Plakate. Ich folgte keinem Gedanken, schaute nur auf die zahlreichen zürichblauen Deckenlampen mit ihrer Aufschrift ZÜRICH HB. Im diffusen Licht der Unterwelt leuchteten sie besonders heiter und als der Zug abfuhr, schienen sie zu tanzen. Und sogleich tauchte die Geschichte der Mooreiche aus meinen Erinnerungen auf. Und dann die Idee, sie auch fürs Blog-Archiv aufzuschreiben.

Das Ereignis liegt 30 Jahre zurück. Ich staune, dass sich diese Geschichte gemeldet hat.

Als im Zürcher Hauptbahnhof für die unterirdische S-Bahn gebaut wurde und man in 8 Meter Tiefe vorgedrungen war, fanden die Bauarbeiter bei den Aushubarbeiten einen ungefähr 6 m langen Baum. Er lag im Kies. Man freute sich nicht über diesen Fund. Er wurde als Störenfried empfunden. Sorglos wurden darum Scheiben abgeschnitten, bis der Stamm etwa 3 m lang war. Erst dann wurde es möglich, ihn aus dem Schotter herauszuziehen.

Eine solche Scheibe wurde in die Schreinerei meines Ehemannes Primo gebracht. Obwohl er die Geschichte dieses Baumes nicht kannte, sah er sofort seine Einmaligkeit und das Archaische an ihm. Die Mooreiche. Die dunkle Farbe und die zottige Rinde wiesen auf sie hin. Solche Bäume werden selten gefunden. Im Zürcher Furnierwerk, wo der Baum aufgeschnitten wurde, sagte ihm der Furnierschneider, in seiner 30-jährigen Tätigkeit habe er erst dreimal eine Mooreiche aus der Schweiz (Funde aus dem Rheintal) aufgeschnitten.

Diese Mooreiche, die den Namen Zürcher Mooreiche tragen darf, wurde untersucht. Das Geografische Institut der Universität Zürich-Irchel ermittelte mit der 14C-Methode ein Alter von 109 Jahren. Vermutlich wurde der Baum vom Blitz erschlagen. Als Schwemmgut im Fluss (in der Sihl, eventuell in der Limmat) im Untergrund des heutigen Hauptbahnhofes im Kies festgehalten und vom Wasser überschwemmt. Dort ruhte der Baum rund 3'000 Jahre.

Eine Geschichte, die uns bewegte und immer noch bewegt.

Nachdem der Baum zu Furnier geschnitten in die Werkstatt zurückgebracht worden war, entstand aus zwei zusammengefügten Furnierblättern das "Bärenfell". So nennt Primo sein erstes Zürcher Mooreichen-Kunstwerk.
Am 5. September 2015, nur einen Tag nach meiner S-Bahnfahrt mit den Erinnerungen an den Mooreichenfund, wurde der Pfingstweidpark eröffnet. Die Quartierzeitung berichtete von einem dynamischen Einweihungsakt. Ihn haben wir nicht erlebt. Wir besuchten den Ort erst gegen Abend. Die Bilder, die dazugehören, erzählen von heiterer Stimmung und Freude.
Das Wort RENAISSANCE am Hotel-Tower verstehe ich als Wiederaufleben dieses Ortes. Alte, ausgediente Industriegebäude sind verschwunden. Ebenso die Familiengärten, wie sie einst in vielen Städten an ihren Rändern anzutreffen waren. Ich hörte einen Mann sagen, der neue Park gefalle ihm gut, doch der Verlust seines eigenen Gemüsegartens, der wiege schwer.
Als Bagger in der Pfingstweid auffuhren
Ich bin in der Nähe, in einer Fabrik, aufgewachsen, habe erlebt, wie sich unser damaliges Umfeld verwandelte und wie sich der Abbruch des Alten zugunsten von etwas Neuem durchsetzte. Wenn ich heute in der S-Bahn aus Oerlikon durch den Wipkingertunnel zur Hardbrücke fahre, staune ich immer wieder. Das erhöhte Trasse der Bahn wird dann zum Aussichtspunkt über Zürich-West. Der Blick fängt einen weiten Raum auf. Unbekannt nüchtern und steinern zeigt sich die Architektur.

Wo bin ich gelandet, fragte ich mich, als ich Zürich-West mit Abstand betrachtete. Der Anblick befremdete. Ich sah eine sehr kühle, nur rationale Umgebung. Und jetzt neu das Gegenstück zu ihr. Der weit offene Pfingstweidpark ist seine Ergänzung. Er atmet, er lässt Pflanzen und Bäume wachsen. Eine Wohltat für alle Menschen aus diesem Quartier.

Wer den Park besuchen will, fährt mit der S-Bahn Richtung Altstetten ab Hauptbahnhof zur Station Hardbrücke. Fahrzeit nur 2 Minuten.

Wer mit der S-Bahn im Untergeschoss des Zürcher Hauptbahnhofs ein- oder ausfährt, der befindet sich im Untergrund, in dem die Mooreiche ihren 3'000-jährigen Schlaf geschlafen hat.

1985 wurde die Mooreiche gefunden. Heute erzählte ich ihre Geschichte. Darum gehört auch sie zum Thema RENAISSANCE.

Montag, 31. August 2015

Ein Kind lässt das Bild von liebenswerten Grossmüttern entstehen

Wald, ZH – Wohnort meiner Grossmütter
Ich sass auf einer Parkbank, als sich ein kleines Mädchen für mich interessierte. Vielleicht 6-jährig. Ihre Mama war mit dem jüngeren Bruder beschäftigt, der laufen lernte.

