Dienstag, 21. Juni 2011

Das blutunterlaufene Auge irritierte und zog Blicke auf sich

Die Sicht war nicht beeinträchtigt, obwohl das Auge violettrot blutunterlaufen war. Deshalb vielleicht habe ich keine Brille aufgesetzt und bin auch Tram, S-Bahn und Bus gefahren. Das Verbot, bis zur Heilung nicht Velo zu fahren, das halte ich ein.
 
Es schauten mich viele Leute kritisch an. Die meisten stellten freimütig Fragen, wollten wissen, was geschehen sei. Eine Frau wechselte sogar die Strassenseite, um mich genauer zu betrachten, als sie mich daherkommen sah. Wir leben im selben Umfeld, grüssten uns bisher nur. Das geplatzte Blutäderchen hat uns nun zu einem richtigen Kontakt zusammengeführt.
 
Ich erzählte der Augenärztin, wie mitfühlend ich überall behandelt werde und erfuhr, dass mein Fall zwar erschrecke, aber heilbar sei. Ich befände mich auf der besseren Seite. Die wirklich gravierenden Augenleiden sähe man nicht und beurteile sie deshalb falsch. Da könne eine Person das Gegenüber nur noch schemenhaft erfassen und grüsse deshalb nicht mehr. Und schon werde ihr das falsch und als Beleidigung ausgelegt.
 
Es gab auch Leute, mit denen ich verabredet war und die, als sie mich grüssten, nicht bemerkten, dass sie von 2 ganz verschiedenen Augen angeschaut worden sind. Erst eine Weile später und mit etwas Distanz zu mir, riefen beide: Ui-ui! Was ist denn da passiert?
 
In der S-Bahn im Hauptverkehr am Abend zwischen 17 und 18 Uhr störte es eine Frau, dass ihre papierene Tragtasche, die am Boden stand, von einer vorbeigehenden Person gestreift worden war. Vielleicht war da etwas Zerbrechliches drin. Empört schaute sie zu mir auf, wollte vielleicht meine Zustimmung und erschreckte gleich nochmals. Dieses Auge! Entsetzt wandte sie sich ab. Auf der weiteren Fahrt ignorierte sie mich konsequent. Wäre nicht das Gedränge im Zug gewesen, ich hätte sie angesprochen. Doch das war hier unpassend.
 
Ich beobachtete auch, wie Männer mein blutendes Auge betrachteten. Wie ein Arzt, wie um eine Diagnose zu stellen. Sehr aufmerksam, sehr kritisch. Ohne Scheu. Schauen und wegschauen, immer wieder. Es kam mir vor, als ob sie mein Auge fotografieren oder einscannen wollten. Im gegenüberliegenden Coupé der S-Bahn sitzend, war das gut möglich. Von ihnen kam keine Reaktion. Für sie war es vielleicht ein Rätsel, was meinem Auge fehle, und dem wollten sie nachgehen. Ebenso verhielt sich der Stift (Lehrling) vom Format eines Familienoberhauptes, der im Lebensmittelgeschäft an der Kasse sitzt. Fast unanständig lange schaute er mein Auge an und ich war danach stolz, dass ich diesen unverfrorenen Blick ausgehalten habe.
 
Ebenfalls an der Kasse des gleichen Ladens, aber an einem anderen Tag, wusste die junge und quirlige Südländerin sofort, was mir geschehen war. Sie nannte gleich ein Medikament, das ihr schon mehrmals geholfen habe, diese Blutaustritte zu stoppen. Es sei ein natürliches Produkt, ohne Rezept erhältlich, pries sie es an.
 
Im Bahnhof Zürich-Altstetten wollte ich ein Billett kaufen. Noch bevor ich meinen Wunsch aussprechen konnte, sah ich, wie mein Auge die Frau am Schalter elektrisierte. Bevor sie meine Bestellung hören wollte, musste ich erzählen, was mir geschehen sei. Dann berichtete sie, dass sie vor Jahren eine schwere Augenverletzung erlitten habe. 2 Mal sei das Auge operiert worden. Eine furchtbare Leidenszeit. Die ganze Geschichte sei sofort hochgekommen, als sie mich gesehen habe. Sie hätte gedacht: Oh die arme Frau, jetzt muss sie das alles, was ich erlebt habe, auch erleiden.
 
