Sonntag, 27. Juli 2014

Tagebücher sind Schatullen für das vergangene Leben

Aus ihnen ziehe ich immer wieder einmal eine spezielle Geschichte hervor. Und diesmal ist es sogar eine hölzerne Schatulle, die im Mittelpunkt steht.
Primo schenkte sie mir vor 3 Jahrzehnten. Als Kubus hergestellt, war sie für eine vorhandene Glaskugel bestimmt. Mit Messingscharnieren auseinanderziehbar. Ein Verleimer. So nennt er seine Objekte, die er aus verschiedensten Hölzern gestaltet. Ein Werk aus seinen Händen, geprägt von seinem Schönheitssinn und mit Materialien erschaffen, die vermutlich andernorts als Abfall weggeworfen worden wären. Stücke auch mit ausgebrochenen Ästen, verwurmt, zerrissen.
 
Ich notierte damals ins Tagebuch: Bevor ich wusste, dass dieses Gefäss unsere wertvolle Glaskugel, die wir Wahrsagerkugel nennen, beherbergen soll, betrachtete ich dieses Werk als ein Stück Lebensgeschichte von uns beiden. Geschaffen mit markanten Hölzern, hell und dunkel, unauffällig und ebenso auch ausgefallen. Mit bekannten Hölzern aus unseren Breitengraden. Und mit dem Exoten Rio-Palisander ergänzt.
 
Als ich davon sprach, lachte er und sagte: Und dä Wurm isch au dinä. (Und der Holzwurm sei auch dabei.)
 
Er verunsicherte mich aber nicht. Ich sah in dieser Gestaltung ein getreues Abbild vom Leben. Von Ordnungen, Zusammenspiel und Darstellung dessen, was uns mit andern verbindet oder trennt. Auch von Wachstum, Stärke, Schönheit und ebenso von Zerfall.
 
Da Primo keine Scheu hatte, verwurmtes Holz zu verwenden, hatte ich in jenem Augenblick auch keine Scheu, dazu zu stehen, dass in unserem Leben auch verwurmte oder angefressene Elemente auszumachen seien. Zusammenfassend schrieb ich, alles zusammen sei schön. Und heute denke ich dazu, besonders die angefressenen Teile würden das Objekt interessant machen.
 
Jetzt, nach 31 Jahren, als ich diese kostbare Arbeit wieder einmal bewusst in die Hände nahm, staunten wir, wie gut erhalten sie ist. Die Löcher gehörten schon damals dazu. Primo hatte sie im Deckel und auf Seitenteilen so eingesetzt, dass sie als Augen oder Fenster wahrgenommen werden können.
 
Fingerdicke Holzwürmer hatten in einer Art Tunnelbau einen Kanal geschaffen, der sie schlussendlich ins Licht führte. Sie frassen solange vom Holz, bis sie aus ihm herausfanden. Zurückgekommen sind sie nicht mehr. Ihre Behausung ist leer. Seit Jahrzehnten schon. Sie kamen auch nicht auf die Reise in die Schweiz mit.
 
Die Löcher in diesem kleinen Stück Riopalisander sollten zeigen, wie dick die südamerikanischen Holzwürmer sind. Eine Kundin brachte das Holz aus Brasilien in unsere Werkstatt. Selber als Künstlerin tätig, sah sie sofort die aussergewöhnlich schönen Formen der Löcher. Wie vorausgesehen, inspirierten diese dann den Schreiner, und das erwähnte Objekt entstand. Das beinahe schwarze, harte Holz hat sich bis heute nicht verändert. Und wie schon gesagt, die Holzwürmer sind ihm nicht in die Schweiz gefolgt.
 
Was auch auffällt: Die verschiedenen Holzarten, an verschiedenen Orten und unter verschiedensten Einflüssen aufgewachsen, fühlen sich mehrheitlich wohl in diesem Werk. Es sind nur wenige Haarrisse auszumachen, die auf erlebte Spannungen hinweisen.

Freitag, 11. Juli 2014

Jeder Spaziergang beschenkt uns auf irgendeine Weise

Primo und ich erlebten die Kindheit im Industriequartier in Zürich 5, heute unter dem Namen Zürich-West bekannt. Viele Bezüge zur Natur konnte uns dieser Stadtteil nicht vermitteln. Darum schätzen wir heute unser Zuhause in Zürich-Altstetten auch darum, weil es am Stadtrand liegt und wir Schlierenberg und seinen Wald innert einer halben Stunde erreichen.
 
Ich habe schon manches Erlebnis aus diesem Gebiet beschrieben, und immer wieder gibt es neue und einmalige.
 
An einem der bisher sonnigsten Tage spazierten wir nach dem Nachtessen noch nach Schlierenberg. Dorthin, wo der Himmel offen und die weite Sicht ins Limmattal garantiert sind.
Es war die letzte Stunde vor dem Sonnenuntergang und wir hofften, von seinem Abschiedslicht noch etwas zu erhaschen. Als wir auf dem grossen Rastplatz eintrafen, sahen wir vor allem Wolken. Einem Gebirgszug ähnlich. Wie eine echte Felswand stand dieser vor der Sonne. Die dicken Wolken liessen kein Licht durch. Und vor allem bewegten sie sich nicht. Das Licht aber fand seinen Weg den rückseitigen Wänden hoch und strahlte deren Silhouetten an. Ihrer Kontur nach entstanden Lichterketten, wie wir sie von Festzelten kennen. Aber tausendmal schöner, eindrücklicher und berührender. Mit einem Zauber, den nur das natürliche Licht spenden kann.
 
Nach und nach färbte sich der Himmel tief rot. Immer stärker. Wir wunderten uns, dass es am Fuss des Wolkengebirgszugs ein Seitental simulierte, und wir scherzten, dass die untergehende Sonne bald am Fuss dieser Wolkenwand hervortreten werde. Und dann staunten wir, dass dies geschah.
 
Glutrot und von einem goldenen Schein umgeben, kam sie für den Abschied hervor und versank in wenigen Minuten hinter der Erde. Ihre Strahlkraft war enorm, beinahe beängstigend. Die Augen meldeten jedenfalls, wir sollten sie schonen.
 
Dann war das Schauspiel zu Ende, und wir waren uns einig, ein solches noch nie erlebt zu haben.
 
Und jetzt, beim Schreiben, erinnerte ich mich plötzlich an einen Text von Johannes Itten (18881967), den Schweizer Maler, Kunsttheoretiker und Kunstpädagogen. Seine Aussage vom uranfänglichen Licht begleitet mich bis heute:
 
Farben sind Ur-Ideen, Kinder des uranfänglichen farblosen Lichtes und seines Gegenpartes, der farblosen Dunkelheit.
 
Das Licht, dieses Ur-Phänomen der Welt, offenbart uns in den Farben den Geist und die lebendige Seele dieser Welt.