Mittwoch, 25. Mai 2011

Erstaunlich, wie das Mittelalterfest in Zürich auch diesmal wieder wie ein Magnet wirkte. Wir verdanken es den Frauen, genau gesagt der Gesellschaft Fraumünster*, die mit diesem Spectaculum der Stadt Zürich alle 3 Jahre ein Stück kultureller Vergangenheit vorführt.
 
Als ich Primo am Tag danach fragte, was ihm an diesem Fest wieder besonders gefallen habe, nannte er gleich alle Handwerker, vorab den Schmied, dessen Mitarbeiter Kinder anleiteten, Nägel zu schmieden. Ausgestattet mit Schutzbrille und Lederschürze, wurde gehämmert „wie die Grossen“.
 
Pong-pong! Pong-pong! Gli-gli-gli-gling! So tönte es, als der Meister schmiedete. Dumpf, wenn auf glühendes Eisenstück geschlagen wurde, hell dazwischen die Leerschläge auf den Ambos. Eine Art Tanz mit dem Hammer: Sehr konzentriert, gespannt, auch gehetzt, um den glühenden Zustand des Eisens auszunützen. Kein Schlag zu wenig, keiner zu viel. Wir verfolgten auch, wie ein Hufeisen geformt wurde. Gearbeitet wurde an diesem Tag in einem offenen Zelt im Freien. Hier entwichen Rauch und Hitze, anders als in der Schmiede, wo sie als Werkstattatmosphäre festsitzen. An einem Stand nebenan wurde uns noch gezeigt, wie Blech mit einem Schaleneisen zu einem Helm getrieben wird.
 
Das bunte Programm historischer Marktfahrer umfasste verschiedene Berufe und Produkte: Ledergerber/Lederverarbeiter, Buchdrucker/Buchbinder, Drechsler, Pfeilbogenhersteller, Kalligraph, Strohflechterinnen mit Hutangebot, Kräuter und Salben nach Rezepten aus der Fraumünsterabtei. Ich kaufte Ringelblumensalbe und wie letztes Mal „Fraumünster-Wundertee“. Die Kräutermischung behagt mir. Ich verwende sie aber nicht als Tee. In offenen Schalen aufgestellt, bestimmt sie unser Raumklima mit.
 
An den Stand der Seifensiederin Irene Lienemann haben mich die starken Lavendeldüfte hingezogen. Hier gefiel mir das ganze Angebot. Ich kaufte handgefertigte Seifen, Lavendelblüten und Lavendelhydrolat, das Nebenprodukt aus der Wasserdampf-Destillation. Davon bin ich jetzt ganz angetan. Als beruhigender Badezusatz, als Gesichtswasser und zum Ausreiben der Küchenkästen geeignet, weil der Lavendelduft Insekten abwehre, erklärte sie mir. Ihre Homepage ist vermutlich nicht nur für mich sehr lehrreich** .
 
Wir erfreuten uns an mittelalterlichen Tänzen, an Musik, an den schlichten Kleidern aus natürlichen Materialien, an den Spielen, den Gauklern und an den vielen Besuchenden dieses Markts, die sich ebenfalls begeistern liessen. Wir schauten Kindern zu, die Stahlkugeln warfen, um Eier zu treffen. Ein Vorläufer des Riesenrads von heute faszinierte auch. In der Art des hölzernen Brückenbaus geschaffen. Für Kinder. Von Hand angetrieben. Allerliebst.
 
Als wir den Münsterhof verlassen hatten, bemerkten wir, dass im Kreuzgang des Fraumünsters mittelalterlich gekleidete Menschen herumstanden. Hier verstärkte sich noch der Eindruck von vorher, dass wir in eine sehr weit zurückliegende Zeit eingetaucht waren. Nicht in Form eines Theaterbesuches, sondern genau so, wie wenn wir zu dem, was hier gezeigt werden wollte, dazu gehörten. Als Einwohner von Zürich, die sich ebenfalls in die Stadt begeben hatten und auf diese Leute stiessen. Sie trugen vornehme Kleider aus alter Zeit, bewegten sich aber nicht als Figuren. Sie hielten keine Monologe, zeigten kein Theater. Einzelne unterhielten sich locker. Wie ich später feststellte, war aber doch ein Spiel gerade beendet worden. Ein Schachspiel, in dem Menschen als Figuren eingesetzt worden sind. Am Rücken waren sie bezeichnet, welche Schachfigur sie darstellten. Primo zeigte sofort auf den Boden mit den Einteilungen des Schachbretts. Wir bemerkten auch den Hochsitz, von dem aus befohlen werden kann, wohin sich eine Figur begeben muss. Aber jetzt wurde nicht gespielt. Wir störten nicht, betraten auch das Schachfeld nicht.
 