Alle diese Fragen und die Aufmerksamkeit um mein verfärbtes Auge haben mir bewiesen, dass in unserer Stadt viele einfühlsame und hilfsbereite Menschen unterwegs sind. Es war nicht eine billige Neugierde. Manche fragten nach meinem Befund, um herauszufinden, was geschehen sei, wie man mir helfen könne.
 
Ihnen danke ich allen. Solche Erfahrung ist neu für mich.

Sonntag, 5. Juni 2011

Der Marktstand unserer Vorfahren ist immer noch populär

Früchte- und Gemüsemärkte sind beliebt. Sie bringen Farbe auf Plätze und vor alte Mauern. Sie erfrischen einen Ort, machen ihn festlich.
 
Dahin war ich unterwegs. Nach Wipkingen an den Röschibachplatz, wo die Tochter Letizia an einem solchen Samstagsmarkt mitarbeitet. Sie empfindet diesen Arbeitsplatz als Bühne in ihrem Leben, wo sie plaudern, spassen und gute Produkte verkaufen kann.
 
Ich fuhr mit dem Velo kurz nach 6 Uhr von zu Hause weg und hoffte, zuschauen zu können, wie der Stand aufgestellt, Gemüse und Früchte angeliefert werden. Zu spät! Der Lastwagen mit den Produkten ab Hof und den zusätzlichen Einkäufen in der Gemüsezentrale war schon da gewesen. Wackere Männer transportieren diese Ware und stellen auch die Stände auf.
 
Als ich mit Letizia am Röschibachplatz eintraf, war die Fuhre schon zu 2/3 ausgelegt. Ihre Kollegin hatte die Lieferung vor einer Stunde entgegennehmen können. Jetzt mussten nur noch die schweren Kartoffel- und Gemüsekisten an der Rückwand des Standes in Schienen eingehängt und die Palette versorgt werden. Diese hatten dazu gedient, das Transportgut vom Lastauto ins Umfeld des Standes zu kutschieren. Letizia widmete sich danach den Blumen, löste sie aus den Verpackungen, sortierte sie nach Farben in verschiedene Behälter, für die sie vorher vom Dorfbrunnen entsprechend Wasser herbeigeschleppt hatte. Wer hier arbeitet, kann zupacken, kann Lasten tragen, ist nicht zimperlich.
 
Es mussten auch noch die Preisschilder mit der Liste der aktuellen Preise verglichen und angeglichen werden.
 
Das Angebot ist immer vielfältig. Frische Produkte, farbenfroh, gesund und zum Kochen einladend. Gemüse, Salate, Früchte, auch solche aus dem Süden. Und schon Erdbeeren aus der Schweiz. Ebenso im Angebot zu finden: Brote, Zöpfe, Wecken, Freilandeier vom eigenen Hof und oftmals auch Käse aus dem Gotthard-Gebiet. Im Sommer werden hier Heidelbeeren von der Göscheneralp verkauft.
Ein Marktbesuch ist mehr als alltägliches Einkaufen. Eine Spur Gemütlichkeit gehört dazu. Der Gang zu ihm hin kann ein Spaziergang werden. Mit zufälligen Kontakten. Man trifft sich auf diesem Dorfplatz oder im Café Nordbrücke, das kürzlich vor dem Untergang gerettet worden ist. Das markante Gebäude im Rücken des Gemüsestandes stammt aus dem Jahr 1894 und gibt dem Ort einen ganz speziellen Charme. Und nebenan befindet sich der Bahnhof Wipkingen, ebenfalls mit einem markanten Gebäude. Dieses aus den 1930er-Jahren.
 
