Als geborene Zürcher Oberländerin hat mich das Fernseh-Projekt SRF 1 „anno 1914“ von Anfang an interessiert.
Meine Eltern und beide Grossmütter arbeiteten in Webereien in Wald ZH. Von Kindsbeinen an kenne ich die Wörter Zettel, Schiffli, Fabrik, Weberei, die Herren und dazugehörige Geschichten.
Also machte ich mich auf den Weg zum Drehort Juckeren, im Umfeld von
Bauma im Kanton Zürich. Fahrzeit nur eine Stunde mit S-Bahn und Bus ab
Zürich-Altstetten. Nach der letzten Strassenbiegung, bevor wir am
Drehort der Fernsehserie eintrafen, wurde die Fabrik sichtbar. Auf ihrem
Turm wehte die Schweizer Fahne. So wurde der Anblick auch im Fernsehen
gezeigt. Also am rechten Ort angekommen.
16 Uhr. Die Türen wurden gerade geöffnet. Es regnete, es
goss vom Himmel auf die vielen Regenschirme hinunter. Dicht gedrängt
warteten Besucherinnen und Besucher auf Eintrittskarten für Führungen.
Mehr oder weniger geduldig. Es wurden Karten für Führungen zu
unterschiedlichen Zeiten verteilt. Gratis. Meine galt für 17.30 Uhr. Ich
war alleine hierher gereist, schätzte es, ohne Rücksicht oder
Rückfragen auf andere meinen Gwunder (Neugier) zu stillen.
Die Eingangstür zur Fabrik stand offen. Ich konnte eintreten.
Seltsam und nicht sofort erklärbar, fühlte ich mich hier daheim. Warum
das? Erst als Frauen, die vor mir hergingen und die abgewetzten
Treppenstufen bemängelten, wusste ich, woran mich meine Gefühle
erinnerten: An unsere eigene Schreinerei-Werkstatt in einer ehemaligen
Spinnerei, die wir 36 Jahre lang mieten konnten. Dort gab es auch
ausgetretene Treppenstufen und federnde Holzböden. Und das Gebäude
selbst atmete auf ähnliche Weise. Erinnerungen, die ich gerne zuliess.
Auch andere Besucher fühlten sich in die Vergangenheit versetzt.
Ich sprach mit Männern und Frauen und hörte von ihren Beziehungen zu
solchen Fabriken. Altersmässig waren wir unter uns. Einige junge Frauen
beobachtete ich dort, wo man Kleider aus der Belle Époque
anprobieren durfte. Da huschten die Verkleideten dann in bodenlangen
Röcken umher. In der Ecke, wo Rasuren und Frisuren wie vor 100 Jahren
angeboten wurden, sah ich zu, wie der Bart eines jungen Mannes nach
alter Manier eingeseift wurde.
Auf der Theke stand eine Wasserschüssel und der dazugehörige
Wasserkrug aus Steingut. Ein Mann neben mir erkannte dieses Gespann und
sagte zur Frau: „Ou ja! Das isch öis doch emal abegheit.“ Er
erinnerte sich also an dieses Ensemble und dass es eines Tages
heruntergefallen und zerbrochen sei. Diese Gefässe benützten wir, als in
den Wohnungen fliessendes Wasser nur für die Küche und für den Abort
eingerichtet war. Mit dem Wasser von der Kommode konnte man am Morgen
Gesicht und Nacken waschen, um richtig zu erwachen.
In einer Vitrine entdeckte ich den steifen Hemdkragen, der
„Vatermörder“ genannt wird. Daneben das Korsett für Frauen. Als ich zu
einem neben mir stehenden Besucher sagte, der Vatermörder trage einen
passenden Namen, wusste er nicht, wovon ich sprach. Noch nie gehört,
dass ein steifer Kragen diesen mörderischen Namen trug. Er überlegte
eine Weile und folgerte, da hätte eine Frau keine Chance gehabt, den
Mann an der Gurgel zu packen.
