Sonntag, 26. Oktober 2014

Von reifen Samenständen und flugunfähigen Seevögeln

Es stürmte. Herbstwinde schüttelten Laub von den Bäumen. Ganz besonders hatten sie es auf das Hagebuchen-Wäldchen in meiner Umgebung abgesehen. Zeitweise sah es aus, als ob es schneie. Aber die Sonne schien und der Himmel sorgte für ein heiteres Blau. Mit im Spiel auch weisse Wolkenfrachten. Im Mittelpunkt die Früchte der Hagebuchen.


Als Letizia anrief, hatte ich schon eine Weile zugeschaut, wie auseinander gefallene Samenstände zur Erde fielen. Ich erzählte, was ich sah. Wie diese blattartigen Flügel zwirbelnd herunterfielen. Wie leicht sie seien und wie behutsam sie auf der Wiese landeten.
 
Etwas später rief Letizia erneut an. Offenbar hatte ich so begeistert rapportiert, dass sie in ihrem Umfeld ebenfalls nach fliegenden Samen ausschaute und mir darüber berichten wollte.
 
Inzwischen war es mir gelungen, Hagebuchen-Flügel als fliegende Objekte zu fotografieren. Dank der Windböen wurde es möglich, sie sogar am Himmel abzubilden.
 
Ich dachte an Helikopter, als ich sie fliegen sah. Auch an Segelflugzeuge, als sie der Wind süd- und nordwärts zwang. Dieser Sturm, der an verschieden Orten Bäume umfallen liess und grosser Schaden anrichtete, zeigte sich in meinem Umfeld gnädig. Ich sah keine Schäden. Und ich lernte viel von ihm.

Eine kleine Zahl solcher Fruchtstände landeten auf meinem Fenstersims und mehrere auch auf dem Balkon. Für sie war die Reise dort zu Ende. Ich holte eine Hand voll von ihnen zu mir ins Büro. Hier konnte ich sie ruhig anschauen. Alle trugen noch den Samen auf sich. Keiner ist verloren gegangen. Ihre Formen sind klar als dreilappige Flügel von den Hagebuchen-Samenständen erkennbar. Und doch ist jedes Blatt ein Original. Keines ist mit einem anderen deckungsgleich. Auf den ersten Blick könnte man ihre Form mit einem Kleid vergleichen. Oder als Symbol für Geborgenheit erklären, denn der Same, auch Nüsschen genannt, ist in einer kleinen Mulde festgewachsen. Diese Blätter sind nicht flach. Sie sind Gebilde. Wenn ich sie wende, erscheinen sie mir als Teil einer Glocke.
 
An jenem Nachmittag vollzogen sich Samenflüge etappenweise. Je nach Wind wurden sie nord- oder südwärts und auch im Kreis herum getrieben. Es müssen Millionen abgefallen sein. Die grüne Wiese ist nun braun gesprenkelt. Welcher Same wird keimen, wo darf ein neuer Baum wachsen? Interessant auch, dass die Samen am Flügelblatt haften und sich erst am Boden, vielleicht erst nach Regen oder Schnee, vom Blatt lösen. Sie brauchen das Blatt als Flugobjekt, damit die Samen in ein weites Umfeld verfrachtet werden können.
Die Blätter, die auf dem Fenstersims landeten, habe ich fotografiert und später auf meinen Schreibtisch gelegt. Da konnte ich sie in aller Ruhe betrachten. Sie waren von einem Geheimnis umgeben. An wen erinnerten sie mich? Plötzlich wusste ich es: An Pinguine, schwimmende Pinguine, wenn sich diese ins Wasser werfen und dort übermütig tauchen. Um schnell zu sein, strecken sie ihre Körper und die Form entspricht, wenn auch vielfach vergrössert, den Formen eines Blattes aus dem Hagebuch-Samenstand.
 
Ich sandte Letizia eine entsprechende Foto. Sie schrieb zurück
 
Ja Wahnsinn !
Ich seh die Pinguine schwimmen !!!
Sensationell.
 
Sie war dabei, als wir vor wenigen Tagen den Zürcher Zoo besuchten und auch bei den Pinguinen landeten. Wir beobachteten diese beim Anmarsch ins überdeckte, durchsichtige Bassin aus Glas. Ihr wackelnder Gang, ihr ganz eigener Charme, veränderten sich blitzschnell, als sie ins Wasser sprangen. Wie Kinder, die zu allerlei Lumpereien aufgelegt sind. Die Vitalität, die sie tauchend vorführten, verblüffte uns. Das war Energie pur. Und wir konnten zuschauen, wie sie ihre Körper vollständig veränderten. Die ausgezogene, neue Form, die fand ich dann ein paar Tage später, vielfach verkleinert, in den abgefallenen Hagebuchen-Flügeln
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Pinguine werden übrigens als flugunfähige Seevögel bezeichnet.
 