Wir gingen seitlich vorwärts. Wohl hatte ich vorher ein paar vorwurfsvolle Blicke einer leitenden Person aufgefangen. Sie schickte uns aber nicht zurück, liess uns gnädig passieren.
 
Wir wurden zu einer abgemachten Zeit in der Altstadt auf der anderen Limmatseite erwartet. Darum benützten wir diesen üblicherweise zweiseitig zugänglichen Kreuzgang als kürzesten Weg. Doch am Gittertor wurden wir noch angehalten. Dort stand ein mittelalterlicher Bettler. Er hielt seinen Filzhut hin und jammerte erbarmungswürdig. Primo stülpte sofort seine beiden Hosentaschen um und hielt sie je mit einer Hand fest, damit er sehen könne, dass auch er sehr arm sei, nichts auf sich trage. Es folgte ein gegenseitig humorvolles Lamento, so lange, bis ich mein Portemonnaie ausgegraben und dem armen Mann einen Batzen in den Hut geworfen hatte. Er bedankte sich artig, und wir konnten weitergehen.
 
Dann bemerkte ich, dass wir einen Augenblick zum Spiel gehört hatten. Ich schaute in schmunzelnde Gesichter. Man schaute uns nach. Unsere Rollen, die sich am Tor ergeben haben, stimmen mit uns überein. Primo ist derjenige, der die Mitmenschen mit seinem Wesen und seiner künstlerischen Leistungen unterhält, und ich sorge dafür, dass alle, die für uns arbeiten, ihren Lohn bekommen.
 
Das Spiel mit dem Bettler hat Spass gemacht. Und wirkt noch nach, wie ein Blick in den Spiegel.
 
Hinweise
* Fraumünstergesellschaft Zürich. www.fraumuenstergesellschaft.ch
** Seifensieden. www.kraeuterseife.ch

Sonntag, 22. Mai 2011

Ohne Garten: Pflanzen aus den Balkonblumen-Kisten

Schon im März dieses Jahres richtete ich die Blumenkisten auf dem Balkon neu ein. Obwohl ich zuvor gelesen hatte, dass die Erde in solchen Behältern jedes Jahr ausgetauscht werden müssse, brachte ich es nicht übers Herz. Ich hatte den Inhalt auf den Boden gestürzt und sah die Verflechtungen der vielen Wurzeln. Die Erde sah aus, als ob sie zu einem grossen Keks gebacken worden wäre. In diesem überwinterten zähe Ableger verblühter Blumen und Gräser. Eindrücklich, wie sie sich in offensichtlich guter Zusammenarbeit arrangiert hatten.
Ich trennte etwa die Hälfte des kompakten Erdreiches weg, lockerte den Rest und füllte mit der speziellen Erde für Balkonkisten auf. Vergissmeinnicht, Akelei und Nachtkerzen, die 2 Frühlinge beanspruchen, um ihre Blüten zu entfalten, hatte ich sorgfältig herausgelöst und setzte sie in neuer Erde wieder ein. Den dicken Farnstamm griff ich nicht an, liess ihm seinen angestammten Platz. Er dankte es mir und schickte bald danach seine kleinen Kinder ebenfalls in die Welt.
 
Wenn ich jetzt auf dem Balkon sitze, sehe ich sowohl auf die Erde als auch auf jedes Pflänzchen, das sie hervorbringt. Sofort. Kaum hat es den Durchbruch ans Licht geschafft, kann ich es sehen. Diesen Blick habe ich nicht, wenn ich von oben herab auf meine „Wiese“ blicke. Es werden hier alle Gräser geduldet. Sie müssen keine Blüten hervorbringen. Wir freuen uns schon, dass sie die strenge Gerade der Balkonarchitektur auflockern.
 
Jetzt gerade beschäftigen sich mehrere Akelei-Stämme mit der Samenproduktion. Auch im nächsten Jahr wollen ihre Nachkommen hier aufwachsen. Diese Pflanze brachten wir vor etwa 20 Jahren aus dem Jura nach Zürich. Wir hatten sie auf dem „Schni“ in Rocourt (Kanton Jura) gefunden. Auf einem offenen Kehrichtberg, wie solche damals auf dem Land noch zulässig waren. „Schni“ steht für das französische Wort „chenil“, das aber „ch'ni“ ausgesprochen wird. Es bedeute „Hundezwinger“, erklärte mir ein Romanist, und daraus sei der Sinn von einem dreckigen, schmutzigen Raum oder eben von einem Abfallberg entstanden.
 
Es blühten gerade mehrere Nachkommen dieser Akelei, als uns Alex und Marianne hier besuchten. Es berührte sie sehr, dass dies Nachkommen der Akelei aus Rocourt seien, denn sie waren dabei gewesen, als wir sie ausgegraben hatten. Die beiden haben uns damals den Jura und seine Schönheit erschlossen. Nur weil wir diese Blume auf einem Abfallberg entdeckten, nahmen wir sie mit. Damals war sie nach unserem Wissen geschützt. Heute findet sie sich in manchen Gärten.
 