Das Mädchen schaute mich prüfend an und fragte: Bist du ein Grösy (eine Grossmutter)? Nein. Zu jener Zeit war ich es noch nicht. Ich antwortete ihr, ich sei Mama von 2 Mädchen. Was schaffsch Du? fragte es weiter. Ich zählte meine Arbeiten auf, die zur damaligen Mutter gehörten: Fürs Essen und Trinken sorgen, putzen und waschen, damit unser Zuhause und unsere Kleider sauber und schön seien. Dann weiter: Die Kinder begleiten, mit ihnen spielen und spazieren. Ihnen Geschichten erzählen, sie trösten, wenn sie traurig seien. Aber auch mit ihnen lachen. Und ihnen vieles lernen. Auch bei den Schulaufgaben helfen, wenn sie nicht mehr weiter wissen.

Und ich erzählte ihr, dass mein Mann ein Schreiner sei, und dass ich in seinem Büro arbeite.

Dann nannte sie ihren Namen: Laura. Sie erzählte, woher sie kämen. Aus dem Berner Oberland. Sie nannte den Ort und fragte, ob ich das Restaurant XY kenne. Dort wohne der Fritz und im Haus dahinter, da sei sie zu Hause.

Den Ortsnamen und jenen des Gasthauses habe ich vergessen, nicht aber das Kind, das mir Fragen stellte und mich durchdringend musterte. Auf einmal sagte Laura zusammenfassend: Du bist aber doch ein Grösy. War es mein Aussehen oder meine Antworten, die zu diesem Schluss führten?

Ein andermal war ich mit dem Velo in der Innenstadt unterwegs. Ich wartete bei einer Ampel auf Grün. Ein junger Mann sauste an mir vorbei, rief Grosy, hopp Schwyz! Vorausschauend konnte er durchstarten, weil er zum rechten Zeitpunkt, etwas später als ich, an der Kreuzung angekommen war. Ich hatte keine Freude an seinem hämischen Ruf. Er machte die Grosseltern-Generation lächerlich.

Jetzt, ungefähr 20 Jahre später, ist die Situation nochmals anders. Alle Velofahrenden stehen heute unter dem Motto Hopp Schwyz, nicht nur in der Schweiz. Weil das E-Bike das Tempo angibt. Weil man offensichtlich nur noch an gehetztem Fahren und ebensolchem Vorwärtskommen interessiert ist.

Das Thema Highspeed meldet sich überall. Jetzt gerade sprach mich dazu eine Aussage von Alfred de Quervain, Schweizer Naturforscher, an. Als erster Mensch durchquerte er 1912 Grönland von West nach Ost. In der soeben erschienenen Zeitschrift Schweizer Familie 35 vom 27. August 2015 wurde er porträtiert. Wir erfahren, dass er dem Bericht über die erwähnte Expedition später noch eine sogenannt kleine Wahrheit angefügt habe. Ich verstehe sie als Quintessenz seiner Erfahrungen. Er spricht von Einsichten, die ihn das Inlandeis, die Mitternachtssonne und die hundert Fältchen eines alten Inuits gelehrt hätten. 1914 schrieb er:

«Wenn die Eindrücke, die auf uns eindringen, zehnmal schneller daherstürmen, so wird dafür ihre Wirkung um das zehnmalzehnfache geringer. Und das Ergebnis ist dies, dass wir, je hastiger wir leben, um so ärmer werden.»

Also tun wir der Welt und unseren Mitmenschen Gutes, wenn wir Ruhe und Gelassenheit verströmen und auf Hopp-Schwyz-Rufe verzichten.

Zufällig passt zu diesen Gedanken ein origineller Text zum Thema Grossmutter. Er wurde in der Rubrik Humour einer Zeitschrift veröffentlicht. Eine befreundete Primarlehrerin sandte ihn mir zu. Sie konnte sich vorstellen, dass mich der französisch sprechende Schüler aus Genf (un petit Genevois) begeistere. Im Gespräch mit seiner Lehrerin entstand sein persönliches Grossmutter-Bild. Sie stellte Fragen. Seine Antworten sind hier aufgelistet. Ich habe sie sinngemäss ins Deutsche übersetzt.

Die Grossmutter ist eine Frau, die keine Kinder hat.
Darum liebt sie die andern Kinder.
Grossmütter haben nichts zu tun. Sie müssen nur da sein.

Wenn sie mit Euch spazieren, gehen sie langsam und achtsam.
Sie zertreten weder Laubblätter noch Schnecken.

Das Format der Grossmutter ist rundlich, beleibt,
aber doch so, dass sie die Schuhe schnüren kann.

Und sie weiss, dass man immer ein zweites, grosses
Stück Kuchen braucht.

Eine richtige Grossmutter schlägt die Kinder nicht.
Sie lacht, wenn sie wütend geworden ist.

Die Grossmütter tragen Brillen.
Manchmal können sie sogar ihre Zähne in die Hand nehmen.

Die Grossmütter sind die einzigen Erwachsenen,
die immer Zeit haben.

Und sie sind nicht so zerbrechlich, wie sie es uns weismachen,
auch wenn sie viel öfters sterben als wir.

Alle Menschen sollten versuchen, eine Grossmutter zu haben,
vor allem jene, die ohne Television leben.

Solche Einsicht bestärkt mich in meiner Rolle als Grossmutter. Sie darf bedächtig und soll friedfertig sein. Auch humorvoll, und die Kinderseele verstehen.

Hinweis auf die Neuerscheinung
Die Naturforschenden im Verlag HIER und JETZT, CH-Baden:
In diesem Buch wurde Alfred de Quervain porträtiert.

