In seiner Eigenart ist das Knabenschiessen das grösste Volksfest
von Zürich. Bis zur Reformation feierte man jeweils am 11. September die
Stadtheiligen Felix und Regula festlich religiös und
selbstverständlich auch ausgelassen fröhlich. Überlebt hat vor allem
diese zweite Seite. Die religiöse wurde durch einen Schiesswettkampf für
Knaben ersetzt. Seit 1991 sind auch Mädchen zum Wettschiessen mit einem
modernen Gewehr zugelassen, und letztes Jahr wurde eines von ihnen
Schützenkönigin.
Das Festgelände befindet sich am Fuss des Uetlibergs. Über die
Strecke einer Tramstation hinweg ist die Strasse jeweils beidseitig mit
Marktständen gesäumt, und oben im Albisgüetli breitet sich ein
gigantischer Rummelplatz aus. Jedes Jahr erscheinen mir die
Vergnügungsbahnen raffinierter, verrückter. Letztes Jahr besuchten über
850 000 Personen dieses beliebte Volksfest. In diesem Jahr 2012 findet
das Knabenschiessen vom 8. bis 10. September statt.
Das Riesenrad im Albisgüetli mag ich noch zu verkraften. Die Ruhe
der Drehungen sind angenehm und bei entsprechendem Wetter ist die
Rundsicht über den See und zu Alpen hin einmalig.
Primo liebt diese Jahrmarktatmosphäre ganz besonders, und er
hat meist einen Grund, dass wir uns diesem Rummel aussetzen. Es sind
die Angebote an den Marktständen, die ihn interessieren, und er hört den
Marktschreiern extrem gern zu. Und wenn ich mitgehe, bin ich ebenfalls
neugierig und lasse mich vom Sog dieses Festes treiben. Die Gemüseraffel
stammt beispielsweise immer vom Knabenschiessen, auch wenn wir eine
solche ebenso gut in einem Warenhaus kaufen könnten. Dann finden wir
dort wackere Taschentücher aus Textilien, die andernorts schon längst
verschwunden sind.
Die allgemeinen Warenmarktangebote empfinde ich heute nicht mehr so
individuell wie einst. Als unsere Kinder klein waren, besuchten wir
jeweils einen bestimmten Stand, an dem von Hand gefertigte, auch
gestrickte Puppenkleider angeboten wurden. Ein Eldorado für unsere
Mädchen. Einmal konnte ich an einem Stand eine rein wollene Stoffjacke
aus Katmandu kaufen, wie ich solche danach nie mehr gesehen habe. Die
modernen, synthetisierten Materialien haben die Stoffe aus Naturfasern
verdrängt. Auf allen Warenmärkten finden wir heute billige Massenware,
wie sie über Kontinente hinweg verstreut wird. Eine der Ausnahmen ist im
Albisgüetli zu finden: Die Hemden aus dem Märithüsli von Ballenberg.
Zu diesem Fest gehören traditionell die Zuckerwatte, der türkische
Honig, das Magenbrot und die Bratwurst. In neuerer Zeit werden auch
Pouletschenkel angeboten und vom Wallis wurde das Raclette
(geschmolzener Käse) übernommen. Aus dem Tessin oder von Italien
inspiriert, wird Risotto angepriesen. Frisch gepresstem Süssmost aus
Äpfeln und Birnen wird gern zugesprochen. Früher schauten wir immer nach
den ersten Trauben aus Italien aus. Wir mögen die markanten Zeichen zu
den Jahreszeiten. Diese sind heute aber mehrheitlich verwischt.
Für unsere Familie war auch das gelbe Postauto ein Magnet, das
abseits des Schützenhauses seinen festen Platz hatte. Alle Briefe und
Postkarten, die dort aufgegeben wurden, bekamen den
Knabenschiessen-Sonderstempel. Die schnelle E-Post hat diesen schönen
Brauch leider sterben lassen.
Primo erinnert sich immer auch noch an menschliche Raritäten, wie
er sagt. Extrem kleinwüchsige oder extrem dicke Personen fanden ihr
Auskommen, indem sie sich ausstellten. Man konnte sie im Zelt besuchen,
sie ansehen, sogar berühren. Die dicke Berta etwa war vor 65 Jahren ein
Begriff. Ich habe sie nie gesehen.
Letztes Jahr schlenderte Primo mit Letizia ausschliesslich
in dieser Gauklerwelt umher. Sie erzählte mir später, dass er unerwartet
auf eine Schiessbude zuging. Er wolle mir eine Rose heimbringen. Sie
schilderte mir, was dann abgelaufen sei. „Er setzte die Brille auf,
nahm das Gewehr in die Hand. Die Dame, die es ihm überreicht hatte,
schaute ihn eher mitleidig an. Der alte Mann da? Ein Schuss. Die
Manschette war durchbrochen, die Rose gewonnen. Für nur Fr. 1.–. Er
verblüffte alle.“ Und heute wundert er sich immer noch, wie ihm das gelang.
