Montag, 15. Dezember 2014

Ausschau gehalten nach einer Weihnachtsgeschichte

Eine Freundin fragte mich dieser Tage, ob ich schon eine Weihnachtsgeschichte geschrieben habe. Es wäre an der Zeit. Sind solche überhaupt noch gefragt?
Weihnachtsgeschichten, die für mich Weihnachtsgeschichten geblieben sind, verstehen wahrscheinlich nur noch Menschen, die über 60 Jahre alt sind. Armut und vom Schicksal erzwungene Bescheidenheit waren uns allen wohlbekannt. Aber Wunden in einer Stadt wie Paris, die lernte ich erst 1958 kennen. Dort, wo ich wohnte (6. Arrondissement), war ich Nachbarin eines Trümmerhaufens. Eine für Paris typisch grosse Wohnsiedlung lag am Boden. Es dauerte Jahre, bis alle Steine weggeräumt wurden.

In den Metro-Gängen begegnete ich vielen Kriegsinvaliden. Männern mit amputierten Beinen, Armen oder verlorenen Augen. Erschütternd. Zu dritt beschlossen wir, im Dezember 1958 Clochards unter einer bestimmten Seine-Brücke zu besuchen und ihnen Weihnachtsgebäck zu bringen. Meine beiden Freundinnen, ebenfalls aus der Schweiz stammend, waren Dienstboten in einer Arztfamilie. Maria hatte 8 Kinder zu betreuen, Pia war für die Küche zuständig. Die beiden: gute Seelen, die einander immer unterstützten und erst ruhten, wenn alle Arbeit getan war. Und mir half Pia noch, das anfängliche Heimweh zu überwinden.

Die Weihnachtsgebäcke für die Clochards kauften wir bei einem Bäcker. Wir hätten keine Zeit oder Möglichkeit gehabt, diese selber herzustellen.

Die rauen, wetterfesten Männer trafen wir unter einer Seine-Brücke an; sie sassen um ein Feuer. Wir sangen ihnen ein Weihnachtslied. Sie waren sehr überrascht. Sie hörten zu, nahmen die Gebäcke auch gerne an. Aber gleich danach schickten sie uns fort. Geht weg, damit Euch nichts passiert. Ihr seid zu schade für diesen Ort.

Viele unserer Geschichten, die wir als Jugendliche lasen, beschäftigten sich mit Armut und Auswegslosigkeit. Und wundersamer Hilfe, weil es Mitmenschen verstanden, nicht nur an sich selbst zu denken. Solche Geschichten halfen uns, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit zu entwickeln. So entstand auch der erwähnte Besuch bei den Clochards.

Heute helfen die entstandenen Hilfswerke, Not zu lindern. Die vielen Bettelbriefe, die seit Ende Oktober bei uns eingetroffen sind, sprechen davon. Mich stört nur, dass einige Organisationen ihren Aufrufen noch kleine Geschenke beigeben, damit wir uns verpflichtet fühlen, ihnen Geld zu senden. Nach meinem Verständnis wird so Geld verschwendet.

Im gleichen Zeitraum haben uns auch masslos viele Reklamen für Spielzeug, Luxusartikel und kulinarische Köstlichkeiten erreicht. Der Abtransport solcher Druckerzeugnisse wird für mich mehr und mehr zum Problem. Diese Lasten! Bald muss es eine Organisation von jungen Leuten geben, die für die alten das Papier an die Strasse schleppen. Nicht alle Leute wohnen am Trottoirrand. Nicht alle wohnen in einem Haus mit Lift.

Und die Spielzeuganbieter bewiesen, dass Weihnachten eben ein Geschäft ist. Sie lieferten Prospekte mit Bestell-Listen. Die Kinder brauchten nur den entsprechenden Kleber an die richtige Stelle zu setzen, damit Eltern und Grosseltern die gewünschten Dinge problemlos bestellen oder einkaufen können. Es mag sein, dass allen gedient ist. Die Kinder wissen genau was sie wollen. Da wird der Umtausch nach dem Fest abnehmen. Aber ist das Weihnachten?

Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich als Kind im Vorschulalter oder in der Primarschule Wünsche formuliert hätte. Auch bei uns gab es Geschenke, aber nicht auf Bestellung. Die Mutter nähte und strickte sowohl für die Puppe wie auch für einen selbst. Es gab immer ein Geschenk. Dieses war aber nicht angefordert. Damals wohnten wir noch auf dem Land. Die Verführung durch Reklame war minim. Es gab auch noch keine spezielle Mode für Kinder, die wir hätten beanspruchen wollen. Wir freuten uns auf den Christbaum, die Lichter, die Lieder und später auch noch auf die Feier in der Kirche, wenn das elektrische Licht gelöscht wurde und nur noch die Kerzen brannten und wir Stille Nacht, Heilige Nacht sangen. Das war Weihnachten.

Am 25. Dezember tischte Mutter meist ihren vorbereiteten Hackbraten mit den versteckten Eiern auf und zum Dessert gab es Schlagrahm mit zerbröselten Meringueschalen.

Und jetzt erzähle ich noch eine richtige Weihnachtsgeschichte
Genau gesagt ist es eine Nacherzählung:

Eingeladen von einem befreundeten Unternehmer, der seinen Angestellten zusätzlich zum Lohn immer auch Kulturerlebnisse vermitteln wollte, erlebte ich 1993 das Lateinamerikanische Weihnachtskonzert mit Los Ramos. (Oscar Ramos und Monica Pososanto).

Sie spielten lateinamerikanische Weihnachtsmusik in seiner Montagehalle und sangen Lieder. Ramos hatte die Harfe aus Südamerika mitgebracht und auf ihre Geschichte verwiesen. Sie sei nach Europa heimgekommen.*

Ich erlebte dieses Konzert als ein bewegendes, heiteres Fest. Die Musik: einen mittragend in Welten der Lebensfreude. Einleitend sagte Ramos ganz selbstverständlich, dieses Konzert gelte den beiden Menschen, die am meisten für die Menschheit getan hätten: Maria und Josef.

Und dann erzählte er die Geschichte von Grossmutters Jesus-Figur:

Im Haushalt der Familie lebte auch ein Affe. Grossmutter musste ihn einmal mit einem Stock züchtigen, weil er unartig war. Das hat er ihr nicht verziehen.

Eines Tages konnte er sich von seiner Kette losreissen und die Grossmutter angreifen. Sie war allein zu Hause. Alle Tanten waren fortgegangen. Trotzdem gelang es ihr, den Affen in ein Zimmer einzusperren. Dort verwüstete er aber alles. Er tobte, schleuderte jeden Gegenstand von seinem Platz. Auch die geliebte Jesus-Figur wurde geschlagen. Und diese war doch Grossmutters Ort ihres Glaubens. Er liess auch sie zu Boden fallen. Sie verlor in diesem Vandalenakt einen Arm. Zur Freude der Grossmutter nur einen Arm. Dieser konnte problemlos wieder befestigt werden. Alle andern Gegenstände gingen kaputt.

Ramos sagte weiter, jetzt sei diese Figur berühmt, weil sie nach Europa reisen durfte. Bald werde sie aber zur Grossmutter zurückkehren.

Nach dem Konzert habe ich die Figur angeschaut. Sie war auf ein Podest gestellt und mit Christrosen geschmückt worden. Eine mit feinen Zügen bearbeitete Figur. Ramos erzählte, dass es eine besondere Figur sei, die immer stehend aufgestellt werde. Auch in der Krippe liege sie nicht.

Diese Geschichte, am Anfang des Konzertes erzählt, öffnete uns vermutlich ganz besonders für die damals noch eher unbekannten Klänge der südamerikanischen Kultur. Ramos wies denn auch daraufhin, dass wir Menschen Vorstellungen und Phantasie bräuchten. Ohne sie wäre Musik nicht denkbar. Ebenso verhalte es sich mit dem religiösen Glauben.