Mittwoch, 19. August 2015

Der vergangene Sommer begleitet mich mit seinem Restlicht


Das Wort Restlicht kannte ich bis anhin nicht. Es begegnete mir erstmals auf einer Einladungskarte zur Eröffnung einer Fotoausstellung im Grossmünster Zürich. Weit voraus wurde ich telefonisch aus Norwegen auf dieses ausserordentliche Ereignis aufmerksam gemacht. Die norwegische Freundin Brit kennt den Schweizer Fotografen Bernd Nicolaisen und seine Familie und war schon informiert. Sie sprach von Eis und Wasser. Diese Ausstellung müsst ihr sehen, sagte sie am Telefon. Das war ihr Anliegen und der Hinweis für uns ein Geschenk.

Die Krypta im Grossmünster gilt als Ort der Kraft. Einen würdigeren Ort für eine solche Bilderschau kann ich mir gar nicht vorstellen.

Es war dann die Farbe Blau, die den Raum für sich einnehmen durfte. Sie erinnerte uns sofort an den Himmel von Trondheim.

In der Grossmünster-Krypta beleuchteten die ähnlich blauen Eisbilder den Raum und verwandelten ihn in ein Juwel. Sie stammen aus Island. Das dortige Gletschereis sei kristallklar. Und es berge Feuer in sich, weil es feine Einschlüsse von Lava in sich trage. Das Eis von unseren Alpengletschern hingegen sei milchig, hörten wir.

Schon beim ersten Rundgang erkannte ich Lebensprozesse, die in den Fotos aufgefangen worden sind. Da sah ich Ausschnitte aufeinander geschichteter Eisschichten, wie sie nur Naturkräfte bewerkstelligen können. Dem einen Ort etwas weggenommen, dem andern aufgebürdet.

Sie zeigten mir Belastungen und Wandlungen im Leben.

Da war einmal nur Wasser. Kälte liess es erstarren. Wasser wurde zu Eis. Als sich Wärme ausbreitete, verwandelte sich Starres wieder in Flüssiges zurück. Solange bis die Kälte diesen Prozess erneut gefrieren liess. Ein ewig sich wandelnder Vorgang, von den Temperaturen abhängig.

Reststücke verlorener Schichten waren auf den Fotos ersichtlich. Und diese Reststücke gaben und geben den Gletschern ihre bizarren Formen. Sie werden von den Naturkräften belastet, gebrochen und teilweise aufgelöst Anschliessend werden unter neuen Bedingungen wieder neue Formationen gefroren. In diesen Umwandlungsprozessen können in den Eiswüsten dünnwandige Räume entstehen und diese fangen Restlicht auf. Nach diesen hat der passionierte Fotograf geforscht und ihre Bilder eingefangen.

Wer sie gesehen hat, muss an den weltweiten Gletscherschwund denken. An die Verantwortung, die uns allen aufgetragen ist. Gletscher sind Wasserspeicher. Nicht auszudenken, was mit uns geschieht, wenn sie eines Tages verdurstet sind.

Bei einem zweiten Besuch in dieser Ausstellung setzten wir uns auf ein niedriges Steinmäuerchen an der linken Seitenwand, um die Tiefe dieses Ortes zu erleben. Zu dieser Zeit waren wenig Ausstellungsbesuchende anwesend. Wir nahmen diese nur schemenhaft wahr. Das Licht gehörte den blauen Bildern. Ich bemerkte, dass wir gemustert wurden. Vielleicht sahen wir auf den ersten Blick wie steinerne Figuren aus.

Wir fühlten uns gut an diesem Ort, in der friedlichen Tiefe vieler Ereignisse, die zur Geschichte des Zürcher Grossmünsters und zu Zürich allgemein gehören. Ohne dass sich diese als Restlicht gemeldet hätten.

Zu diesem Zeitpunkt konzentrierten wir uns auf Tropfen, die ins Wasser fielen, und wir liessen den Eiswind auf uns wirken. Aus der Tiefes unseres Sitzplatzes entdeckte mein nach oben gerichteter Blick ein markantes Gesicht in einem Gletscherbild. Freundlich ausstrahlend. War es vielleicht die Seele jenes Ortes, die wir sehen durften? Vor ihm stehend sah die Foto dann anders aus.

Die beiden Ausstellungsbesuche ergänzten sich. Man kann diese aber nicht nur bereden. Die Bilder sprechen für sich. Das Buch Bernd Nicolaisen – RESTLICHT wird bei der Turm-Kasse im Grossmünster verkauft und erscheint im Herbst in den Buchhandlungen.
ISBN 978-3-7757-4061-6 (Deutsch, Englisch)
Auf dem Heimweg dann, nach dem 2. Besuch im Grossmünster, entdeckte Primo an der Heinrichstrasse beim Viadukt eine Kunstinstallation von URBAN JUNGLE. Eine Sommerattraktion von Zürich: «Aufsehen! The Summer Festival». Die amerikanische Malerin Kelsey Montague hatte dort überlebensgrosse Schmetterlingsflügel installiert. Um einen Abflug zu simulieren. Unser Fotoapparat war dabei. Es genügte, uns abwechselnd zwischen die beiden filigran gestalteten Flügel zu stellen und abzudrücken.

Auch wenn uns diese Flügel trotz Grösse und Schönheit nicht wegtragen konnten, der Halt an diesem Ort, der Kontakt mit dem Kunstwerk, sie vermittelten aber Spass.

Ob sich dieses kurze Ereignis leicht abschwemmen lässt oder ob es eines Tages vom Restlicht beleuchtet wird, das weiss noch niemand.

