Dienstag, 22. Januar 2013

Tempo Tüüfel: Gefangen im Strom der Beschleunigung

Morgens um 8 Uhr mit dem Velo unterwegs. Im Bahnhof Zürich-Altstetten durch die Geleiseunterführung. Es herrschte ein Gedränge. Eine S-Bahn war angekommen, und die Passagiere ergossen sich ebenfalls durch den Untergrund. Primo und ich fuhren hintereinander auf dem bezeichneten Veloweg. Rechts neben uns strömten die angekommenen Fussgänger dem Ausgang zu. Der ganze Raum unter den Geleisen war zu diesem Zeitpunkt dicht begangen, dicht ausgefüllt. Hinter uns ein dritter, ungeduldiger Velofahrer, der pausenlos klingelte. Er konnte aber nicht vorfahren. Dafür fehlte der Platz. Stoisch benützten wir alle unseren gemeinsamen Weg und ignorierten, dass da einer mehr Recht für sich beanspruchte, als ihm zustand. Sein Ego schien grösser zu sein als seine Übersicht. Die Durchfahrt unter dem Bahnhof beansprucht doch nur den Bruchteil einer Minute. Doch weiss ich selbst, wie ungern wir Velofahrer das Tempo drosseln, weil wir dann an Schwung verlieren.

Im Zürcher Hauptbahnhof sorgt der Leitsatz „Links gehen, rechts stehen“ dafür, dass die Eiligen auf der Rolltreppe schneller vorwärts kommen. Diese Regel funktioniert gut und sorgt dafür, dass die Pendlerströme ungehindert fliessen können. Der Bahnhof will kein beschaulicher Aufenthaltsort mehr sein.

Früher trafen sich im Bahnhof die Fremdarbeiter, wie Migranten damals genannt wurden. Hier seien sie ihrer Heimat am nächsten, wurde uns erklärt. Heute ist die Bahnhofhalle aber kein gemütlicher Dorfplatz mehr. Er muss Geld einbringen. Die Halle wird zeitweise vermietet. Es finden hier viele Veranstaltungen und im Dezember der Weihnachtsmarkt statt. Ich liebe die Zwischenzeiten, wenn die Halle leer ist, wenn ich sie diagonal durchqueren kann. Nur dann ist sie in meinem Augen eine richtige Schönheit.

Und ich vermisse immer noch die Sitzbänke an der linken Seitenwand der Billettschalterhalle. Bevor die ins Untergeschoss führende Rolltreppe gebaut wurde, konnte man dort warten oder sich ausruhen. Mit Blick zu den Perrons. Eine gewisse Übersicht über die Ankommenden und Abreisenden war da gegeben. Es arbeiteten damals noch die Porteure, die auf Schubkarren schwere Koffer und Taschen zu den Bahnwagen führten. Ihnen schaute ich gern zu. Auf einer solchen Bank zu sitzen und jemanden zu erwarten, weckte Lebensfreude und Reiselust.

Die beschauliche Atmosphäre verschwand langsam, zuerst kaum merklich, doch stetig. Die Errungenschaften der Technik gaben plötzlich allen Lebensbereichen Schub. Es konnte mehr aus ihnen herausgeholt werden. Das Wort „ausreizen“ kam auf.

Ausscheren ist nicht möglich. Alle wurden wir von der Beschleunigung erfasst und gezwungen, deren Gesetze zu respektieren. Alles muss fliessen. Nicht nur im Hauptbahnhof, nicht nur im Verkehr und am Arbeitsplatz. Auch die Familie wird von dieser neuen Energie erfasst. Schon die Kinder sind gehetzt. Ein Programm löst ein anderes ab. Eile mit Weile hat sich zu Eile und Hast verwandelt, weil vieles möglich geworden ist.

Im Dezember 2012 zeigte mir eine der Töchter sogar die schnellste Weihnachtskarte der Welt. Abgebildet war der aus dem Himmel herabstürmende Weihnachtsmann mit seinem Gefährt. Die Illustration entstand in einem Sportwagen während der Fahrt auf einer Rennstrecke in Frankreich. Aussergewöhnlich, aber auch ganz natürlich zeichneten die verwackelten Striche das überrissene Tempo des Gefährts.

Mit „Tempo Tüüfel“ (des Teufels Tempo) hätte man dieses Bild vor Jahrzehnten vielleicht betitelt, denn alles, was damals unerklärbar schien, musste aus des Teufels Küche stammen.

Donnerstag, 10. Januar 2013

Die Intarsie: Das aus dünnstem Holz geschaffene Bild


Wieder einmal erlebte ich, wie Faszination aufkommt, wenn Primo Lorenzetti seine Furnierschätze ausbreitet. Die Verantwortliche, die eine Bild-Ausstellung seiner Intarsien plant und begleiteten wird, war in die Werkstatt gekommen.



