Freitag, 11. Oktober 2013

Die Reise nach Lure war korrekt, die Rückfahrt verflixt

Auf der Heimreise, im französischen Belfort angekommen, lasen wir beim Umsteigen auf der Informationstafel, dass der vorgesehene Regionalzug ausfalle. Er hätte uns nach Mulhouse führen müssen. Wir suchten eine spätere Abfahrtszeit und bemerkten gleich, dass dann die Weiterreise ab Mulhouse mit dem TGV, (Train à grand vitesse, dem Hochgeschwindigkeitszug) nicht mehr gesichert sei.
 
Den Informationsschalter fanden wir. Er war aber nicht besetzt. Primo klopfte ans Fenster und scheuchte einen Angestellten auf. Dieser wies uns den Weg zur Station, wo ein Bus eintreffen werde.
 
Es warteten schon viele Leute. Ich fragte einen jungen Mann, ob hier der Bus nach Mulhouse zu erwarten sei. Er hoffe es, sagte er und signalisierte eine allgemeine Unsicherheit. Verschiedene Personen versuchten, übers Natel Informationen aufzufangen. Erfolglos. Nach einer halben Stunde kehrten Primo und ich in die Bahnhofhalle zurück. Nun war der Informationsschalter sogar geschlossen. Und an der Tafel mit den Abfahrtszeiten gab es keine neuen Nachrichten für uns.
 
An einem Billettschalter wurde uns gesagt, der erwartete Bus treffe in 5 Minuten ein. Mehrmals rief der Mann 5 Minutes, 5 Minutes, und wir verstanden, dass wir uns beeilen müssen. Der Bus war wirklich eingetroffen. Eine Menschentraube stand davor. Eintreten durfte vorerst niemand. Es wurde noch der schriftliche Auftrag für diese ausserordentliche Fahrt erwartet. Man hatte einen Schulbus ordern können. Als der Überbringer dann ankam, wurde er von verschiedenen Personen bestürmt. Sie stellten Fragen, ohne aber diesen Mann speziell zu grüssen. Darum sagte er zu jeder Person, die ihn angesprochen hatte: Bonjour! Wurde die Frage wiederholt, hiess es gleich wieder Bonjour! Es war ein Beamter alter Schule, der eine korrekte Begrüssung verlangte, bevor er eine Antwort gab. Grotesk. Es war doch eine aussergewöhnliche Situation. Als er dann das Auftragspapier übergeben hatte, fragte der Chauffeur nach der Billettkontrolle. Ob er sie übernehme. Er winkte ab. Dann durften wir einsteigen und abfahren.
 
Einige Fahrgäste richteten sich sofort zum Schlafen ein. Primo und ich interessierten uns für die Fahrt, für die Wege, die uns auf die Landstrasse führen konnten, denn der Bus musste die Dörfer an den Bahnstationen bedienen.
 
Imposant wirkte ein erhöhtes Rondell, in dessen Kreis er hineinfuhr, um auf die Gegenfahrbahn zu gelangen ... und gleich danach wieder beim Bahnhof Belfort einzutreffen, von wo wir soeben weggefahren waren. Jetzt aber befanden wir uns auf der anderen Strassenseite.
 
Dieser Rundlauf schenkte uns einen grossartigen Überblick auf die Zufahrten der gigantischen Autobahnen. Eine Weile fühlte ich mich in einem Film von Jacques Tati, dem Kritiker der modernen Zivilisation. Er hatte uns schon vor Jahrzehnten in seiner humoristisch-kritischen Art und mit Übertreibungen auf solche Zwänge aufmerksam gemacht.
 
Anfänglich empfand ich die Fahrt über Land und durch die Orte sehr ansprechend. Es wurde uns da eine Art fahrendes Bilderbuch geboten. Ich entdeckte auch die Vogesen. Doch nach der halben Reise wurde ich unruhig. Es meldeten sich in mir allfällige Probleme mit unseren Fahrkarten. Die letzte Etappe unserer Bahnreise hatten wir im TGV mit fixem Sitzplatz gebucht. Und der war doch schon längst abgefahren.
 
