Mittwoch, 14. September 2011

Paris (5): Orte mit Erinnerungen wieder aufleben lassen

Nach der Ankunft waren es die Gerüche, die mir sofort signalisierten, Paris sei immer noch Paris. Ich ging durch die Strassen und fühlte mich wie von einem Erinnerungsgewebe aufgefangen. Daheim.
 
Und hier war einmal die Fremde. So nannte man früher das Ausland. Ich hatte Heimweh, weil eben alles fremd war. Die Ordnungen, die Namen, die Beschriftungen, die Sprache, die Menschen.
 
Als ich 1958 hier erstmals ankam, befüchteten viele Franzosen, dass ein Bürgerkrieg ausbreche. Es war die Zeit, als die 4. Republik aufgelöst wurde und General Charles de Gaulle eine neue Verfassung durchsetzte, mit der dann die 5. Republik begründet wurde.
 
Wegen dieser politischen Turbulenzen schickte mich der Chef der Pariser Filiale eines Schweizer Verlages nach Zürich zurück. Er wollte für mich keine Verantwortung übernehmen, weil ich noch nicht volljährig war. So kam ich zum ersten Swissair-Flug.
 
Nach etwa 6 Wochen hatte sich die Lage beruhigt. Ich konnte meine Stelle als Stagiaire wieder aufnehmen. Das war dann ein Neustart wie im Computer. Und er gelang. Ohne Heimweh. Schon damals kam ich bei der 2. Ankunft heim.
 
Paris war aber dazumal noch nicht die heiter strahlende Stadt. Wohl standen schon damals die imposanten Prachtbauten, aber sie waren grau, beinahe schwarz. Der Russ vom Heizen mit Kohle hing schwer an den Mauern. Erst nach 1970 begegnete ich der erfrischten, herausgeputzten Stadt. Das war sehr eindrücklich. Jetzt wirkte sie weiss.
 
Beim neuerlichen Aufenthalt besuchten wir La Défense/Die Verteidigung, die gegenwärtig grösste und höchste Bürostadt Europas. Dieser Ort befindet sich nicht mehr auf Pariser Boden, dehnt aber die Weltstadt gleichwohl aus. Der Name erinnert an den deutsch-französischen Krieg von 1870 und ein eindrückliches Denkmal ehrt die Soldaten, die hier die Stadt verteidigten.
 
Auf einem Gelände ist eine 1,2 km lange und 250 m breite Fussgängerzone geschaffen worden. Eingerahmt von Banken, Versicherungen, Hotels, Geschäfts- und Kongresszentren. Futuristisch die Architektur. Hier verweilten wir, bestaunten einen Morgen lang die baulichen Verrücktheiten. Alle Gebäude scheinen die Nachbarbauten in Bezug auf Originalität zu übertrumpfen. Da, wo Normalsterbliche Einlass finden – in Warenhäusern, Spezialgeschäften und Selbstbedienungsgaststätten­, wirkte die Fülle und der Reichtum auf uns eher abweisend, des Guten zu viel. Aber gut gegessen haben wir hier.
 
Als wir uns um 12 Uhr auf einer Steinbank ausruhten, hörten wir eine Kirchenglocke läuten. Eine katholische Kirche gibt es hier auch. Über einer Buchhandlung mit interessantem und vielfältigen Angebot, befindet sich – über eine Treppe erreichbar – die Kirche Notre Dame de Pentecôte. Erstaunt, dass es eine solche in der Zukunftsstadt auch gibt, haben wir sie besucht. Ein wirklich geistiger Raum nimmt hier die Menschen auf. In einer Schrift dazu konnten wir lesen:
 
„In der zeitgenössischen Umwelt des Geschäfts- und Bürozentrums der Défense hat Notre Dame de Pentecôte (Maria, Mutter Gottes von Pfingsten) als Haus der Christen seinen Platz." Das ist erstaunlich für einen laizistischen Staat und doch wieder nicht, denn in keiner europäischen Stadt sind die Heiligen so zahlreich auf Strassenschildern verewigt wie hier. Schon vor Jahrzehnten hat mich diese geschichtlich begründete Tatsache dazu angeregt, einmal alle Strassennamen, die an Heilige erinnern, zu zählen. Es sind etwas mehr als 120.
 
Die bronzene Madonna wurde von einem französischen Künstler Namens Etienne geschaffen. Es ist ein modernes, abstraktes Werk, das nichts Weglassbares mehr an sich hat. Reduziert auf das Wesentliche. Ein Frauenantlitz ohne Körper, mit geschlossenen Augen, verinnerlicht, mit goldener Aura und frei schwebenden Händen, die Feuerzungen auffangen. Die Darstellung von etwas Geistigem. Etwas ganz Neues. Ein Wurf.
 
