Das neue Schuljahr 2012/13 ist angelaufen. Die anfänglich täglich eingetroffenen Nachrichten aus Paris sind verklungen. Diesmal gehörte die 6-jährige Nora zu jenen Kindern, die in die Primarschule eingetreten sind. Sie freute sich enorm, will der älteren Schwester nacheifern. Als sie ihr Zuhause verliess, habe sie begeistert gerufen, jetzt lerne sie rechnen.
Am Abend jenes 1. Tags verkündete sie, die Schule sei gut. In dieser Klasse möchte sie immer bleiben. Mama wollte wissen, wo ihr Sitzplatz sei. In der ersten Reihe! Dort sehe man alles am besten. Diesen Platz muss sie sich selbst ergattert haben. Anderntags rief sie schon beim Aufwachen, heute sei ihr 2. Schultag, und am Abend erfuhren wir von ihrer Freude an der Hausaufgabe. Es musste ein kleines Gedicht gelernt werden.
Solche Begeisterung möchte ich allen Kindern gönnen. Auch unsere Kinder erlebten den Schuleintritt als etwas Aufwertendes. Sie waren glücklich, jetzt zu den Schülern zu gehören.
Nun steigen allerlei Erinnerungen auf. Kurze Momente von damals werden wieder einmal beleuchtet. Nichts Weltbewegendes, aber wichtig für ein Kind und auch für die Eltern. Und fürs erste etwas zum Schmunzeln.
Am Tag, als Noras Mutter in den Kindergarten eintrat, hatte sie beim Mittagessen viel zu erzählen. Sie berichtete lebhaft, was sich an diesem ersten Morgen abgespielt hatte. Sie kannte schon Namen von Mädchen und Buben. Und die Kindergärtnerin imponierte ihr. Dann, auf einmal, stockte sie und fragte mich: „Wofür hast du den Lieferschein gebraucht?“ Sie sprach damit die Bestätigung der Aufnahme in den Kindergarten an. Mit den Daten zum Schulanfang, dem Ort und der Zeit des Erscheinens. Diese hatte ich mitgenommen. Das Wort Lieferschein amüsierte uns. Felicitas kannte es aus Vaters Werkstatt.
2 Jahre später dann der Eintritt in die Primarschule. Wieder war unsere Tochter erwartungsvoll gestimmt. Dass sie den langen Schulweg alleine gehen musste, störte sie vorerst nicht. Den Hinweg bergwärts vom Limmatufer durch den Weinberg bis nach Höngg.
Im Schulhaus trafen wir Rolf, damals gerade Zweitklässler geworden, auf dem Weg zum Pausenplatz. Im Kindergarten hatte er mit Felicitas ein gemeinsames Jahr erlebt. Er grüsste uns und wünschte ihr einen schönen Frühlingsanfang. Damals begann das Schuljahr noch im April. Es war ein aussergewöhnlicher Glückwunsch, an den ich mich gern erinnere. Mittlerweile ist Rolf ein einfühlsamer Arzt geworden.
Und wie war der weit zurückliegende Schuleintritt für uns Eltern, als wir Erstklässler waren? Primo kann sich nicht an den ersten Schultag erinnern. Aber daran, dass ein Polizist an der Wohnungstür erschien und sich nach seiner Schulreife erkundigte. Was da mit der Mutter genau besprochen werden musste, verstand er nicht. Er hatte aber die Tür geöffnet, als es läutete und stand dann verwundert vor dem uniformierten Mann. Offenbar wurde damals der Polizei die Aufgabe übertragen, den Familien ausländischer Herkunft den anstehenden Schuleintritt im Gespräch zu erklären. Primos Vater besass damals noch den italienischen Pass.