Sicher wissen wir aber, dass Bernd Nicolaisens bewegende Ausstellung, noch täglich von 10–18 h offen, aber bald beendet sein wird.
Am 21.08.2015 wird sie geschlossen.

Samstag, 8. August 2015

Viele kennen Mona Lisa, nicht aber ihren Schöpfer Leonardo Da Vinci

Der Maler und Bildhauer Leonardo Da Vinci erschuf ihre Schönheit.
Ausstellungen über sein Lebenswerk zeichnen ihn aber auch als Universalgenie aus.

Seitdem wir die Ausstellung in Milano und jetzt auch noch eine vergleichbare in Pratteln gesehen haben, ist Leonardo Da Vinci wieder einmal im Focus meines Ehemannes Primo. Prägend war vor 40 Jahren ein zufälliger Besuch im Museum in Vinci. Eine in Italien beheimatete Freundin von mir fuhr mit uns durch diesen Ort. Primo reagierte wie von einer Tarantel gestochen. Vinci? Leonardo Da Vinci?? Ja !

Sofort das Museum ansteuern, anhalten und den Wächter bitten, uns noch einzulassen. Es war kurz vor Mittag, Zeit für die italienische Siesta. Der Mann liess sich erweichen.

Noch heute sind wir ihm und Rina dankbar, dass der Blitzbesuch möglich war. Wir durften dort im grossen Ausstellungsraum mechanisch-technische Modelle aus Holz bewundern.

Die Erstlingseindrücke sitzen immer noch tief. Zusammen mit Lebensbeschreibungen von den damals berühmtesten Künstlern, die Giorgio Vasari (1511–1574) verfasste, weckten sie grosses Interesse. Vasari entdeckte in ihnen ein neuer Zeitgeist: Die Renaissance. Er beschrieb auch Leonardo da Vinci.

Aus diesen Darstellungen ging schon damals hervor, dass er ein genialer Tüftler sei. Von bedeutenden Auftraggebern mit aussergewöhnlichen Aufträgen betraut. Viele Bereiche umfassend, dem Schutz, aber auch dem Krieg dienend. Es erreichten ihn Aufträge von Kriegsführern für Geräte, Hebeinstrumente, kranartige Flaschenzüge, Zähnräder, Kettengetriebe und Kanonen. Aber auch für Spässe arbeitete er offenbar gern. Für Bankette in festlichem Rahmen soll er Dekorationen mit beweglichen Überraschungseffekten geschaffen haben.

In Pratteln haben wir ein Modell eines doppelwandigen Kriegsschiffes gesehen. Doppelwandig als Schutz, falls das Schiff unter Wasser kriegerisch beschädigt würde. Die Ausstellung beinhaltet eine grosse Zahl solcher Modelle. Präsentiert vom Museo di Leonardo da Vinci, Firenze, Italia.

In dieser Ausstellung berichtet ein Film anschaulich über Da Vincis Leichensezierungen mit der Erforschung des Blutkreislaufs, der Muskulatur und des Skeletts. Er entdeckte die inneren Organe, zeichnete sie virtuos und präzis. Es wird auch davon berichtet, dass Da Vinci lebenslang einen hölzernen Rucksack auf sich getragen habe. Ein Behälter mit den von ihm verfassten Codexblättern und unbeschriebenen Pergamenten.

Die Ausstellung ist 3-gliedrig: 1 Teil Modelle, 1 Teil Film mit Sitzplätzen, 1 Teil Malerei in guten, original grossen Reproduktionen.

Als feiner Spassfaktor empfanden wir die Installation, die das Brustbild von Mona Lisa trägt. Das Gesicht ist ausgeschnitten. Wer sich hinter dieses Gestell stellt und den eigenen Kopf im Loch platziert, kann sich fotografieren lassen. Sofern der persönliche Fotoapparat dabei ist. Für klein gewachsene Personen oder Kinder steht ein Tritt bereit. Es wurde an alles gedacht.

Zur Ausstellung gehört eine Bar und eine überdachte Terrasse, eingerichtet als Longue. Sehr angenehm.

Auch der Ausstellungsführer ist wertvoll. Klar formuliert. Nach Primo gut verständliche Erläuterungen. Er nannte diese Publikation als die für ihn die verständlichste in deutscher Sprache zu einer Ausstellung von Leonardo Da Vinci.


Die Ausstellung in Pratteln in der Galerie CB, Gallenweg 19, Pratteln
dauert noch bis 27.09.2015.

Später wird sie in Solothurn in der Rythalle, Baselstrasse 19 gezeigt.
Vom 10.11.2015–08.01.2016
www.davinciswiss.ch

Montag, 3. August 2015

Der vorgesehene Schlusspunkt war nur ein Etappenhalt

Es sind 363 Geschichten, die in mein Blog-Archiv überführt und zum Teil mit Fotos ergänzt worden sind. Alle erschienen einmal im Textatelier Hess von Biberstein, und sind dort auch heute noch abrufbar. Sie ruhten zudem in meinem Computer und auch in einem Ordner auf Papier. Bescheiden und still.

Seit Ende Juli befinden sie sich als Ausstellungsgut in lichtvollen Computer-Räumen. Nach Jahrgängen und Monaten geordnet. Zusätzlich auch über Themenbereiche, die unter dem Titel Labels erreichbar sind. Die meisten Geschichten sind in verschienen Rubriken zu finden, weil meine Gedanken immer aus dem Zusammenfluss verschiedener Quellen entstanden sind.

Diese Ausstellungsräume besuche ich jetzt spontan. Ich lese diesen und jenen Text. Es sind meine "Kinder". Ich schaue sie an, wie man ein Neugeborenes staunend betrachtet. Warum schreibe ich? So dachte ich auch wieder einmal. Und nahm dann das Heyne-Tierkreis-Taschenbuch für die astrologischen Zwillinge zur Hand.

