Samstag, 16. Juli 2011

Martigny: Die Rhône beugt das Knie oder den Ellbogen

Eine Erinnerung, die mich immer noch umtreibt. In der Primarschule erfuhr ich, dass der Fluss mit dem Namen Rhône im Umfeld von Martigny VS einen abrupten Richtungswechsel vollziehe. Anfänglich in der Richtung von Ost nach West fliessend, verlangt hier die Topographie einen Richtungswechsel nach Norden. Der Lehrer zeigte uns die markante Biegung auf einer grossen Landkarte. Er sprach von etwas Aussergewöhnlichem. Darum blieb es in mir haften. Vor allem auch wegen der Bezeichnung, die man diesem Ort gegeben hat: Rhôneknie.
 
Ich war schon etliche Jahre verheiratet, als wir auf einer Ferienreise in Martigny anhielten und versuchten, das Naturwunder zu sehen. Jahre später fuhren wir mit den Velos ab Oberwald im Goms durch das Rhônetal und machten selbstverständlich wieder Halt im Umfeld der einst römischen Stadt. Von Saillon und Fully herkommend, auf derselben rechten Flussseite wie beim ersten Besuch.
Und jetzt, das dritte Mal, fanden wir die Mitte dieses Naturphänomens, näher geht es nicht mehr.
 
Das Rhôneknie ist kein touristischer Ort, also still, geheimnisvoll, eine Überraschung, wenn er gefunden wird.
 
Diesmal verwischte die neue Zufahrt zur Autobahn unsere Erinnerung. Wir mussten den Weg zuerst suchen. Den markanten Taleinschnitt Richtung Genfersee vor Augen, gingen wir vorwärts. Wir kamen an einer grossen Aprikosenplantage vorbei und folgten der Pappelallee, einer Art Spalier für die dahinter kanalisierte La Dranse. Da wussten wir noch nicht, dass ihr Wasser in die Rhône mündet und dass wir den Zusammenfluss bald sehen würden.
 
Unser Fussweg führte uns unter der Autobahnbrücke hindurch und danach auf einem breiten Wanderweg auf der linken Flussseite weiter. Von weit her schon sah Primo weisses Wasser als eine Strömung quer zur La Dranse fliessen und ortete dort die Rhône, die wir suchten. Sie schien sich zu verstecken. Erst später bemerkten wir, dass wir die wild verwachsene Flussbettmauer als einen Ausläufer des Waldes am dahinterliegenden Abhang verstanden hatten. Sie ist von Gras, Bäumen und Sträuchern wild überwachsen und schirmte aus unserem Blickwinkel den Raum der Rhône ab. Je näher ich dem Zusammenfluss der beiden Wasser kam, desto mehr freute ich mich. Es bewegt mich jedes Mal, wenn ich an Orten stehe, wo sich Wasser vereinen. Hier treffen die milchig-weisse Rhône, die sich aus dem Rhônegletscher im äussersten Nordosten des Kantons Wallis ergiesst, mit dem Gebirgswasser aus drei Flüssen, der Dranse d'Entremont vom Col du Grand Saint Bernard, der Dranse de Bagne und der Dranse de Ferret zusammen.
Eine Zugabe für uns, schon bevor wir unser angestrebtes Ziel erreicht hatten. Ein Ort mit wohltätiger Energie, mit feinsten Schwingungen. Die Freude war mir ins Gesicht geschrieben, wie ich später aus Fotos lesen konnte. La Dranse führte wenig Wasser. Wir konnten in ihr Bett steigen und angeschwemmte Steine bewundern. Sie lagen in feinem, schillerndem Sand. Mit farbigen Adern, Mustern und Gesichtern, keines dem Anderen gleich. Aber alle beflügelten unsere Fantasie. Mitten im Flussbett lagen mächtige Gesteinsbrocken, und das Wasser sauste über sie hinab. In diesem Geröll hatte sich ein dünner, aber knorriger Baumast verfangen. Es sah aus, als würde hier gerade ein Kranich vorüberziehen. Er und die grossen Steine gaben dem begradigten Fluss mit seinen strengen Mauern etwas Liebliches zurück.
 
Und da lag auch ein Stück trockene Baumrinde, die zum Spielen animierte. Primo brach sie in 3 Teile. Wir warfen 2 von ihnen ins Wasser und schauten zu, wie sie sich forttragen liessen. Beide gaben sich den Strömen offensichtlich lustvoll hin. Locker wurde der Übergang vom einen ins andere Wasser geschafft. Dann ging die Reise auf der reissenden Rhône stürmisch weiter. Der dritten Borke verpasste Primo mit dem Sackmesser einen dünnen Ast und machte sie zu einem Segelschiff. Auch dieses wollte ebenfalls verreisen, eiferte den vorangegangen nach. Ich konnte es noch fotografieren, dann kenterte es, ging aber nicht unter. Solche Spiele haben oft etwas Magisches an sich, weil wir sie mit Fragen behängen. Hier unsere Lebensschiffe, haben sie noch einen weiten Weg vor sich oder gehen sie bald unter ...?