Und mein Schuleintritt? Was mich selbst betrifft, daran erinnere ich mich gut. Die Ankunft im Schulhaus. Mutter begleitete mich. Das eher dunkle Treppenhaus. Die offene Tür zu einem Schulzimmer. Davor ein Mann, der uns begrüsste. Er hielt jedem Kind einen schwarzen Zylinder hin. Darin lagen auf gefalteten Zetteln die Namen von 2 Primarlehrern. Einen solchen durften wir ziehen. Und somit unser Los oder Schicksal selber bestimmen. Noch immer bin ich begeistert von diesem Empfang. Dass uns diese Freude geschenkt wurde. Es hat mit einer Spur vermeintlicher Selbstbestimmung zu tun und die begleitet mich ein Leben lang. Auch wenn die Wahl nach einem bestimmten Lehrer nicht möglich war, wir durften das Los selber ziehen. Die Mutter öffnete das Papier und las mir den Namen vor. Sie wusste, dass es ein sehr guter Lehrer sei. So habe ich ihn dann auch erlebt.
In Wald, Kanton Zürich, im Schulhaus Binzholz, wurden zu meiner Zeit noch Doppelklassen geführt. Derselbe Lehrer unterrichtete 2 Klassen abwechselnd im selben Zimmer. Während die eine Hälfte schriftliche Arbeiten erledigte, wurde die andere mündlich geschult. Ich fühlte mich wohl, ging gern zur Schule. Gut gefallen hat mir auch der Schulweg. Ich wurde öfters gescholten, weil ich viel zu spät heimkam. Besonders im Winter, wenn wir zeitvergessen im Schnee über Abhänge rutschten.
In der Stadt sieht ein Schulweg ganz anders aus. Letizia erlebte ihn 2 Jahre im Taxi. Der Kindergarten in der Nähe unseres Wohnortes wurde aufgehoben und die wenigen Kinder, die es hier gab, im Auto zum Kindergarten ins Nachbarquartier gefahren. Der Treffpunkt für die Abfahrt war unsere Haustür. Ich hatte dafür zu sorgen, dass alle zur rechten Zeit hier starten konnten. Es entstand eine dicke Freundschaft unter diesen 5 Mädchen. Eine Westschweizerin, ein Bernermeitschi, eine Italienerin, eine Spanierin und unsere Letizia, die Zürcherin. Für manchen Taxi-Chauffeur wurden diese lebenslustigen Mädchen zur Nervensäge. Einer fuhr einmal vor den Polizeiposten und rief einen Polizisten heraus, dass er ihnen beibringe, was sich gehöre: Ruhe während der Fahrt.
Und in Paris fahren Mena und Nora mit der Metro zur Schule. Mena hat mir kürzlich beim Skypen jene Schachtel gezeigt, in der sie die Metrotickets ihrer bisherigen Primarschulzeit aufbewahrt. Seit 4 Jahren sammelt und bündelt sie diese zu 10er-Päckli. Eindrücklich. So kann ein Schulweg auch dargestellt werden.
Nun beginnt eine neue Ära. Erstmals wurde ein unlimitiertes Metroabonnement auch für Primarschüler zum Kauf angeboten. Der „Pass-Navigo“. Musste früher an der Schranke für jede Fahrt ein einzelnes Billett in den Automaten gesteckt werden, genügt heute der digitale Pass, damit sich der Durchgang öffnet. Die Kinder sind stolz darauf.
Schon früher hatte ich die Gewissheit, dass ich mit den eigenen Kindern zusammen auch ein Stück persönliche Jugend ergänzend miterlebe. Und ähnlich vollzieht sich nun das Aufwachsen der Enkelinnen und ihr Einfluss auf mich. Sie verbinden mich mit dem aktuellen, modernen Leben. Sie tragen die Zukunft in sich, und das färbt ab, auch wenn sie weit weg von uns aufwachsen.