Inzwischen war es Abend geworden. Die Sonne verabschiedete sich. Ich übte in Gedanken französische Sätze, um unsere Situation an einem Schalter gut verständlich erklären zu können.
 
In Mulhouse angekommen, löste sich die Schulbusgesellschaft sofort auf. Alle gingen ihrer Wege, verschwanden aus unserem Blickfeld. Wir hasteten in die Schalterhalle. Und wieder wurde Geduld verlangt. An 5 Schaltern wurde bedient und in Schlangen gewartet.
 
Hier war bekannt, dass ein Zug ausgefallen sei. Die Anpassung unserer Fahrkarten an einen nächsten TGV, aber erst ab Basel, wurde handschriftlich und mit Stempel beglaubigt. Und der Regionalzug nahm uns rechtzeitig dorthin mit.


Für die letzte Etappe nach Zürich gab es auch für uns noch freie Plätze. Es war ein Zug älteren Jahrgangs. Die Einrichtung mit entsprechendem Charme. Jetzt konnten wir uns entspannen. Die Reise verlief im Nu.
 
Wir wunderten uns nur darüber, dass jetzt niemand unsere Fahrkarten sehen wollte. Alle Verunsicherung und Vorbereitung erwiesen sich als überflüssig. Aber Ende gut, alles gut.

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Ravenna/Italien: die Schönheit aus dem 5. Jahrhundert

Die ungefähr 600 km lange Reise von Zürich nach Ravenna verlief angenehm ruhig. Der Bus wurde von einer Frau gesteuert, der ich von meinem erhöhten Sitzplatz aus zuschauen konnte. Souverän führte sie das Gefährt und strahlte grosse Sicherheit aus.
Was ich auf der Reise besonders schätzte: Wir wurden nicht mit Musik berieselt. Vor 20 oder 30 Jahren war man noch der Meinung, Fahrgäste im Bus müssten unterhalten und wie eine Schulklasse geführt werden. Laute Musik und Witze waren im Fahrpreis inbegriffen. Die Kundschaft von heute ist nun reisegewohnt, kann sich selber unterhalten oder schlafen.
Ich verfolgte die Fahrt mit den Augen, zog die Schleifen, wie sie unser Gefährt machen musste, mit. Existiert jetzt vielleicht ein schönes Bild davon in meinem inneren Archiv?
Abwechslung boten mir die Botschaften auf den Leuchtschrifttafeln an der Autobahn. Obwohl mit nur wenig Kenntnissen der italienischen Sprache, verstand ich eine sofort: DAS LEBEN IST MEHR WERT ALS EIN SMS.
Als wir uns Ravenna näherten, entdeckte ich ein altes Stadttor, und die dahinter liegende Altstadt winkte mir zu. Unser Bus musste aber die für ihn konforme Strasse benützen. Dieses Tor wies uns zwar ab, doch es wirkte wie ein Theatervorhang auf mich. Bald werde die Vorstellung beginnen.

Ravenna gehört zum UNESCO Weltkulturerbe und bewirbt sich neuerdings auch noch für die Auszeichnung Kulturhauptstadt Europas 2019. Ich kann diesen Anspruch verstehen. Die sehr alten Kunstschätze, zu denen dieser Ort Sorge trägt, sind einmalig. Hier hat sich altchristlich byzantinische Mosaikkunst aus den ersten Jahrhunderten nach Chr. erhalten. Ihre Bildgeschichten strahlen orientalische Erzählfreude und grosse Frömmigkeit aus. Die handwerkliche Kunst mit ihrem Gold und den Farben ist unübertroffen. Für diese Schönheit gibt es keine Worte. Man muss sie sehen können.