Und wieder einmal staune ich, wie die Beschreibungen dieses Tierkreisabschnittes auf mich passen. Jedes Detail zur Symbolik der astrologischen Zwillinge trifft auf mich zu. André Barbault*, einer der ganz grossen Astrologen, geboren 1921, erklärt das luftige Element, nennt die prägenden Atmungsorgane. Ein Austausch finde statt: durch die Ein- und Ausatmung, die Sprache, die Hände, die Nerven, das Gehirn. Das Zeichen verkörpere alle Empfindungen des vielseitigen Menschen in all seinen Kontakten mit der Umwelt, dem unmittelbaren Austausch mit seiner Umgebung.

Mit dieser Veranlagung konnte ich meine Geschichten schreiben.

Mit dem Abschiedsblog vom 18.07.2015 wollte ich die Blog-Ära beenden. Als ein abgeschlossenes Werk. Da kam ich aber nicht gut an. Man erwartet von mir, dass ich weiter schreibe. Meine Töchter und auch einer der Brüder sprachen mich immer wieder in diese Richtung an. Und auch aussenstehende Leserinnen oder Leser äusserten sich zustimmend. Ein Freund unserer Familie schrieb "Dein Blog ist eine riesige Zauberkiste". Ursula Hirsch, bildende Künstlerin, schrieb, nachdem sie Beiträge zur Expo Milano gelesen hatte:

Ich mag deinen Stil, leicht staccato, viel Info und wenig schmückendes Beiwerk, nicht immer gleich wertend oder sonstwie mit all zu persönlicher Note, einfach gut. Jupp, ich war also in Milano.

Sie sinnierte zudem noch über unsere 2. Lebenshälfte und den dazugehörigen neuen Konzepten, solche, die uns noch besser unterstützen als die bisherigen und solche, die einfach nur uns gehören.

Und einer Bekannten, die mir unlängst am Telefon viel Leid und Mühsal beschrieb, schickte ich den Link zu meinen Texten und lud sie zum Lesen ein. Nach 3 Tagen rief sie mich an. Sie könne nicht mehr aufhören. Die Geschichten seien sooo spannend und würden ihr helfen, die Zuversicht nicht zu verlieren.

Und dann staunte ich auch über mich selbst. Als ich das Werk als vollendet ansah und zurücklehnen wollte, spürte ich ständig schriftdeutsche Sätze in mir aufsteigen. Solcherart, wie sie mir jeweils zugekommen sind, wenn ich nach einem Thema ausschaute und dann plötzlich wusste: Das ist es. Damit könne ich etwas anfangen. Darauf hatten meine Töchter nur gewartet. Also: Ich bin wieder da! Nicht jeder Tag wird eine neue Geschichte aufrollen. Aber nach und nach werden sich neue im Archiv einfinden. Alle gespeicherten Texte sind jederzeit abrufbar. Lesestoff für manche Stunde.

Fantasie wird gewiss auch Popi beisteuern. Der gestrickte Kerl ist bereits 45-jährig und in unserer Familie eine Autorität. Um ihn ranken sich allerlei Geschichten. Auf seine Art ist er eine moralische Figur und doch auch ein lustiger Kerl.

*Das Heyne-Tierkreis-Taschenbuch (erschienen 1961) besitze ich seit Jahrzehnten. Sein Inhalt gab mir in den 70-er-Jahren den Schub, mich mit der Astrologie anzufreunden. Dank ihr habe ich verstehen gelernt, wie verschieden wir Menschen sind. Und weiter habe ich die Anlagen und Talente in meinem Mann und den Töchtern verstehen und mehr schätzen gelernt.

Dienstag, 21. Juli 2015

Herzlich willkommen in Ritas Blog-Archiv


Es hütet meine Beiträge, die ich während 10 Jahren für das Textatelier Hess von Biberstein geschrieben habe. Es darf und soll besucht werden. Die Geschichten entstammen meinem persönlichen und unserem Familienleben. Angeregt von der Tochter Letizia, entstand diese Sammlung.

Das Tor ist nun allen Interessierten zugänglich.

Ich freue mich auf Besuche, auf Echos. Und hoffe, dass sich unsere Gedanken da und dort treffen.

Rita Lorenzetti-Hess, Zürich

Samstag, 18. Juli 2015

Rita Lorenzetti: "Jetzt sage ich adieu!"

Ich grüsse die Leserinnen und Leser dieses Blogateliers

Und sage es gleich zu Beginn: Es ist ein Abschiedsgruss. Einer der nicht leichtfertig ausgesprochen wird. Ich verlasse das Textatelier Hess von Biberstein.

Ich spüre mein Alter und dazugehörige Beschwerden. Ich spüre und erlebe, wie sich die Welt verändert und damit beschäftigt ist, einer neuen Epoche das Gepräge zu geben. Ich bin ein Auslaufmodell geworden und für neue Gesellschaftsordnungen gewiss nicht zuständig.

Schon seit Wochen dachte ich darüber nach, aus der Textatelier-Gemeinschaft auszusteigen. Den Schlusspunkt nach 10 Jahre Mitarbeit setzte nun der Tod von Walter Hess.

Gerne denke ich an die gute Zusammenarbeit mit ihm. Er schenkte uns viel freien Raum für unsere Gedanken und Texte. Er schätzte unsere Verschiedenheit und lobte dementsprechende Beiträge. Er zeigte seine Begeisterung. Manchmal wies er auf Themen hin, die im Blogatelier noch nicht behandelt wurden. Meist aber schrieben wir, was uns gerade umtrieb.