Geschichten von Rita Lorenzetti-Hess aus Zürich-Altstetten und
Archiv sämtlicher Blog-Beiträge aus der Zeit beim Textatelier Hess von Biberstein
Montag, 24. September 2012
Samstag, 8. September 2012
Zürcher Knabenschiessen: Einst das Fest der Stadtheiligen
In seiner Eigenart ist das Knabenschiessen das grösste Volksfest
von Zürich. Bis zur Reformation feierte man jeweils am 11. September die
Stadtheiligen Felix und Regula festlich religiös und
selbstverständlich auch ausgelassen fröhlich. Überlebt hat vor allem
diese zweite Seite. Die religiöse wurde durch einen Schiesswettkampf für
Knaben ersetzt. Seit 1991 sind auch Mädchen zum Wettschiessen mit einem
modernen Gewehr zugelassen, und letztes Jahr wurde eines von ihnen
Schützenkönigin.
Das Festgelände befindet sich am Fuss des Uetlibergs. Über die
Strecke einer Tramstation hinweg ist die Strasse jeweils beidseitig mit
Marktständen gesäumt, und oben im Albisgüetli breitet sich ein
gigantischer Rummelplatz aus. Jedes Jahr erscheinen mir die
Vergnügungsbahnen raffinierter, verrückter. Letztes Jahr besuchten über
850 000 Personen dieses beliebte Volksfest. In diesem Jahr 2012 findet
das Knabenschiessen vom 8. bis 10. September statt.
Das Riesenrad im Albisgüetli mag ich noch zu verkraften. Die Ruhe
der Drehungen sind angenehm und bei entsprechendem Wetter ist die
Rundsicht über den See und zu Alpen hin einmalig.
Primo liebt diese Jahrmarktatmosphäre ganz besonders, und er
hat meist einen Grund, dass wir uns diesem Rummel aussetzen. Es sind
die Angebote an den Marktständen, die ihn interessieren, und er hört den
Marktschreiern extrem gern zu. Und wenn ich mitgehe, bin ich ebenfalls
neugierig und lasse mich vom Sog dieses Festes treiben. Die Gemüseraffel
stammt beispielsweise immer vom Knabenschiessen, auch wenn wir eine
solche ebenso gut in einem Warenhaus kaufen könnten. Dann finden wir
dort wackere Taschentücher aus Textilien, die andernorts schon längst
verschwunden sind.
Die allgemeinen Warenmarktangebote empfinde ich heute nicht mehr so
individuell wie einst. Als unsere Kinder klein waren, besuchten wir
jeweils einen bestimmten Stand, an dem von Hand gefertigte, auch
gestrickte Puppenkleider angeboten wurden. Ein Eldorado für unsere
Mädchen. Einmal konnte ich an einem Stand eine rein wollene Stoffjacke
aus Katmandu kaufen, wie ich solche danach nie mehr gesehen habe. Die
modernen, synthetisierten Materialien haben die Stoffe aus Naturfasern
verdrängt. Auf allen Warenmärkten finden wir heute billige Massenware,
wie sie über Kontinente hinweg verstreut wird. Eine der Ausnahmen ist im
Albisgüetli zu finden: Die Hemden aus dem Märithüsli von Ballenberg.
Zu diesem Fest gehören traditionell die Zuckerwatte, der türkische
Honig, das Magenbrot und die Bratwurst. In neuerer Zeit werden auch
Pouletschenkel angeboten und vom Wallis wurde das Raclette
(geschmolzener Käse) übernommen. Aus dem Tessin oder von Italien
inspiriert, wird Risotto angepriesen. Frisch gepresstem Süssmost aus
Äpfeln und Birnen wird gern zugesprochen. Früher schauten wir immer nach
den ersten Trauben aus Italien aus. Wir mögen die markanten Zeichen zu
den Jahreszeiten. Diese sind heute aber mehrheitlich verwischt.
Für unsere Familie war auch das gelbe Postauto ein Magnet, das
abseits des Schützenhauses seinen festen Platz hatte. Alle Briefe und
Postkarten, die dort aufgegeben wurden, bekamen den
Knabenschiessen-Sonderstempel. Die schnelle E-Post hat diesen schönen
Brauch leider sterben lassen.