Weitere Entdeckung: Stoffrollen von damals. Da schaute ich genau
hin, wollte Antworten heimbringen. Die Frage nach Kleiderfarben von
einst hatte mir meine Tochter Letizia schon vor langer Zeit
gestellt. Fotos im Familienalbum der Grosseltern erzählten nur
schwarz-weisse Geschichten. Die hier präsentierten Farben entsprachen
meinen Erinnerungen. Sie traten dezent auf: Altrosa, türkis, hellbraun,
beige. Im Gegensatz zu den kontrastreichen und schreierischen Farben von
heute wirken sie immer noch vornehm und in meinen Augen natürlich. Ein
paar Schritte weiter traf ich auf einen Tisch, auf dem fertig gestellte
Küchentücher präsentiert wurden. Dahinter ein älterer, ruhiger Mann. Er
wies daraufhin, dass diese Tücher auf den beiden Webmaschinen nebenan
entstanden seien. Eine besondere Webetikette zeichnete sie aus. Ja! Ein
solches Tuch möchte ich kaufen. Seine Antwort: „Ich darf es Ihnen schenken.“
Zusammen mit einer Postkarte überreichte er es mir. Diese Geste freute
mich enorm, auch jetzt noch. Ein wertvolles Geschenk, das mich indirekt
mit meinen Vorfahren und vor allem mit meiner Mutter verbindet.
Nebenan dann die beiden Webstühle in Betrieb. Beide Modelle haben
wir bereits auf dem Bildschirm kennen gelernt. Hier schauten alle
interessiert zu, nahmen den Takt angebenden Lärm in sich auf,
beobachteten die Durchschüsse. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis sich
die Augen auf das Schiffli, in dem der Faden spediert wird,
konzentrieren konnten. Sie kamen kaum nach, es zu begleiten. Ich musste
mich auch sonst gedulden. Wer einen guten Platz mit Sicht auf die
Durchschüsse ergattern konnte, blieb lange stehen. Auf der andern Seite
des Webstuhls konnten wir beobachten, wie der Stoff wuchs.
An beiden Webstühlen hing je ein Büschel Baumwollfäden, am einen
Ort weisse, am andern farbige. Die weissen liessen mich an Haare einer
Fee denken. Dünn und fein. Am Webstuhlgestell und am Boden häuften sich
Flausen, die sich aus der verarbeiteten Baumwolle gelöst hatten. Ich
bewunderte die Feinheit des Baumwollfadens.
Wie gerne hätte ich in diesem Augenblick meine Mutter neben mir
gehabt! Ich kenne ihre Arbeit nur vom Hörensagen. Nie konnte ich
zuschauen, welche Aufgaben sie erfüllt hatte. Und wenn sie über ihre
Arbeit in der Fabrik sprach, beklagte sie sich nicht. Sie erzählte nur,
dass die Schichtarbeit einer Lotterie gleichkam. Wenn ihr eine
ebenbürtig tüchtige Schichtablöserin zugeteilt wurde, verdiente sie gut.
Entstanden Fehler, waren beide Frauen von Lohnabzügen betroffen,
unabhängig davon, wer sie verursacht hatte.
Bevor ich die Fabrik auf dem Rückweg verliess, schaute ich nochmals
in jenen Raum, in denen einzelne Szenen der Fernsehserie aufgenommen
wurden. Ich wunderte mich über seine Grösse, die ich hier vorfand. Das
Büro des Juniorchefs und seinen Gehilfen empfinde ich im Film als sehr
eng. In Wahrheit ist es geräumig.
Dann besuchte ich das Festzelt. Es war kaum besetzt. Das
langgezogene Buffet mit Getränken, Gebäcken und regionalen Spezialitäten
wurde von verschiedenen Personen betreut. Ich gönnte mir einen Tee, ass
eine Schnitte Zwetschgenkuchen, kaufte die prämierte Sonnentorte aus
der Bäckerei Schiess, ebenso Baumerfladen aus der Konditorei Voland,
beide in Bauma hergestellt. Diverse Käse und Würste gehörten ebenfalls
zum Angebot. Und für Unterhaltung sorgte eine Filmsequenz.
Diese ruhige Atmosphäre entsprach mir sehr. Anschliessend konnte ich an der offerierten Führung teilnehmen. Eva Zangger, Kunsthistorikerin von der Kulturdetektive GmbH
aus Wetzikon führte uns durch die Villa, das Waschhaus und das
dazugehörige Gelände, auch zum Wasserschloss und den Kosthäusern. Sie
bot uns viel Wissenswertes und betonte, dass es ungewöhnlich grosszügig
sei, dass die Besitzerfamilie Jucker den Villenbesuch gestatte. Sie
verstand es, dafür zu sorgen, dass wir uns in ihren Räumen respektvoll
verhielten.