Der erste Spaziergang führte aber zum Mausoleum von Kaiser Theodorich, das nicht mit Mosaiken ausgeschmückt ist. Aber die aus istrischem Kalkstein erbaute Kuppel weckte grosses Erstaunen. 10 m Durchmesser, 1 m Dicke, ca. 300 Tonnen schwer. Wie mag die aus einem einzigen Steinblock gearbeitete Decke auf den Unterbau gehievt worden sein? Die technischen Hilfsmittel, wie wir sie heute kennen, standen 526 n. Chr. noch nicht zur Verfügung. Diese Herkulesarbeit wurde bewundert. Primo malte uns den möglichen Hergang einer solchen Leistung aus. Und er freute sich wieder einmal, dass sein Grossvater Bürger von Ravenna war. Eine etwas jüngere Frau als ich es bin, beobachtete uns. Und dann sprudelte auch ihre Freude auf. Ihr Grossvater stammte ebenfalls aus Ravenna. Und verdiente sein Auskommen auch als Schneider und als Sänger. Exakt wie Primos Grossvater.

Anderntags besuchten wir auch meine Lieblingskirche, die Basilika San Vitale. Ein riesiger Bau, als Oktogon erbaut. Seine Grundmasse: vielleicht 30 m im Quadrat. Mit prachtvollen Säulen, die den Raum abstützen und seine Grösse in prächtige Nischen aufteilen, ihn aber nicht zerschneiden. Ein Ort, wo alle lange verweilen wollten. Einigen fiel es schwer, sich von ihm zu verabschieden, weil uns die sanfte Orgelmusik noch zusätzlich in höhere Sphären trug. Und als wir wieder auf die Erde zurückkehrten, fielen unsere Blicke auf die aus Marmor geschaffenen Intarsienböden. Unerschöpflich der Reichtum an Ornamenten und das Spiel mit ihnen.
 
In einer Buchhandlung wurden wir auf 2 schlichte, fein gestaltete Schriften aufmerksam, die das Leben von 2 machtvollen Frauen nacherzählen. Das Leben der Galla Placidia* und Das Leben der Theodora*. Theodora begegnete uns in Mosaiken, Galla Placidia ihrerseits mit ihrem Mausoleum. Dies ist ein Wunderwerk an Schönheit, Ausstrahlung und Frömmigkeit.

Die Lebensläufe beider Frauen beschreiben dramatische Lebensgeschichten. Ich zitiere die Klappentexte als Zusammenfassung in kürzester Form. 

Galla Placidia
... lebte von 392 bis 450 nach Chr. Sie war die Tochter von Galla und Theodosius, dem grossen Römischen Kaiser.
Galla Placidia, eine gebildete und intelligente Frau, deren Faszination grosse Leidenschaften entfesselte. Von der kaiserlichen Prinzessin wurde sie zur Gefangenen der Goten, dann deren Königin und letztendlich römische Kaiserin. Die von ihr erbauten Werke, ganz besonders ihr eigenes Mausoleum, haben sie unsterblich gemacht.

Aus dieser Lektüre habe ich erfahren, dass sie auf einer Reise mit ihren beiden Kindern nach Konstantinopel unterwegs war, als das Schiff in Seenot geriet. Gewitter und Sturm gefährdeten alles Leben. In dieser grossen Not rief Galla Placidia den heiligen Johannes an, versprach ihm eine Kirche, wenn er sie rette. Und sie hielt ihr Versprechen, liess die Kirche dann bauen. Die Basilika trägt seinen Namen San Giovanni Evangelista. Wir waren Nachbarn. Das Hotel, in dem wir einquartiert waren, befindet sich dieser Kirche gegenüber. Sie ist eine von den 8 prächtigen Kirchen, neben weiteren Baudenkmälern, die zum kulturellen Reichtum Ravennas gehören. 1944, im 2. Weltkrieg, wurde sie bombardiert, ist aber wieder aufgebaut worden.