Primo erinnert sich immer auch noch an menschliche Raritäten, wie
er sagt. Extrem kleinwüchsige oder extrem dicke Personen fanden ihr
Auskommen, indem sie sich ausstellten. Man konnte sie im Zelt besuchen,
sie ansehen, sogar berühren. Die dicke Berta etwa war vor 65 Jahren ein
Begriff. Ich habe sie nie gesehen.
Letztes Jahr schlenderte Primo mit Letizia ausschliesslich
in dieser Gauklerwelt umher. Sie erzählte mir später, dass er unerwartet
auf eine Schiessbude zuging. Er wolle mir eine Rose heimbringen. Sie
schilderte mir, was dann abgelaufen sei. „Er setzte die Brille auf,
nahm das Gewehr in die Hand. Die Dame, die es ihm überreicht hatte,
schaute ihn eher mitleidig an. Der alte Mann da? Ein Schuss. Die
Manschette war durchbrochen, die Rose gewonnen. Für nur Fr. 1.–. Er
verblüffte alle.“ Und heute wundert er sich immer noch, wie ihm das gelang.
Rückschau in die Geschichte von Felix und Regula
Im Albisgüetli-Rummel denkt wohl niemand mehr an die Stadtheiligen.
Ihre Geschichte ist von diesem Fest abgetrennt, aber immer noch
auffindbar, z. B. in der Wasserkirche und in vielen Texten und Büchern.
Das Geschwisterpaar Felix und Regula erlitt in Turicum, dem
heutigen Zürich, das Martyrium. Nach der Überlieferung waren die beiden
Angehörige einer römischen Militäreinheit aus dem ägyptischen Theben,
der im Wallis stationierten Thebäischen Legion. Wegen ihres christlichen Glaubens erlitten auf Befehl von Kaiser Maximilian
in Verolliez im Kanton Wallis 6600 Soldaten den Märtyrertod. Sie hatten
sich geweigert, an Christenverfolgungen teilzunehmen. Ihr Anführer Mauritius
soll Felix und Regula und einigen Gefährten zur Flucht verholfen haben.
Sie flohen über die Furka, durch das Urnerland nach Glarus und
erreichten schliesslich Turicum, wurden aber von Häschern eingeholt und
ebenfalls enthauptet. Nach der Legende sollen die Getöteten ihre
abgeschlagenen Häupter an sich genommen und bergan an den Ort ihrer
Grabstätten getragen haben. Dort wurde später das Grossmünster erbaut.
Im 13. Jahrhundert wurde diese Legende noch mit einem dritten Märtyrer, dem „Diener“ Exuperantius, ergänzt. – Im Siegel der Stadt Zürich sind die 3 Geköpften als Stadtheilige von Zürich verewigt.
Die damalige Stadträtin Ursula Koch schrieb 1988 im Vorwort
zum Buch „Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula“*, dass die
Reformation mit den Zeugen der Zürcher Stadtheiligen unerbittlich
aufgeräumt habe, aber:
"Die Legende schaffte sie allerdings nicht aus der Welt. Würden
die Häupter noch in der Pfarrkirche Andermatt aufbewahrt, wohin sie ein
frommer Auswärtiger in aller Heimlichkeit hingebracht haben soll? Die
Vergangenheit wird man nicht einfach los, dies belegt auch das Zürcher
Staatssiegel, auf welchem noch heute die kopftragenden Märtyrer
abgebildet sind."
Ihre Reliquien müssen nun nicht mehr versteckt werden. Wir haben sie bei einem Besuch im Sommer 2011 in Andermatt in der Pfarrkirche Sankt Peter und Paul je auf dem linken und rechten Seitenaltar sofort erkannt.
Und im Wallis, in der Abtei von Saint Maurice, haben
wir erfahren, dass jedes Jahr hunderte von Afrikanern, die in der
Schweiz leben, hierher reisen, um ihren Mauritius zu feiern. Er sei der
erste schwarze Heilige. Auch er starb den Märtyrertod und wird seither
als Heiliger verehrt. Die Abtei und der ihn umgebende Ort tragen seinen
Namen in französischer Sprache: Saint Maurice.