Später, während der einstündigen Fahrt ab Gare Montparnasse nach Dreux öffnete sich gleich zu Beginn der Reise ein weites Blickfeld zur Défense hin. Diese Sicht hatte uns noch gefehlt. Am Tag zuvor waren wir die kleinen Menschen, die zu den gigantischen Bauten aufschauten und die auf der Anhöhe unter dem neuesten Triumphbogen vom Sturmwind beinahe fortgetragen wurden. Und jetzt, am Tag danach, zeigte sich die ganze Skyline in einer Gesamtübersicht. Vom Eiffelturm bis zur Grand Arche hin. Ein geschenkter Augenblick, eine beeindruckende Schau. Sie mag keine Minute gedauert haben, prägte sich aber ein.


Die Reise nach Dreux wünschte ich mir, um ein weit zurückliegendes Erlebnis aufzufrischen. Um die Kirche Saint Pierre nochmals zu besuchen. Als ich in Paris lebte, wohnte ich bei einer alten Dame, die im Umfeld der mittelalterlichen Stadt Dreux ein Landhaus besass. Dorthin wurde ich manchmal für ein Wochenende eingeladen. An einem Sonntagmorgen überliess mir Madame ihr Fahrrad für den 6 km langen Weg zur Kirche. Sie verlangte, dass ich ihr Velo mit in den Kirchenraum nehme und es dort abstelle, damit es nicht gestohlen werde. Unmöglich für mich. So etwas war eine Zumutung. Wo ich es dann abstellte, weiss ich nicht mehr. Es wartete jedenfalls auf mich.
 
Die Kirche war noch geschlossen, als wir in Dreux ankamen, und da Bauleute mit Reparaturarbeiten an den Mauern beschäftigt waren, befürchtete ich, dass man sie gar nicht betreten dürfe. Nach der Mittagssiesta aber waren die Tore offen. In der Zwischenzeit hatte wir auf der Anhöhe die Chapelle Royale, die Kapelle mit den Königsgräbern besucht. Von der tiefsten Stelle der Stadt wird die Kuppel wie eine Königskrone wahrgenommen. Diesen Ort kenne ich ebenfalls dank meiner Schlummermutter. Ähnlich wie bei den Etruskern sind die verstorbenen Könige auch hier in Stein verewigt, ruhen auf ihrem Sarg. Und ebenso erscheinen die steinernen Figuren sehr lebendig. Der liebevoll gepflegte Park, in dem sich die Nekropole befindet, bietet einen weiten Blick auf die Stadt, auf ihre alten Dächer, aber auch über das moderne Dreux und die Landschaft, in die es eingebettet ist.

Den Altstadtkern habe ich beinahe nicht mehr erkannt. An die Farben der alten Häuser konnte ich mich nicht erinnern. Mehr oder weniger alle erscheinen jetzt in neuem Glanz und in einer bezaubernden Frische. Es ist ein mittelalterlicher Ort. Die niedrigen Häuser lehnen aneinander. Manche sind etwas schief. Zusammen gestalten sie lebendige Strassen und Gassen. Hier fühlten wir uns gut. Dreux ist, auch wegen seiner schönen Repräsentationsbauten und Türmen ein liebenswürdiger Ort, der beweist, dass es Bilderbuchstädte gibt.
Auf dem Hauptplatz stand ein Karussell, die Manège, der Traum aller Kinder. Ich beobachtete Väter und Mütter, die den Kindern eine Fahrt spendierten und ihnen im voraus erklärten, es gebe nur eine einzige Tour. „Oui, oui!“ riefen sie zustimmend; doch als ihre Runden beendet waren, quengelten alle und wollten noch eine und noch eine Fahrt.

Dann der Besuch bei Saint Pierre. Diese mittelalterliche Kirche, die ich in jungen Jahren mit einer Kathedrale verglich, muss viel erlebt haben, wurde im Krieg möglicherweise bombardiert. Dem rechten Turm fehlt nicht nur der Hut. Es ist ihm ein ganzes Stück Bausubstanz messerscharf amputiert worden. Im Innern ist sie unversehrt, durfte sich selber bleiben. Ich erkannte sie sogleich wieder. Ihren Baustil, der noch Züge der Romanik trägt und doch schon der Gotik verpflichtet sein will. Mit ihrem runden Chorumgang für Prozessionen. Dann die für Frankreich typischen Kirchenstühle mit den geflochtenen Sitzflächen. Der Raum erschien anfänglich dunkel, weil wir aus dem Sonnenlicht kamen. Um so mehr strahlten die Farben der ehrwürdig alten Kirchenfenster in den nicht künstlich erleuchteten Raum und warfen farbige Abbilder auf den Boden. Das Klima erfrischte uns. Es war gut durchlüftet. Die Tore standen weit offen. Wir fühlten uns willkommen. Berührt hat uns der sphärische Klang eines leisen Choralgesanges ab Band. Von den Schwingungen angetrieben, erzählten die Steine von ihrer Geschichte, von ihrem Alter und von all dem, was sich hier drinnen im Laufe von Jahrhunderten ereignet hat. Und sie bewegten auch uns. Es war ein ergreifendes Wiedersehen.
 
Wieder draussen, kam Primo auf meine Velogeschichte zurück. Schmunzelnd sagte er: „Im hinteren Bereich, beim Beichtstuhl, hätte es Platz gehabt. "