Wir blieben lange an diesem Ort, schauten auch auf das Wasser, wie es sich kräuselte, weil der bekannte Rhônetalwind vom Genfersee her den Fluss manchmal rückwärts schicken will. Ein Kräftespiel zwischen Luft und Wasser. Meine Haare standen zu Berge. Dieser Wind ist unerbittlich, frischt aber auf. Wir kennen ihn gut, hatten ihn auf der erwähnten Velotour als Gegenwind erlebt.
 
Nach diesem schönen Aufenthalt überquerten wir die Fussgängerbrücke über La Dranse, und schon waren wir am Rhôneufer angekommen. Jetzt wurden die Zusammenhänge klar. Von hier aus liefen wir wie der Wind dem Fluss entgegen. Konnten zuschauen, wie er um die Ecke pfeilt, wie sein Wasser diese hier erzwungene Biegung vollzieht. Sehr schwungvoll. Mit Lebensfreude vergleichbar. Und doch auch sich ins Unabänderliche fügend. Der Halt, den der pyramidenähnliche Berg bis hieher geben konnte, ist plötzlich verschwunden, ins Nichts aufgelöst. Doch nach dem Ausflippen in die Kurve kommt der Fluss zum Berg zurück, schmiegt sich erneut an ihn, jetzt einfach an einer anderen Seite.
 
Eine Geschichte von Jahrmillionen, stelle ich mir vor. Was sich hier alles vollzogen hat und was Menschen dazu beigetragen haben, dass wir die Rhône heute so sehen können, wie eben beschrieben, das weiss ich nicht.
Ich hatte mich schon gewundert, dass wir nirgends einen Hinweis auf dieses Naturereignis entdeckt hatten. Doch zum Finale unseres Besuches wurde er uns noch vorgesetzt. Am hölzernen Elektromast fanden sich zwei gelbe Wanderwegtafeln, je nach links und rechts weisend, um das ganze Umfeld einzubeziehen. Dazu die Angabe Coude du Rhône 460 M. Und da befanden wir uns erstmals im Herzen oder in der Mitte des Rhôneknies. Als ich die Tafel mit der Ortsbezeichnung fotografiert hatte, gab der Fotoapparat den Geist auf. Für alle hatte sich etwas vollendet.
 
Das Rhôneknie befindet sich in jenem Teil des Kantons Wallis, in dem französisch gesprochen wird. Dort reden sie vom coude (Ellbogen) und wir in der Deutschschweiz vom Knie der Rhône.

Donnerstag, 7. Juli 2011

Die SBB führen uns vom Ticketbezug am Schalter weg

Wir standen in der Schlange am SBB-Schalter in Zürich-Altstetten. 5 Personen. Anstatt einen 2. Schalter zu öffnen, kam eine Mitarbeiterin zu uns Wartenden hin und befragte jede Person nach ihren Wünschen. Die vor mir stehenden Männer und Frauen brauchten eine persönliche Beratung. Ich wurde gebeten, zu den Automaten ins Freie mitzukommen. Ich benötigte ZVV-Mehrfahrtenkarten, ebenso solche für den 9-Uhr-Pass.
 
Diese könnten auch am Automaten bezogen werden, erfuhr ich. Das wusste ich noch nicht. Die versierte SBB-Mitarbeiterin tippte meine Wünsche schnell in die Tasten, doch der Kasten akzeptierte meine Postcard nicht. Wir wechselten an einen anderen Apparat, und dort waren die Fahrkarten dann erhältlich. Die SBB-Mitarbeiterin hatte mir zwar jeden Schritt erklärt, damit ich mir die Abfolge einprägen könne, doch mir ging das alles viel zu schnell.
 
Ich empfand es in diesem Augenblick als eine Zumutung, dass man auch Kunden im Pensionsalter keine Billette mehr am Schalter verkaufen will. Das sprach ich auch aus. Vor dem Reiseantritt wolle ich keine Aufregungen mit Automaten. Sie hätte jetzt selber erlebt, dass die erste Variante nicht funktioniert habe, fügte ich bei.
 
Sie regte an, hier immer wieder zu üben. Dieser grundsätzlich richtige Rat überzeugte mich aber nicht. Hier ist so viel Leben. Die Automaten sind meistens besetzt. Wie kann ich da gemütlich üben? Die Unruhe um mich herum würde mich sofort bedrängen. Als ich diese Situation schilderte, meinte sie lakonisch: „Kommen sie doch am Sonntagmorgen, wenn die jungen Leute ausschlafen. Dann ist es hier ruhig.“ Dieses Gespräch fand im April 2011 statt. Seither habe ich da und dort von dieser Erfahrung erzählt, und immer hiess es eindringlich: Beschreibe das! Du musst das machen. Und dieser Rat für den Sonntagmorgen, hiess es übereinstimmend, er sei ungehörig.
 
Auch mich oder uns stört es, dass wir unsere Billetteinkäufe nicht mehr am Schalter tätigen sollen. Wir sind doch oft auf zusätzliche Informationen über eine Reiseroute, nicht nur auf eine Fahrkarte, angewiesen. Es fällt uns schwer, auf die vielen kleinen Dienste am Schalter zu verzichten. Es fehlt in meiner Generation der spielerische Umgang mit Automaten. Für uns sind manche Begriffe und Abfolgen fremd. Und Menschen mit Sehschwächen haben es ganz besonders schwer. Da können sich unerwartet Probleme einstellen, die nur ein Mitmensch lösen kann.
 