Die Arbeit ist das Eine. Die Leserschaft das Andere. Ihr danke ich gern. Das Echo auf unsere Beiträge, ablesbar an den Zahlen der Textatelierbesuche, sprachen immer eine deutliche Sprache. Unsere Arbeit wurde offensichtlich geschätzt. Sie interessierte. Man konnte sie gebrauchen.

Jetzt sage ich adieu!
Danke für die Wertschätzung unserer Arbeit.
Ihnen allen: Ein gutes Leben. Alles Gute.

Damit die Beiträge für die Enkelinnen nicht verloren gehen, hat meine Tochter Letizia ein Archiv für meine Blogs aus dem Textatelier Hess von Biberstein erstellt.

Der Schlüssel zu ihm lautet ritas-blog-archiv.blogspot.ch
Es darf besucht werden.

Sonntag, 12. Juli 2015

Die alte Dame, der Schauspieler und Erinnerung an sie

Die folgende Erzählung hörte ich im Jahr 1987 im Schweizer Radio. Wolfgang Stendar, der bekannte deutsche Schauspieler, erzählte sie.

Eine persönlich erlebte Geschichte mit einer alten Dame, die er nach einer Vorstellung zum Bahnhof begleitete.

Sie geht mir immer noch nach. Besonders wenn ich irgendwann und ohne einen Zusammenhang mit mir das Wort Kassel höre.

Die Dame erkannte den Schauspieler nicht, als er sich anerbot, sie im Auto zum Bahnhof zu führen. Sie sollte einen bestimmten Zug noch erreichen können. Sie war etwa 70 Jahre alt und ging am Stock. Als sie ihn fragte, ob er auch im Theater gewesen sei, gab er sich als "der König" zu erkennen.

Sie freute sich über diesen besonderen Tag, an dem ihr eine Freilichtaufführung geschenkt, und an dem sie von einem König zur Bahn gefahren wurde.

Sie war Wittwe und hatte im Krieg ihre Söhne verloren. Ein gelegentlicher Theaterbesuch schenkte ihr grosse Freude. Sie lebte in einem Altersheim.

Gerne hätte sie dem Schauspieler etwas geschenkt. Kurz bevor der Zug einfuhr, öffnete sie die Tasche, um die Fahrkarte herauszunehmen. Da sah sie das belegte Brot, das ihr die Wirtschafterin im Heim liebevoll vorbereitet hatte. Sie schenkte es ihm.

Er erzählte diese Episode warmherzig und spannend. Gebannt sass ich vor dem Radio, als eine meiner Töchter die Stube betrat. Und auch sie wurde von den Worten und der darin enthaltenen Menschlichkeit sofort ergriffen und blieb unter der Tür stehen.

Da hörten wir zusammen noch den letzten Satz: "Sie winkte aus dem Zug, der um Mitternacht wegfuhr. Nach Kassel."

Mittwoch, 1. Juli 2015

Güterhof Schaffhausen, der Rheinfall und das grosse Los

Als wir in Schaffhausen unterwegs waren, kamen wir an einem Kiosk vorbei. Primo sagte unerwartet: Hier wäre ein Lotterie-Los für mich passend. Es war mein Geburtstag. Letizia griff die Idee auf, wandte sich an die Kioskfrau. Diese riet zu einem Swisslos. Sie fragte nach dem Sternzeichen und gab mir eines aus der Rubrik Zwillinge. Es kostete 10 Franken. Letizia spendierte es. Ich öffnete es und sah, dass ich gewonnen hatte. Wie viel? 10 Franken. Und dazu ein fröhlicher Moment. Wirklich lustig. Wir konnten herzhaft lachen.
Schaffhausen am Rhein ist die nördlichste Stadt der Schweiz. Ein Ort mit gepflegter und verkehrsfreier Altstadt. Für uns immer wieder einen Besuch wert. Besonders auch wegen der Geschichte jener jungen Forelle, die ich im Blog vom 25.03.2007 erzählt habe.

Diesmal wollten wir den Güterhof im Hafenviertel kennenlernen. Ein Gastronomiebetrieb, der in einer ehemaligen Lagerhalle eingerichtet worden ist. Im Hafenviertel, wo einst Salz, Getreide und Rohstoffe für den Transport auf dem Rhein gelagert wurden. 2008 wurde dieser umgenutzte Raum eröffnet.

Die Halle ist Halle geblieben. Ihr Raum eine Wucht. Die Zimmermannsarbeit grandios. Eine Wohltat, da drinnen zu sitzen. Wir bewunderten die Holzkonstruktion und auch die offene Showküche. Es wird von regionalem und internationalem Flair gesprochen. Diesem Raum wurden die alten Proportionen respektvoll erhalten.

Und die Küche begeisterte uns ebenso. Wir wählten individuelle Speisen, waren von allem angetan. Letizia fotografierte die Teller und entwickelte später mit den Fotos ein Ratespiel für die Enkelinnen im Ausland. Diese mussten erraten, wer was bestellt hatte. Es hat Spass gemacht. Für sie und auch für uns. Bereits ist die Anfrage hier eingetroffen, ob wir bald wieder so ein spannendes Rätselspiel senden könnten.

Wir besuchten dann auch wieder einmal den Rheinfall, fuhren mit dem Bus ab SBB-Bahnhof Richtung Neuhausen. Der Chauffeur wies uns dann den Weg. Obwohl derzeit eine Baustelle die Übersicht auf dem Anmarschweg etwas behindert, konnten wir mit seinen Angaben unser Ziel sofort finden.