Rückschau in die Geschichte von Felix und Regula
Im Albisgüetli-Rummel denkt wohl niemand mehr an die Stadtheiligen.
Ihre Geschichte ist von diesem Fest abgetrennt, aber immer noch
auffindbar, z. B. in der Wasserkirche und in vielen Texten und Büchern.
Das Geschwisterpaar Felix und Regula erlitt in Turicum, dem
heutigen Zürich, das Martyrium. Nach der Überlieferung waren die beiden
Angehörige einer römischen Militäreinheit aus dem ägyptischen Theben,
der im Wallis stationierten Thebäischen Legion. Wegen ihres christlichen Glaubens erlitten auf Befehl von Kaiser Maximilian
in Verolliez im Kanton Wallis 6600 Soldaten den Märtyrertod. Sie hatten
sich geweigert, an Christenverfolgungen teilzunehmen. Ihr Anführer Mauritius
soll Felix und Regula und einigen Gefährten zur Flucht verholfen haben.
Sie flohen über die Furka, durch das Urnerland nach Glarus und
erreichten schliesslich Turicum, wurden aber von Häschern eingeholt und
ebenfalls enthauptet. Nach der Legende sollen die Getöteten ihre
abgeschlagenen Häupter an sich genommen und bergan an den Ort ihrer
Grabstätten getragen haben. Dort wurde später das Grossmünster erbaut.
Im 13. Jahrhundert wurde diese Legende noch mit einem dritten Märtyrer, dem „Diener“ Exuperantius, ergänzt. – Im Siegel der Stadt Zürich sind die 3 Geköpften als Stadtheilige von Zürich verewigt.
Die damalige Stadträtin Ursula Koch schrieb 1988 im Vorwort
zum Buch „Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula“*, dass die
Reformation mit den Zeugen der Zürcher Stadtheiligen unerbittlich
aufgeräumt habe, aber:
"Die Legende schaffte sie allerdings nicht aus der Welt. Würden
die Häupter noch in der Pfarrkirche Andermatt aufbewahrt, wohin sie ein
frommer Auswärtiger in aller Heimlichkeit hingebracht haben soll? Die
Vergangenheit wird man nicht einfach los, dies belegt auch das Zürcher
Staatssiegel, auf welchem noch heute die kopftragenden Märtyrer
abgebildet sind."
Ihre Reliquien müssen nun nicht mehr versteckt werden. Wir haben sie bei einem Besuch im Sommer 2011 in Andermatt in der Pfarrkirche Sankt Peter und Paul je auf dem linken und rechten Seitenaltar sofort erkannt.
Und im Wallis, in der Abtei von Saint Maurice, haben
wir erfahren, dass jedes Jahr hunderte von Afrikanern, die in der
Schweiz leben, hierher reisen, um ihren Mauritius zu feiern. Er sei der
erste schwarze Heilige. Auch er starb den Märtyrertod und wird seither
als Heiliger verehrt. Die Abtei und der ihn umgebende Ort tragen seinen
Namen in französischer Sprache: Saint Maurice.
In Zürich kann in der Wasserkirche die Krypta besucht werden. Es
ist der Ort, wo im Mittelalter die Hinrichtungsstätte der Stadtheiligen
Felix und Regula verehrt wurde. 1940/41 fanden hier umfassende
archäologische Ausgrabungen statt, die besichtigt werden können. Es
lohnt sich, hier vor den aufgebrochenen Mauern und dem Märtyrerstein zu
verweilen und über die Texte, die in diesem Raum zu lesen sind, etwas zu
sinnieren.
Speziell angesprochen hat mich der folgende:
"Hat es Felix und Regula gegeben?"
Die Wissenschaft stellt diese Frage schon lange. Man sieht heute
eher eine religiöse oder „fromme“ Dichtung aus der Zeit ihrer
Niederschrift. Dennoch ist nie auszuschliessen, dass sich nicht doch
eine historische Wahrheit dahinter verbirgt."
*
* Das Buch „Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula“ wurde 1988 vom Hochbauamt der Stadt Zürich/Büro für Archäologie, herausgegeben. Zeitgleich fand im Landesmuseum Zürich
eine Ausstellung über die Stadtheiligen statt. Es wurden
Erinnerungsstücke, die vor der Reformation zum Kirchenschatz
verschiedener Gotteshäuser gehört haben, ausgestellt.
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