Und die Samenstände reihe ich bei fliegenden Wesen ein, auch wenn sie vom Wind abhängig sind und sich nicht selber steuern können.

Montag, 13. Oktober 2014

Ausflug ohne zu fliegen. Reise mit Bahn und Postauto

Wir befanden uns im Zug Richtung Chur. Ein junges Paar hatte sich neben uns gesetzt. Die Frau wollte sofort wissen, ob sich der Platz auf der Seeseite befinde. Sie kenne den Zürichsee noch nicht, freue sich, ihn heute zu sehen. Einen Augenblick lang dachte ich, ihr meinen Fensterplatz anzubieten. Ich bemerkte aber schnell, dass ihr Freund keine Freude gehabt hätte. Ihre Frage beantwortete er mit einer bejahenden Geste, knapp und unmissverständlich uninteressiert. Er wollte nicht gestört werden, war mit dem iPhone im Gespräch. Er beschäftigte sich mit Zahlen, Bahnstrecken und Kilometern, die er der Frau von Zeit zu Zeit erläuterte. Es tönte dann, wie wenn er Reiseangebote testen wollte. Vielleicht machten die beiden an diesem Tag „Blauen“, fuhren los und entschieden unterwegs, wie die Reise weiterführen soll. Aber Reisefreude strahlte dieser Mann nicht aus.
Das Regenwetter und der graue Himmel verwehrten der jungen Frau den Kontakt mit dem See. Im Bereich zwischen Wädenswil und Horgen ZH wies ich darauf hin, dass wir hier dem Wasser nahe seien. Es sind Lieblingsorte, in die ich selber immer wieder gerne hineinschaue. Bei heiterem Wetter zeigen sich hier prächtige Bilder, sowohl Richtung Zürich als auch gegen den Obersee hin. Die junge Frau freute sie an diesem kurzen Einblick. Das war's dann.
Ab Ziegelbrücke erschien die Sonne. Wie wenn ein Lichtschalter bedient worden wäre. Einige Sekunden lang schauten auch unsere Mitreisenden auf und hinaus. Das Licht des Südens strahlte durch das Glarnerland. Ab da schien die Sonne auch auf unsere Schienen. In Chur erwartete uns ein blauer Himmel. Und weisse, flockige Wolken, die sich ständig in lustige Fratzen verwandelten. Grosser Andrang dann vor dem Postauto. Auch wir konnten noch zusteigen und letzte Plätze besetzen.
Der ¾ Stunden dauernden Fahrt mit Höhendifferenz von ungefähr 480 Metern verdankten wir eine beeindruckende Sicht in die Berglandschaft. Auf der Hinfahrt bediente der Postautokurs auch den Ort Trin GR und führte uns eine kleine Weile durch den Ortskern, entlang historischen Häusern. Eine Augenweide. Und vor der Ankunft in Flims-Dorf GR bemerkte ich kurz aber eindeutig im Flimser Wald den Caumasee.

Nach der Ankunft meldete sich ein Problem. Meine Uhr konnte die exakte Zeit nicht mehr angeben. Sie ging hintennach. Die Batterie war erschöpft. Auskunft, wo wir einen Uhrmacher finden könnten, erhielten wir dann vom Kellner im Hotel-Restaurant Bellevue. Hier wurde uns ein feines Mittagessen serviert. Mit uns in der schönen Täferstube tafelten auch andere Gäste. Alle zusammen befanden wir uns in Gesellschaft mit Tieren. Genau gesagt mit Tierpräparaten (Kopf und Geweih) von Steinbock, Gemse, Hirsch, Reh mit Kitz und einem Jungfuchs. Sie beobachteten uns von den Wänden herab. Eine illustre Versammlung. Verstanden habe ich sie als Anlehnung an das Steinbock-Wappentier des Kantons Graubünden.
Der Besuch beim Uhrmacher in Flims-Waldhaus empfanden wir schlussendlich als Zugabe an Übersicht. Auf dem Rückweg fühlten wir uns auf einem Balkon, schauten von Flims-Waldhaus nach Flims-Dorf hinüber und auch an die Felswand des Flimsersteins. In einem gigantischen, unvorstellbaren Bergsturz verlor er vor ungefähr 9500 Jahren einen wuchtigen Teil seiner Gestalt. Dieser Stein zerbrach, kollerte hinunter in den Rhein und gestaltete mit ihm in unzählbaren Jahren schliesslich die Ruinaultaschlucht.
 