Als ich aus dem Haus trat, sah ich den Patron aus dem Film. Er
stand vor der Villa, in lockerem Gespräch mit Gästen. Ich ging auf ihn
zu, grüsste und fragte etwas aufmüpfig: Ja, sind Sie denn nicht mehr in
Kandersteg? Am Tag zuvor sah ich ihn (im Film) mit seiner Frau ins
Berner Oberland reisen. Das letzte Bild zeigte ihn, wie er sich bei der
Ankunft im Hotel Victoria in den Korbsessel fallen liess. Angekommen.
Ferien!
Er hatte den kleinen Spass verstanden, spielte die Rolle des Patrons einen Augenblick mit.
Die Heimreise hatte ich mit der Bahn via Fischenthal – Wald
ZH – Rüti vorgesehen. Ich wäre gern wieder einmal an jenem Moor
vorbeigekommen, das in meinen Vorstellungen den ungefähren Ort markiert,
wo die Flüsse Töss und Jona ihren entgegengesetzten Lauf antreten.
Dieser Zug war bereits abgefahren. Der Bus, der uns zum Bahnhof Bauma
führte, fuhr 6 Minuten zu spät vor. Ich konnte die Reise nicht wie
vorgesehen fortsetzen. Es erstaunte, wie die vielen Busreisenden sofort
verschwanden. Offensichtlich zu Hause angekommen. Nur zu zweit standen
wir noch bei den Geleisen.
Die Kioskfrau verriegelte gerade ihren Laden und verschwand
lautlos. Wie vom Boden verschluckt. Da standen wir zwei: Der Mann, der
ebenfalls die Weberei besuchte, und ich, die gerne mit dem bereits
abgefahrenen Zug nach Rüti gefahren wäre.
Mit dem Mann hatte ich schon im Bus gesprochen und erfahren, was
ihn an der Weberei interessierte. Technische Belange. Alles andere
schien ihm nicht bedeutsam. Um nicht eine Stunde hier allein
herumzustehen, entschloss ich mich, ebenfalls über Winterthur zu reisen.
Still standen wir da.
In dieser Zeit unterhielten uns stürmische Winde, führten ihre
Kraft vor. Sie schüttelten den Wald, fuhren in die Bäume hinein, liessen
die Blätter knistern.
Die Wartezeit wurde zur wertvollen Viertelstunde, die mir wieder
einmal vorführte, was Stille bewirkt. Was wir wahrnehmen, wenn der
Verkehrslärm ausgeschaltet ist.
Auf der Rückreise dann, folgte mein Blick der urtümlich wilden
Hügellandschaft, die sich nach und nach veränderte. Sie wurde ebener,
der Talboden langsam breiter, die Besiedlung stärker. Der mitreisende
Mann aus dem Kanton Aargau war mit seinem Natel im Gespräch, schaute
aber kurz auf, als ich auf die Dorfkirche von Zell hinwies, wo das
berühmte Weihnachtsspiel Zeller Weihnacht erstmals aufgeführt wurde. Und
etwas später liess er sich nochmals ablenken, als ich auf das
Tibetische Kloster in Rikon hinwies.
Ungefähr 100 Höhenmeter nitzi (abwärts) trafen wir dann in
Winterthur ein. Vorher aber bescherte uns der aufgelockerte, blaue
Himmel noch ein Schauspiel. Auf seinem Hintergrund tummelten sich
unzählig viele weisse Haie. Wolkengebilde besonderer Art.
Dieses Bild zeigte sich einige Minuten lang nur darum, weil in
Winterthur Seen keine dominanten Hochhäuser in den Himmel ragen. Die
Bauvorschriften werden hier offensichtlich verständnisvoll respektiert.
Aus solchen Gründen resultierte die grandiose Aussicht.
Winterthur. Umsteigen. Wir wünschten uns einen guten Heimweg!
Die Hektik hatte mich wieder. Trotzdem fuhr ich sinnierend nach
Zürich-Altstetten zurück und überdachte meinen Besuch, freute mich an
der Rückführung in längst vergangene Zeiten, freute mich auch über die
verschiedenen Gespräche und dass Arbeiter und Angestellte heute zu
anständigeren Löhnen arbeiten und sich Ferien leisten können. Auch in Kandersteg.