Es war viel Regen gefallen. Der Fluss reich an Wasser. Das Naturschauspiel dementsprechend grossartig.

Die Postkarte von diesem Ort vermittelt Zahlen, die aufschlussreich sind:
Rheinfall (Schweiz)
Totale Breite des Falles 150 m
Totale Höhe des Falles 23 m
Alter des Falles 14 000 bis 17 000 Jahre
Maximalste Abflussmenge 1250 m3/Sek.
Mittlere Sommerabflussmenge 600 m3/Sek.
Mittlere Winterabflussmenge 250 m3/Sek.

Wir verweilten lange, schauten dem Fluss zu, wie er gemächlich ankam und dann in die Tiefe stürzte. Das von Felsen gestaltete Flussbecken brachte vielerlei Strömungen hervor. Ich sah auch Kreisel und aufsteigende Gischt.

Ich komme nochmals auf die Forelle im Rhein zurück. Auf ihre Metapher. Auf den Lebenslauf, der unseren Leben sehr ähnlich ist. Es gibt ruhige Zeiten, ruhiges Dahinfliessen, heitere und auch glückliche Tage. Und auf einmal plötzlich Abstürze. Unvorbereitet werden wir vom Leben, von der Zeit, auch von Sorglosigkeit plötzlich in die Pflicht genommen, ins Dunkle des Abgrundes gerissen. Um kurze Zeit später wieder aufzusteigen. Die Erfahrung aber, die bleibt in uns lebendig. Wir nennen sie Lebenserfahrung.

Freitag, 19. Juni 2015

EXPO 2015: Für die Lebensfreude wurde auch gesorgt

Im Umfeld des Baum des Lebens (Lake Arena) traten öfters italienische Folkloregruppen auf. Musikanten in Trachten ihrer Region. Mit Fahnen, Trommeln, Schalmeien, Säbeln und Schwertern führten sie traditionelle Tänze auf. Jedes Mal aus einer anderen Gegend Italiens. Zudem sind dort neuartige Schaukelstühle in der Form von Zwirbeln platziert. Hier wird viel gelacht. Und der prächtige Springbrunnen steigert jede Begeisterung.

Auch die Hauptstrasse wurde oft als Bühne erlebt. Clowns und Jongleure traten auf. Einmal schauten wir 2 Männern zu, die sogar mit ausgewalltem Pizzateig jonglierten.

Im Umzug marschierten Menschen als Äpfel, Birnen, Tomaten und Randenknollen verkleidet einher. Farbenprächtig, fröhlich, lustig. Italienisches Disneyland.
Viel Applaus erntete New-Orelans-Jazz. 9 Männer sassen in einem Gefährt, das Velo ähnlich wie ein Verkaufskiosk fortbewegt wurde. 3 Männer hintereinander, 3 Männer nebeneinander sitzend, traten in die Pedalen und spielten gleichzeitig Musik.

Zu den Lebensfreuden zähle ich auch die Fotografie von flatternden, farbigen Bändern im vornehmen Zelt des Iran. Aus ihnen muss die Gestaltung des Wortes IRAN für diese Ausstellung entwickelt worden sein.

Lebensfreude kann auch im Erfolg jener Länder entdeckt werden, die um Wasser ringen müssen. Z.B. Oman. Ihre Darstellungen sind eindrücklich.

Und dank 3D-Filmen kamen uns Menschen aus der Pionierzeit von Israel nahe.

Marokko führte im Film die Herstellung von handgepresstem Arganöl vor. In ihrem Pavillon werden besonders die Sinne angesprochen und feinste Gewürze angeboten. In diesem Marokko fühlte ich viel Harmonie.

Ausserhalb der EXPO waren besondere Orte in der Stadt Milano für uns interessant. In einem Reiseführer las ich über die Galerie Vittorio Emanuele, sie sei die gute Stube der Italiener. Der Ort zum rituellen Abend- oder Sonntagsbummel. Wir schlenderten gegen Mittag durch diese feudale Einkaufsgalerie. Gebaut und überdacht wie ein Königspalast. Sie ist belebt. Sie beflügelt einen. Ich staunte, dass sie nicht nur den Reichen und Prominenten zugänglich ist. Hier sind die weltweit bekannten Labels anzutreffen. An den Schaufenstern ihrer Geschäfte strahlen ihre Namen golden auf schwarzem Grund. Promenieren durften auch wir über den mit Mosaiken geschmückten Boden.

Am Ausgang der Galerie Richtung Scala wurde Primo auf die Ausstellung IL MONDO DI LEONARDO aufmerksam (Die Welt des Leonardo da Vinci). Sie zog ihn buchstäblich ins Museum hinein und wir folgten ihm. Dank Audioguides in deutscher Sprache kamen wir den Ideen und Erfindungen des damaligen Universalgenies nahe. Diese Ausstellung dauert bis 31. Oktober 2015.

Primo bezeichnete die Metro ebenfalls als Stube Italiens. Die ¾ Stunden dauernden Fahrten zum EXPO-Gelände boten uns ein Bild von den hier lebenden Menschen. Auch von Touristen. Wir beobachteten die Menschenströme, ihr Kommen und Gehen, ihre Gesten und eine allgemein fühlbare wohltemperierte Wesensart. Woher? Wohin? Wir hörten auf die Sprachen, vereinzelt auch auf Schweizerdeutsche Worte. Sah man eine Zeit lang ein Gegenüber, verschwand es, wenn viele Personen zustiegen und nur einen Stehplatz vorfanden. In den Metrozügen von Milano sind einzig seitlich Sitzplätze eingerichtet. Sah man eine Zeit lang ein Gegenüber, verschwand es, wenn viele Personen zustiegen und nur Stehplätze vorfanden. Einmal sassen Primo, Letizia und ich auseinander verstreut. Als viele Reisende an einem Knotenpunkt ausstiegen, zwinkerten wir einander zu. Da wurde ich auf einen Mann aufmerksam, der auf uns aufmerksam wurde. Er bemerkte plötzlich, dass wir zusammen gehörten. Ich sah seine Augen von einem zum andern schweifen. Wie wenn er ein gleichschenkliges Dreieck gezeichnet hätte.