Es war der grösste alpine Bergsturz, der in der Schweiz stattfand. Für alle Lebewesen in seinem weiteren Umfeld muss es der Weltuntergang gewesen sein.
 
Jetzt steht der Flimserstein ruhig und auch majestätisch da. Alle Abbruchstellen und Schrunden zeigten an diesem heiteren Tag ihre von Wind und Wetter geschliffenen Oberflächen. Erstaunlich die Partien, auf denen Tannen wachsen können. Woher ernähren sich diese aufrechten, gesunden Bäume? Wie schafften sie es, sich in diesem Gestein zu verwurzeln? Dieses Geheimnis gaben sie uns nicht preis. Primo konnte sich kaum von ihnen trennen.
Auf dem Rückweg nach Flims-Dorf kam eine gebeugt gehende Frau auf uns zu und fragte, ob wir bereit wären, ihr zu helfen. Ich dachte zuerst, dass sie um Geld bitten wolle. Nein, so war es nicht. Sie fragte nur, ob wir den für sie zu schwer beladenen Abfallsack zur öffentlichen Abfalltonne tragen könnten. Es fehle ihr die Kraft dazu. Primo übernahm diese Aufgabe sofort. Und ich erkundigte mich, was ihr fehle. Sie war von einem rasenden Automobilisten angefahren und unverschuldet schwer verletzt worden. Sie kann kaum mehr aufrecht gehen und das Gleichgewicht halten. Sachte fragte ich nach, ob sie noch hoffen und glauben könne, dass sich etwas zum Guten ändere. Eigentlich nicht, antwortete sie traurig. Aber solche Hilfe, wie sie jetzt gerade von uns erfahren habe, die gebe ihr Kraft.
 
Nach Flims gekommen waren wir wegen der gegenwärtigen Plakatausstellung. Dass diese im viel besprochenen Gelben Haus gezeigt wird, freute uns sehr. Ein ursprünglich altes Haus (Gelbes Haus genannt) wurde vor Jahren schon vom Bündner Architekten Valerio Olgiati ausgekernt und zum Museum gestaltet. Immer, wenn ich eine Abbildung von ihm sah, wünschte ich mir, es einmal zu sehen, vielleicht sogar zu betreten. Das Haus, wie es dasteht: Eine Wucht. Da bin ICH. Schaut nur hin. Lasst euch von meinen Proportionen einnehmen. Schaut auf meine Fenster, auf ihre Zahl und Anordnung. Beachtet den weissen, rauen Verputz. Schaut auf das Ganze.
 
Dieses Haus verkörpert das Wesentliche.

Die Ausstellung war denn auch ergreifend. Weil es sich grösstenteils um ein Wiedersehen handelte. Noch immer betrachten wir die Plakatgrafik von einst als Kunst, zu der alle Menschen Zugang hatten. Grösstenteils unter dem Einfluss der Hochkonjunktur entstanden, strahlen diese eine Stilsicherheit aus, die seinesgleichen sucht. Sie strahlen auch Lebensfreude aus. Das ist unsere persönliche Sicht. Wir sind mit solchen Bildern erwachsen geworden. Auch andere Museumsbesucher reagierten ähnlich, empfanden die Bilder wie gute, alte Freunde. Lange verweilten wir in diesem Haus in Gesellschaft mit 140 sorgsam gehüteten Plakaten. Ganz besonders erinnerten wir uns an jenes, das für Flims gestaltet worden war. Der Titel: Die Springerin über dem Flimser Caumasee. Das Bild einer schönen Frau, die in den Bergsee springt. Vielleicht ist es das berühmteste Plakat der gesamten Ausstellung. Ich kannte es schon, als ich noch lange nichts von Flims oder vom Caumasee gehört hatte.
 
Die Rückreise nach Chur dann im Eiltempo, ohne Fahrt durch Trin. In der Postautohalle erwarteten uns 2 meiner Nichten. Mit ihnen und den Eltern durften wir noch den Abend verbringen. Die Mädchen servierten uns ein feines Nachtessen wie im Grand Hotel.
 
Und auf meine Uhr kann ich mich wieder verlassen. Ich nenne ihre Zeit jetzt Flimserzeit. Im besten Fall solange, bis die erwähnte neue Batterie auch wieder den Geist aufgibt. Möglich ist auch, dass sich noch vorher eine andere, neue Geschichte obenauf schwingt, die ich nicht rasch vergessen möchte.