Und jetzt, nach 21 Jahren, wo befindet sich die Jesus-Figur? Und die Grossmutter, ist sie verstorben? Hat man ihr die Figur stehend ins Grab mitgegeben, oder verehrt ihre Familie diese mit Erinnerungen an sie?

Hinweis
* Im Blogatelier ist ein ausführlicher und eindrücklicher Bericht von Margrit Haller-Bernhard erschienen, in dem sie die Musik der Guarani als "Musik aus dem ehemaligen Paradies" beschreibt.

Dienstag, 2. Dezember 2014

November-Tagebuch. Von der Busfahrt bis zur Pilgerfahrt

Mein Anfahrtsweg in die Zürcher Innenstadt beginnt öfters mit einem Fussmarsch hinunter zum Farbhof (Busstation und Tram-Endstation.)
 
An diesem Tag, von dem ich erzählen will, war alles anders. Es stand kein wartendes Tram an der Station, das den Blick auf die Mitte der Schleife hätte abdecken können. Die Sicht auf den mächtigen Tulpenbaum war frei. Hei! dachte ich, wie schön du bist, auch mit Deinem durchlässig gewordenen Kleid. Und am Boden, dir zu Füssen, das rostrote Blättermeer. Der Anblick: bühnenreif. In Gedanken dankte ich der „Grün Stadt Zürich", dass diese Farbenpracht nicht in einem Übereifer gleich weggeblasen worden ist. 
Der Fotoapparat lag in der Tasche. Ich konnte das schöne Bild, das ich da sah, gleich einfangen. Aber erst zu Hause entdeckte ich, dass mich aus dem Stamm ein weibliches Gesicht anblickte. Aus einer quer verlaufenen Verletzung entstand in der Rinde der Mund, aus abgeschnittenen Ästen die Augen. Über ihnen, ebenfalls von überwuchernder Rinde entstanden, könnte eine Schutzbrille gesehen werden.
 
Wer je eine Ausstellung der Künstlerin Margaretha Dubach gesehen hat, wird verstehen, wer mich die Magie in den Dingen erkennen lehrte.
 
Später, als mich der Bus ins Stadtinnere und über die Bahnhofbrücke führte, wunderte ich mich, dass die Beleuchtung der Weihnachtsdekoration am Limmatquai eingeschaltet war. 2 Stunden nach Sonnenaufgang? Vielleicht zur Probe.
Mit dieser künstlichen Baumallee sind wir vertraut. Sie erfreut uns seit Jahren. Sie pflegt die Tradition. Sie kann Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste wecken und das Weihnachtsgefühl aufkommen lassen. Erst seit gestern nehme ich an, dass sie viel robuster gebaut worden ist als ihr Vorgänger.
 
Aus einem Zeitungsausschnitt vom Dezember 1977 habe ich nämlich erfahren, dass die damaligen 42 Metallchristbäume grosse finanzielle Sorgen bereiteten. Winterstürme müssen ihnen zugesetzt haben. Pro Sturm seien von den 2184 Glühbirnen jeweils 250 beschädigt worden. Weiter wurde informiert, dass zusätzlicher Schaden von offenbar akrobatisch begabten Glühbirnen- und Christbaumkugel-Dieben verursacht worden sei.
 
Am Central angekommen, verliess ich den Bus und eilte ans Limmatufer, wolle mich vergewissern, ob die Lichter an den Bäumen noch brannten. Ja! Sie standen für eine Foto bereit.
 
Danach führte mein Weg auf der rechten Limmattalseite weiter. Die Höhenmeter, die ich von zu Hause nach dem Farbhof abwärts ging, mögen jenen, die ich jetzt noch aufwärts gehen musste, ungefähr entsprechen. Ich kam aber an keinem Ort vorbei, der mir die entsprechende Übersicht hätte schenken können.
 
Ich war auf dem Weg nach Liebfrauen. Freute mich auf das letzte Referat der diesjährigen Vortragsreihe Geistesblitze „Das Ganz Andere“.
 