2 Monate später stand ich wieder in der Kolonne. Diesmal brauchte ich ein Billett ins Wallis. SBB und Postauto. Wieder das Szenario, dass eine SBB-Frau einzelne Personen aus der Schlange zu den Automaten herausholen wollte. Zuvorderst eine Italienerin, die nur vage Deutsch verstand und mit Gesten ausdrückte, hier am Schalter wolle sie bedient werden. Die 2. Frau wollte ein Abonnement mit Foto bestellen. Ihr wurde der Schalterbereich sofort zugestanden. Und dann wurde ich befragt. Ich wünsche ebenfalls Schalterbedienung. Man wolle mir am Automaten behilflich sein, hiess es. Ich wünsche Bedienung am Schalter. Die SBB-Frau war sichtlich enttäuscht. „Sagen sie es doch ihrem Chef, dass wir eine persönliche Bedienung wünschen.“ Auf diese Bitte reagierte sie dann hilflos: „Das nützt nichts.“
 
Die Frau in der Schlange vor mir kehrte sich um und stimmte mir zu, unterstützte mich. Sie sagte: „Man will offensichtlich Stellen abbauen.“ Und ich folgerte: Wie traurig, da müssen Angestellte ihr eigenes berufliches Grab schaufeln.
 
Als mein Mann und ich in Visp ein Billett nach Saint-Maurice kaufen wollten, sprach uns ein SBB-Mitarbeiter in orangefarbener Veste am Eingang in den Schalterbereich an. „Kann ich ihnen behilflich sein?" "Wir wollen ein Billett lösen.“ „Kommen sie mit!“ Wir gingen zusammen ins Freie an den Automaten, und der Helfer tippte unseren Wunsch ein. Er vergewisserte sich, ob wir nicht vielleicht nach St. Moritz reisen wollten und gestand freimütig, er wisse nicht einmal genau, wie Saint-Maurice geschrieben werde. Da half ihm dann der Computer mit dem Angebot an Varianten. Wir konnten den Ablauf gut verfolgen. Der Mann strahlte Ruhe aus. Er wollte uns auch nicht belehren. Er wollte uns offensichtlich nur zu einem Billett verhelfen.
 
Für meine Reise nach St. Gallen versuchte ich, ein Billett am Schalter im Zürcher Hauptbahnhof zu erhalten. Kein Problem. Nachdem ich bezahlt hatte, dankte ich, dass ich bedient worden sei. Warum? Mein Dank irritierte. Weil man jetzt offenbar schweizweit möglichst an die Automaten verwiesen werde. Aha! Und dann: „Also, wenn sie hieher kommen, bekommen sie ihr Billett.“
 
Neu ist im Hauptbahnhof die schlangenförmige Abschrankung vor den Schaltern. Wir müssen uns nicht mehr für eine einzelne Schlange entscheiden. Nur noch anstehen und zuvorderst dann überblicken, welcher Schalter soeben frei geworden ist. Einladend wirkt die Leuchtschrift über den offenen Schaltern: WILLKOMMEN WELCOME.
 
Ich beobachtete, dass der Willkommensgruss ausgeschaltet wird, wenn der letzte Kunde, der bedient werden soll, eingetroffen ist. Ich beobachtete einen Mann, der etwas aufmüpfig und seiner Übersicht sicher rief: „Immer etwas Neues lernen!“ und dann vor einem Schalter eintraf, der kurz zuvor geschlossen worden war. Da stand er dann vor der Tafel „Schalter geschlossen“. Wichtig ist also das leuchtende Wort WILLKOMMEN. Es bedeutet: Schalter geöffnet.
 
In Saint-Maurice gelang es uns, am Automaten Zusatzbillette Visp‒Brig zu lösen. Bedingung für Deutschschweizer: Französisch verstehen. Hilfreich war die Ruhe an diesem Ort. Es warteten keine nervösen Menschen hinter uns. Ein gutes Erlebnis, auf dem wir aufbauen können.
 
Nach den beschriebenen Erlebnissen wirkte der Beitrag „Nie mehr an ein Bahnticket denken“ auf mich wie ein Magnet. Im Tages-Anzeiger vom Samstag, 02.07.2011 wurde informiert, dass ein elektronisches Ticket in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Schweiz die heutigen Billette und Abonnemente ablösen soll. Universell verwendbar, hiess es und über Funk kontrollierbar.
 
Erste Schritte sind nach diesem Bericht 2014 zu erwarten.
 
Nach meinen erwähnten Erfahrungen kann ich mich über eine solche Revolution freuen. Mich beschäftigt jetzt nur eine Frage: Wie bekommt es unserem Nervensystem, wenn die Chipkarte in unseren Jacken- oder Hosentaschen täglich beim Ein- und Aussteigen vom Funk aus der Ruhe geweckt wird?