Im dichtesten Gedränge auf einer langen Strecke, etwa 20 Minuten lang, sprach ein junger Mann in ein Mikrofon, übte vielleicht eine Rede. Es tönte nach Klartext. Die scheppernde Metro bot ihm Schutz, liess die Sätze zittern. Niemand störte sich an ihnen. Das Fensterglas spiegelte den Auftritt des Mannes. Auch er wurde geübt. Er schien sich zu gefallen.

Das Gebiet NAVIGLIO GRANDE haben wir auch besucht. Hier fliesst Wasser durch einen 50 Km langen Kanal. Einst diente er als Wasserstrasse. Er verbindet Milano mit dem Fluss Ticino, der über den Po Warentransporte zur Adria ermöglichte. Zufällig trafen wir auf einen vielfältigen Gemischtwaren-Markt. Vom alten Werkzeug über Textilien, Hüte, Bücher, geschliffene Glaskugeln, Schmuck usw. Altes und Neues nebeneinander. Ein Händler hätte uns einige wenige 5-Liber (Fünffrankenstücke aus der Schweiz) verkauft, wenn wir den überhöhten Preis bezahlt hätten. Dieser Marktfahrer, ein alter Mann, hat die Münzen vielleicht zu einer Zeit gekauft, als der Schweizerfranken, anders als damals die Lira, einen sicheren Wert darstellte.

Dieses Gebiet NAVIGLIO GRANDE strömt viel kleinstädtisches Flair aus.

Dann trafen wir in seinem Umfeld auch noch auf den MERCATO METROPOLITANO. Eine alte Umschlaghalle für den einstigen Engros-Handel wurde in einen Lebensmittelmarkt umgewandelt. Mit fix eingerichteten Kojen. Grössere und kleinerei, alle in demselben Stil. Ein schöner Ort. Für verschiedenste Produkte einheitlich gestaltet. Einheitlich auch die handschriftliche Beschriftung. Sie sprach unsere gemeinsame Wellenlänge an.
Wahrscheinlich war das der sinnenfreudigste Ort, mit dem wir auf unserer Reise bekannt wurden. Hier trafen wir auf reelle Produkte: Brote, Fleisch, Gemüse, Teigwaren, Getränke usw. Lebendige Nahrung. Auch Verpackungen signalisierten Natürlichkeit. Alle hier tätigen Menschen waren engagiert, strahlten Begeisterung aus.
An diesem Ort, auch im Freien, konnte man auch essen. Vor dem Eingang boten junge Männer 4 Sorten Smoothies an. Pürierte Salate kombiniert mit Apfel, Beeren und Knollenfrüchten aus biologischem Anbau. Moderne Ernährung, zum Trinken.

Erstmals beobachteten wir in dieser Mercatohalle, wie ein Gast sein Glas Wein zum Mittagessen aus einem Getränkeautomaten beziehen konnte. Der Code auf dem Kassabon öffnete das Hähnchen, das den Wein seiner Wahl ins Glas fliessen liess.

IMG_7709_starhotel_echo_milano_breakfastroom Plötzlich schien mir, dass Gedanken, die der Expo 2015 zugrunde liegen, bereits keimen.
Das von Letizia ausgesuchte STARHOTEL E.C.HO im Umfeld des Hauptbahnhofes, entspricht ebenfalls einem Anliegen der EXPO-Philosophie. Hier seien beim Umbau des Hauses auf tiefen Energieverbrauch und Verwendung von bioökologischem Material geachtet worden.

Der Frühstücksraum in diesem Haus signalisiert Grün, empfängt die Gäste in einem Garten. Eine einzigartige Fototapete lässt uns im Glauben, draussen zu sitzen. Die damit erzeugte heitere Atmosphäre war nicht zu übersehen.

In Milano wacht die Marienfigur MADONNINA auf der höchsten Domspitze über die Stadt. Sie gilt als Wahrzeichen von Milano. Es heisst, dass sie bei gutem Wetter von Bergamo und auch von den nördlichen Voralpen am Comersee aus zu sehen sei.

Ganz nahe zu sehen ist diese goldene Marienfigur als Kopie auch auf dem EXPO-Gelände.

Weit ausstrahlen dürfte ebenfalls ganz allgemein die EXPO 2015. Mit ihrem grossem Engagement, mit vielen Errungenschaften, auch mit ihren Möglichkeiten, einander besser kennen zu lernen. Die anfänglich negativen Schlagzeilen müssen zur einseitigen Berichterstattung gehört haben.

In meinem 3-teiligen Bericht wurde nicht jede Einzelheit, die mich angsprochen hat, aufgeführt. Ich kann nur ermuntern, hinzugehen, zu schauen, zuzhören und eigene Schlüsse ziehen. Und wie gesagt: Englische oder Italienische Sprache erleichtert alles.

Anfänglich sah ich das Geschaute nur um mich schweben, an mir vorbeiziehen. Jedes neue Bild deckte ein vorgängiges ab. In der Zwischenzeit haben sich die Themen zu einem Erinnerungsschatz verfestigt.