In Zürich kann in der Wasserkirche die Krypta besucht werden. Es
ist der Ort, wo im Mittelalter die Hinrichtungsstätte der Stadtheiligen
Felix und Regula verehrt wurde. 1940/41 fanden hier umfassende
archäologische Ausgrabungen statt, die besichtigt werden können. Es
lohnt sich, hier vor den aufgebrochenen Mauern und dem Märtyrerstein zu
verweilen und über die Texte, die in diesem Raum zu lesen sind, etwas zu
sinnieren.
Speziell angesprochen hat mich der folgende:
"Hat es Felix und Regula gegeben?"
Die Wissenschaft stellt diese Frage schon lange. Man sieht heute
eher eine religiöse oder „fromme“ Dichtung aus der Zeit ihrer
Niederschrift. Dennoch ist nie auszuschliessen, dass sich nicht doch
eine historische Wahrheit dahinter verbirgt."
*
* Das Buch „Die Zürcher Stadtheiligen Felix und Regula“ wurde 1988 vom Hochbauamt der Stadt Zürich/Büro für Archäologie, herausgegeben. Zeitgleich fand im Landesmuseum Zürich
eine Ausstellung über die Stadtheiligen statt. Es wurden
Erinnerungsstücke, die vor der Reformation zum Kirchenschatz
verschiedener Gotteshäuser gehört haben, ausgestellt.
Dienstag, 4. September 2012
Besucher aus Bolivien erkennt seine Schweiz nicht mehr
Obwohl an meinem Wohnort am Stadtrand von Zürich viele
Mehrfamilienhäuser stehen, haftet ihm immer noch etwas Ländliches an. So
wirkte er auf mich, als ich zur Zeit der Wohnungssuche hier erstmals
ankam. Und so ist es geblieben.
Auch unsere Busstation „Rautihalde“ ist ein ruhiger Ort. Passanten
gibt es keine. Es kommen nur Leute hierher, die mit dem Bus wegfahren
wollen. Wer aber dort ankommt, grüsst die bereits Anwesenden, auch wenn
wir uns nicht persönlich kennen. Und manchmal entsteht auch ein
Gespräch.
Heute Morgen war ich die erste, die sich auf die Bank setzte. Bald
danach kam ein Mann mittleren Alters an. Und dieser begann sofort zu
reden. „Schlecht Wetter?“ war seine Frage. Es hatte geregnet. Ob es mich störe. Nein. Zur Natur gehöre doch ein normales Auf und Ab. „Nicht, wie wenn der Mann zu Hause ist?“
fragte er weiter. Ich hätte nichts zu beklagen. Später dachte ich über
dieses Gespräch, dass der Mann den Puls fühlen wollte. Wie zufrieden die
Menschen hier seien. Es stellte sich heraus, dass er vor 23 Jahren nach
Bolivien ausgewandert und nun in seine Heimat zurückgekommen ist. Und
jetzt gefällt sie ihm nicht mehr.
Er berichtete über seine Eindrücke aus Gesprächen mit jungen
Menschen jetzt in Zürich. Dass hier der Egoismus weit verbreitet sei.
Nur das persönliche Weiterkommen wichtig. Aus allem einen Gewinn ziehen.
Mangelndes Mitgefühl. Dann beklagte er die Unordnung an allen Tram- und
Busstationen. Dass die Zigaretten vor dem Einsteigen einfach fallen
gelassen werden.
Ja, in dieser letzten Aussage stimmte ich zu. Auch mich stört das.
Aber vor allem darum, weil Ertappte immer sagen, es existierten ja
Reinigungsteams von ERZ (Entsorgung und Recycling Zürich), und diese
würden entlöhnt. Für mich ist solches Verhalten frühkindlich. Als
Kleinkind lässt man alles irgendwann fallen, weil der Ordnungssinn noch
nicht entwickelt ist.