Diese Veranstaltungen sind Angebote der Kirchgemeinde zu Predigern, im Auftrag der reformierten Altstadtkirchen und der katholischen Kirchgemeinde Liebfrauen. Solchen Einladungen folge ich gern. Darum empfinde ich den Monat November lichterfüllt, auch wenn ihn andere oft als grau beschreiben.
 
Die unkomplizierten Kontakte zwischen Reformierten und Katholiken erweitern an solchen Veranstaltungen noch zusätzlich den Horizont. Sie haben auch schon Freundschaften geschaffen.
Als eindrücklichstes November-Erlebnis werte ich jetzt aber die Ranft-Wallfahrt zu Bruder Klaus. Unserem junger Pfarrer gelang es, eine zeitgemässe Form für sie zu finden. Eine Reise in die Nacht. Im Bus unterwegs.
 
Während der Fahrt durch den Autobahntunnel entstand für mich eine wohltuende Abgeschiedenheit. Wie in einer Kirche. Die Welt liessen wir draussen. Der Pfarrer hatte eine schlichte Andacht vorbereitet, und wir sangen das Bruder-Klaus-Lied. Ich staunte über uns alle, dass wir es noch singen können. Es hat seinen Sinn und seine Kraft immer noch in sich.
 
Während dieser Tunnelfahrt war die Sonne untergegangen. Wir fuhren in die dunkle Nacht hinein. Von meinem Sitzplatz aus zeigte sich mir der Verkehr. Seine Ordnungen, sein Lauf, die Beleuchtungen für den Strassenverkehr. Die Farben. Weiss strahlten Autos aus, die auf uns zukamen, rot jene, denen wir nachfolgten. Das ganze Bild: ein ruhig dahin fliessender Strom. Ohne Hektik. Alle, die ein Auto lenkten, kannten ihren Weg. Mit den Abzweigungen. Mit dem persönlichen Ziel und der Ordnung, es zu erreichen.
 
Ab Sachseln empfand ich die Landschaft geheimnisvoll, die Strassenbeleuchtung stark eingeschränkt. Aber wie vorher auf der Autobahn führten uns Wegweiser problemlos ans Ziel.
 
Zur unteren Ranftkapelle, wo wir gemeinsam für den Frieden beten wollten, führt ein schlangenförmiger Fussweg ungefähr 90 Meter in die Tiefe. Er ist nicht erleuchtet, doch die Augen haben sich sofort an die natürliche Dunkelheit gewöhnt. Stockdunkle Nacht empfing uns. Im oberen Drittel dieses Wegs begleiteten uns die Sterne. Im unteren Bereich hatte sich der Nebel festgesetzt. Er verzauberte das einzige Licht aus einer kugelförmigen Strassenlampe an der letzten Wegbiegung und warf seine Schatten an die Kapellenfront. Zusammen mit jenen der Eingangsüberdachung, der Kirchentüre und dem kreisrunden Oblichtfenster entstand von weitem der Eindruck, hier trete eine überirdische Person aus der Kapelle heraus und weise den Weg. Ob dieses Zusammenspiel an der Kapellenfront Komposition oder Zufall ist, erscheint mir nicht wichtig. Die Stimmung aber, die sie verbreitet, liess alles vergessen, was uns vor ein paar Stunden noch bewegt hat. Mitbeteiligt an ihr auch das Gebet um Frieden und die schlichte Eucharistiefeier.
 
Der Pilgerseelsorger im Flüeli-Ranft, übrigens früherer Pfarrer in Zürich-Altstetten, informierte noch, dass Jugendliche aus der Schweiz immer ab Mitte November und im Dezember in der Art einer Stafetten-Wallfahrt hierher kämen, um für den Weltfrieden zu beten.
 
Auf dem Rückweg zu Fuss durften wir dem goldenen Sternenhaufen am schwarzen Himmel nochmals begegnen. Es war ein aussergewöhnliches Erlebnis.