Noch unter der Tür stehend, bemerkte ich ihr begeistertes „Oh“, als sie das kreative Chaos wahrnahm. Obwohl der Raum klein und verstellt ist, strahlt er aus. Und viele Objekte, die hier zu sehen sind, weisen den Künstler auch als Tüftler aus. Fertiges und Angefangenes steht oder liegt nebeneinander. Nur weil hier keine sterile Ordnung herrschen muss, können sich Experimente entwickeln. Ähnlich wie Hefe, die Zeit und Geduld fordert, wenn sie aufgehen soll.

Einige Intarsien hatte Frau R. schon gesehen. Nun wollte sie wissen, wie solche hergestellt werden.



Der Bildinhalt dieser Holzflächenkunst wird mit Furnieren gestaltet. Im Furnierwerk werden Bäume zu feinsten Blättern geschnitten. So dick wie dünner Karton. In den 1950er-Jahren waren diese noch 2‒3 mm dick. Heute arbeitet Primo mit Blättern aus 6/10 mm, also etwas mehr als einem halben Millimeter Dicke. Frau R. reagierte begeistert auf die verschiedenen Holzfarben und auch auf die Art des Furniers, wie es geschnitten wird: hauptsächlich längs durch den Baumstamm, aber auch geschält, wenn die Holzsubstanz wie Papier ab einer Rolle abgezogen wird. Birkenfurnier wird oft so hergestellt.

Und dann die Farben: Wer nicht verschiedene Hölzer nebeneinander sehen kann, ist sich gar nicht bewusst, wie farbenreich die Facetten sind, besonders von Bäumen aus anderen Erdteilen. Noch vor dem rücksichtslosen Abholzen der Regenwälder wurden Hölzer aus diesen Gebieten wie Edelsteine behandelt.

An diesem Morgen leuchtete aus allen andern das violette Furnier des Amaranth-Holzes hervor, im deutschen Sprachraum als Violetta gehandelt. Viel beachtet ist auch das rot-orange Padouk, das wir auch Korallenholz nennen.

Ist es da verständlich, dass mit diesen Farben gespielt wird? In seiner über 50-jährigen Tätigkeit als Möbelschreiner und Holzgestalter hat sich Lorenzetti, ergänzend zu den präzisen Wünschen der Kundschaft, immer auch mit den Furnier- und Holzabschnitten beschäftigt. Äste, knorrige Teile, auch Reststücke von besonderen Farben oder Maserierungen regten ihn an, ihre Schönheit in Intarsien darzustellen.

War die ursprüngliche Form der Intarsie früher immer einem bestimmten Bildinhalt gewidmet, fällt diese heute dahin. Man stellte Landschaften, Gebäude, Persönlichkeiten, Pflanzen, auch Symbole dar. Dafür ist heute die Fotografie zuständig.

Lorenzetti-Intarsien sind mehrheitlich zufällige Kompositionen, ein Spiel mit vorhandenem Abschnittmaterial, auf der Suche nach Rhythmen und Perspektiven. Auch als eine Art Gespräch mit den Hölzern und mit Fragen an sie, ob sie bereit und fähig seien, Räumlichkeiten zu gestalten. Und daraus entwickeln sich manchmal Offenbarungen. Diese Intarsienart wirkt auf jede Person individuell. Sie spricht innere Bilder ihres Gegenübers an.

Für eine Intarsienkomposition müssen die einzelnen Furnierstücke fugenlos zusammengefügt und mit papierenen Klebstreifen festgehalten werden. Diese so entstandene Fläche wird dann auf eine entsprechend grosse Trägerplatte geleimt, also furniert. Anschliessend geschliffen und lackiert.

Und noch ein Blick zurück: Es ist bekannt, dass schon die Ägypter die Intarsie kannten. Und in Italien sind viele Intarsienarbeiten aus der Renaissancezeit gut erhalten. Dass sie überhaupt hergestellt werden konnten, setzte die Leimherstellung voraus. Fischer von damals sollen im erkalteten Fischsud die schwabblige Sulz entdeckt und bemerkt haben, dass diese aushärtet. Aus solcher Sulz (Sülze) als Grundmaterial
entstanden nach und nach die Leime für Papiere, Hölzer, Leder und Stoffe.

Vor Jahrzehnten, als ich wieder einmal in die Werkstatt kam, öffnete Primo 2 Schränke und zeigte mir seine Schätze. Er sagte dazu: Hier siehst Du, woran ich jeweils arbeite, wenn der Chef nicht da ist. Er, der selbständig Erwerbende, sein eigener Chef.

Es waren alles Intarsien, mit denen er sich damals von der traditionellen Darstellung verabschiedete. Auch er hatte ursprünglich gegenständliche Intarsien geschaffen. Z. B. das Grossmünster, eine Flusslandschaft, der Tierkreis auf dem Esstisch einer Kundschaft usw. Als ich diese neuen Bilder sah, spürte ich seinen Drang, dem Holz zu mehr Geltung zu verhelfen. Nicht in erster Linie dem Bild, sondern dem Material, mit dem es gestaltet worden ist. Und noch heute möchte er Möglichkeiten aufzeigen, die die nüchterne Innenarchitektur auf schlichte Art bereichern kann. Und dafür arbeitet er immer noch.