Als der Bus, den ich benützen wollte vorfuhr, rief er mir noch nach: „Ich gehe vermutlich wieder zurück.“
Das Gespräch hatte nicht lange dauern können. Jetzt würde ich ihn
noch fragen, wie das Leben in Bolivien gewesen und warum er
zurückgekehrt sei. Und was er denn hier erwartet habe. Seine Welt von
damals? – 23 Jahre sind eine lange Zeit. Äusserer und innerer Wandel,
gewiss auch in der Fremde enorm.
Ich kann mir vorstellen, dass Zürich nach 23 Jahren Abwesenheit vom
Erscheinungsbild her als fremde Stadt wahrgenommen wird. Und wie die
Reaktionen zeigen, hatte der Zurückgekehrte sofort auch einen inneren
Wandel festgestellt. Und dieser scheint ihm nicht zu gefallen. Auch für
uns war und ist er herausfordernd.
Noch immer ist uns eine saubere Stadt lieb, aber nicht alle hier Ansässigen sind bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die Situation von 1958,
als ich mich für mein Stagiaire-Jahr in Paris vorbereitete. Ich wurde
aufmerksam gemacht, dass in Frankreich manches nicht so ordentlich sei
wie bei uns in der Schweiz. Mein Lehrmeister wies sogar daraufhin, dass
die Züge aus Frankreich, wenn sie in Basel eingetroffen seien,
abgespritzt, also gewaschen würden, bevor sie ins Landesinnere
weiterreisten. Ich solle nur darauf achten, werde es erleben.
Solange wir in unseren Grenzen lebten und nicht viel reisen
konnten, nicht viel über unsere Nachbarn wussten, wurde die
schweizerische Ordnung als eine unserer grossen Stärken und eine Art
Auszeichnung gepriesen. Wir waren damals entsprechend kontrolliert und
wurden rasch zurechtgewiesen, wenn festgeschriebene Ordnungen nicht
eingehalten wurden. Es gab überall „Tüpflischiisser“ (Pedanten),
die einen zurechtwiesen. Aber sobald die 68er-Bewegung diese
Überheblichkeit als Scheinheiligkeit entlarvte und mehr Lebensfreude
aufbrechen konnte, entwickelte sich auch hier in der Schweiz mehr
Légèreté (Leichtigkeit, Ungezwungenheit). Und die Einsicht wuchs, dass
wir nicht besser sind als andere.
Interessant ist aber, dass die Schweiz, astrologisch gesehen, vom
Tierkreiszeichen „Jungfrau“ beeinflusst ist*. Die Verfassung vom
12.09.1848, 11.12 h, Bern, als Grundlage für die heutige
Bundesverfassung ist ihr Geburtstag. Unter diesem Einfluss stehen alle
Einwohner der Schweiz.
Da sind die Qualitäten wie Ordnung, Reinlichkeit, Detailtreue,
Präzision, Kontrolle, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Vorsorge, Sicherheit,
Versicherungen und auch Gesundheitsbewusstsein wichtige Bereiche, mit
denen hier erfolgreich gearbeitet wird.
Kein Wunder, dass in den Primar- und Sekundarschulen von einst im
Zeugnis auch „Ordnung und Reinlichkeit“ bewertet wurden. In meiner
Herkunftsfamilie wurde diese Rubrik ebenso gewichtet wie die Noten für
die einzelnen Fächer. Wie die Zeugnisse von heute aussehen, weiss ich
nicht.
Und die Wandlungen, die wir in den letzten 23 Jahren durchgemacht
haben? Wir können sie rückblickend gar nicht mehr exakt beschreiben. Sie
vollzogen sich stetig, manchmal leise, öfters auch mit Paukenschlag.
Und sie kümmerten sich nicht darum, ob sie uns passten oder nicht. Der
Mann aus Bolivien aber, er erlebte bei seiner Rückkehr die Veränderungen
unmittelbar.
*Quelle: Cortex Astrologischer Computer Service, Adliswil.
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