Sie wird mir in guter Erinnerung bleiben, weil hier sehr alte, sehr schlichte Naturstein-Mosaike gehütet werden. Bilder ohne Farbe, ohne Gold. Schon vor 40 Jahren, als ich mit meiner Familie erstmals nach Ravenna gekommen war, sprachen mich 2 Motive persönlich an. Ich sah da mein Leben als Frau. Die eine Tafel zeigt eine Frau, die dem Mann eine Blume hinhält und er signalisiert, dass er sie annehmen will. Auf der zweiten ist dieses Paar dann in einer Stadtumfriedung eingebunden. In der linken Ecke die Frau, in der rechten der Mann. Zeigte das erste Bild die Liebe und das Ja zur Ehe, wird im zweiten erzählt, dass Frau und Mann auch in eine grössere Gemeinschaft eingebunden sein müssen, um das Leben zu meistern und Heimat zu erfahren. Es war ein bewegendes Wiedersehen, und ihre Botschaften konnte ich als Erfahrung bestätigen.

Wer diese Kirche besuchen will, geht durch einen Garten, wird dort von klösterlichen Gesängen (ab Band) empfangen und auf den Ort eingestimmt. 

Theodora
... lebte von ca. 500 n. Chr. bis 548
Eine Frau, die zuerst die Volksmassen als Schauspielerin im Zirkus, dann das Herz des Kaisers zu gewinnen verstand und letztendlich mit Intelligenz und Strenge ein Kaiserreich aufbaute. Die Pracht der von ihr gewollten Mosaiken macht sie unsterblich.

Aus Ihrer Geschichte imponiert mir, wie sie ihre Herkunft nie vergass und sich für die Rechte der Frauen einsetzte. Ihr Leben ist so facettenreich und so dramatisch, dass ich ihr mit ein paar Sätzen nicht gerecht werden kann. Diese Biografie muss man selber lesen.

Was wir auch schätzten: Die freie Zeit, die den Einzelnen der Gruppe zugestanden worden ist. Das Schlendern im aktuellen Ravenna. Der gemächliche Altstadtverkehr zu Fuss oder mit Velos. Sehr sympathisch, nicht nervös. Kein Vergleich mit den Velofahrern in Zürich, die mehr und mehr wie aufgescheuchte Vögel davonpfeilen.
Gefallen hat mir auch diesmal wieder das Leben auf der Piazza del Popolo, umgeben von Bauten, deren Namen ich nicht alle kenne. Vorab das Rathaus mit seinen Flaggen und auf der Westseite dem venezianischen Palast. Hier den Sonnenuntergang mit einem Apéro zu geniessen, bedeutete mir echte Italianità.

Auf der Hinfahrt Richtung Süden gab es keine aufragenden Bergmassive, nur Weite, nur die schnurgerade Autobahn, die den Horizont berührt. Ob sich dort das Ende der Welt befindet, war nicht auszumachen.

Auf der Heimfahrt steuerten wir wieder den Alpen zu. Rasch erschienen sie in unserem Blickfeld, und das Licht des Südens bekam mehr und mehr einen leichten Graustich.

Letzter Halt in Erstfeld. Die für die Buslenker vorgeschriebenen Ruhepausen wurden strikt eingehalten. Auch wir Fahrgäste schätzten den kurzen Auslauf oder eine Zwischenverpflegung. Was mich angenehm überraschte: In Italien dürfen Toiletten in den Raststätten gratis benützt werden. Auf dem Rückweg in der Schweiz erlebte ich dann unsere sprichwörtliche Kleinlichkeit. Hier kostete ein Toilettenbesuch in der Autobahnraststätte einen Franken. Dieser wurde zurückerstattet, wenn danach noch Kaffee getrunken wurde.

Ravenna und die erwähnten Kaiserinnen sind im Internet dokumentiert. Mit den in diesem Beitrag kursiv gesetzten Wörter können Fotos und Texte gefunden werden.

Die Biografien sind bei EDIZIONI TIPOLITO STEAR in Fornace Zarattini (Ravenna) erschienen.
*ISBN 88-87747-08-3 für Galla Placidia
*ISBN 88-87747-09-1 für Theodora