Es war noch nicht 8 Uhr geworden, als schon erste Kundschaft eintraf. Letizia machte mich auf 3 Personen aufmerksam, die schlurfend und schwankend daherkamen. Erschöpft vom Partyleben. Nach einer wilden Nacht sich mühsam vorwärts schleppend. Der Mann trug seine Frau oder Freundin auf den Schultern. Eine 2. Frau ging hinter ihnen her. Sie stillten ihren Hunger mit weichen Broten vom Stand. Letizia erzählte, dass solche Kundschaft auch zum Markt gehöre. Leute auf dem Heimweg, direkt aus den Clubs, fänden hier den ersten offenen Laden, um ihren Hunger, auch nach Vitaminen, zu stillen.
 
Danach verabschiedete ich mich. Vom Herumstehen war mir kalt geworden, während die beiden Frauen ihre Strickjacken schon längst weggelegt hatten. Die Vorarbeit hatte sie in Schwung gebracht. Mithelfen konnte ich nicht. Ich hätte ihnen höchstens im Weg gestanden. Alle Bewegungen sind eingeschliffen, ihre Freude an der Arbeit darin sichtbar. Beide tragen italienisches Temperament in sich. Das strahlt aus.
 
Ich hatte schon viele Geschichten gehört und die Begeisterung an dieser Arbeit bemerkt. Was wir als Konsumenten sehen und schätzen, ist aber nur die Vorderseite oder das Gegenwärtige. Zum Erfolg gehört auch eine immense Vorarbeit. Einerseits der Anbau, das Wachstum, die Ernte. Oder in den frühesten Morgenstunden der Einkauf in der Gemüsezentrale und später nach Marktschluss die Rücknahme und Weiterverteilung an Gaststätten oder Institutionen.
 
Ich bewundere den Unternehmergeist, die Risikofreude und alle, die in diesen Prozessen ihre Talente einbringen und mit Herzblut zusammenarbeiten. Die nicht müde werden, auch schwierige Kunden zu beraten und freundlich zu bedienen. Wie überall, gibt es am Marktstand auch die knauserigen und unentschlossenen Menschen und solche, die den Verkäuferinnen ihr Herz ausschütten. Am meisten wundert man sich am Stand über das andernorts verlorene saisonale Wissen, was wann geerntet werden kann.
 
Wie ich gehört habe, bekommen Kinder ein Rüebli (Karotte) geschenkt. Einige knabbern dieses sofort an, andere wünschen, dass die Mutter es schäle und wieder andere springen zum Brunnen, um es zu waschen. Einmal, so erzählte Letizia, seien 2 Buben mit ihrem Vater zum Einkaufen gekommen. Sie hätte ihnen je ein Rüebli geschenkt. Später kamen sie in Begleitung der Mutter. Dabei übersahen die Verkäuferinnen die Kinder. Darum wurden sie nicht beschenkt. Seither wollen sie nur noch mit dem Vater Gemüse einkaufen.
 
Letizia erzählte auch von einem Kind, das an den Stand gekommen sei und den Bestellzettel hinstreckte. Es hatte jedes Gemüse, jeden Salat und jede Frucht gut erkennbar gezeichnet und davor die gewünschte Anzahl geschrieben. Beeindruckend schön. Hoffentlich hat die Mutter diese Zeichnung für später aufgehoben.
 
An diesem Morgen, als ich dastand und zuschaute, erinnerte ich mich auf einmal an meinen Vater, der ebenfalls einen Gemüsehandel aufgezogen hatte, aber wegen des Ausbruchs des 2. Weltkrieges und dem befohlenen mehrmonatigen Militärdienst wieder aufgeben musste.
 
Als Erinnerung daran baute er dann später für meine 2 Jahre jüngere Schwester und für mich einen Marktstand zum Spielen in der Art, wie er in Wipkingen jeweils am Samstag zu sehen ist. Mit Kistchen aus Sperrholz und ebenfalls blau-weissem Stoffdach. Das Weiss am Dach in Wipkingen ist aber schon lange zu Grau mutiert.
 
Für alle, die sich für Wipkingens Geschichte interessieren, verweise ich auf die Homepage www.wipkingen.net
Historische Bilder“ und „Historische Geschichten“ sind besonders interessant und spannend.
 
Wipkingen war einmal ein eigenständiges Dorf. Es wurde 1893 von der Stadt Zürich eingemeindet.