Und bald werden die Nachtkerzen, die sich in unseren Blumenkisten ebenfalls wohlfühlen, wieder jeden Abend aufgehen. Dies ist für uns die einzige Pflanze, der wir zuschauen können, wie sie sich öffnet. Immer zur Zeit des Sonnenuntergangs. Dann verströmt sie noch einen feinen Vanille ähnlichen Duft und dieser lockt dann sofort Nachtschwärmer herbei.
 
Die Nachtkerzen zeigen uns viel Kraft, wenn sie ihre Blätter wie ein Regenschirm öffnen. Normalerweise ist Wachstum ein sehr langsamer und für unsere Augen nicht sichtbarer Prozess. Die Nachtkerzen gehören zu den Ausnahmen. Sie dürfen uns diesen in beschleunigter Form aufzeigen. Und ihre Blumen, die aufspringen, sind für mich Zeichen von etwas Reifgewordenem. Etwas das Form bekommen hat und lebensfähig geworden ist. Vergleichbar auch mit der Geburt eines Kindes.
 
Wenn die Sonne am Untergehen ist, trägt sie die Erfahrungen des Tages in sich und somit in die Vergangenheit. Das Licht strahlt nochmals alle und alles an. Es ist eine Art Verklärung, die da stattfindet. Nie leuchten die Farben der Blumen so intensiv wie in diesen letzten lichtvollen Augenblicken. Alle Stunden des Tages sind jetzt gelebt. Es beginnt der Rückzug und das Zurechtkommen in der Nacht, im Übergang zu einem neuen Tag. Im übertragenen Sinne ist es der Augenblick des Alters, wo wir uns der Lebenserfahrungen bewusst werden.
 
In Norwegen habe ich ein Bild von Edvard Munch gesehen, das diese Erfahrung festhält. Munch hat sie zeitlich etwas später angesetzt. Von seinem Himmel leuchten schon die Sterne. Er nennt das Bild auch „Stjernenatt“ (Sternennacht).
 
2 Personen überblicken aus einer Anhöhe diesen Abschied. Das Sonnenuntergangsrot leuchtet noch. Es verliert sich in lindem Grün, bevor es von der blauen Stunde aufgesogen wird. In den Häusern der Stadt ist das Licht angezündet, und dieses trägt zur Stimmung des Augenblicks bei. Aber: Wer sich dort drinnen aufhält, wird die Sterne nicht sehen. Munchs Blick ist ergreifend. Licht, Farben und Dunkel setzte er so zusammen, dass wir in diese Abenddämmerung hineingezogen werden. So sah ich vielmals den Abend erlöschen, als wir noch im Bernoulli-Haus lebten und die Sommerarbende im Garten verbrachten.
 
Ich freue mich schon auf die Nachtkerzen, die erfahrungsgemäss ungefähr auf den längsten Tag hin erblühen. Ihnen dann wieder zuzuschauen, wird gut tun. Es sind jeweils Augenblicke, die uns abheben, uns mitnehmen in den zeitlosen Raum unserer geheimnisvollen Welt.

Sonntag, 8. Mai 2011

Ein schwarzer Abfallsack und Briefpost geben Rätsel auf

Ein schwarzer Plastiksack störte mich. Wie tot lag er am Abhang vor meinem Bürofenster. Er flog nicht fort, bewegte sich nicht. Den wollte ich hereinholen. Auf dem Weg hinter das Haus fand ich dann zusätzlich noch Papiertaschentücher, Fetzen einer Schokoladeverpackung und 2 Stimmrechts-Couverts für die nächste Abstimmung. Es sah so aus, als ob ein Papierkorb über einen Balkon herunter entleert worden sei. Die angeschriebenen Personen mit ausländischen Namen wohnen aber nicht hier.
 
Zuerst wollte ich die noch verschlossenen Couverts wieder der Post übergeben, entschloss mich dann, die Sendungen den Adressaten gleich selber wieder zuzustellen. Als ehemalige Postbotin konnte ich gar nicht anders reagieren.
 
Und wir hatten es schon als Kinder gelernt, keine Fetzen herumliegen zu lassen. In der Primarschule wachte der Abwart in der Pause auf seine Ordnung. Liessen wir Abfälle einfach fallen, pfiff er und das hiess: „Fötzeln“. Anstatt die Pause zu geniessen, mussten wir den Schulhof säubern. Interessant, wie sich die Erinnerung daran sofort meldete.
 
Für mich ist die Aufgabe nun erfüllt. Und für die Personen, die an jenem Abend ihre Stimmrechts-Umschläge erneut vorfanden?
 
Welche Geschichte könnte dahinter stecken? War da jemand überfordert oder einfach uninteressiert, an der Abstimmung teilzunehmen und warf die Couverts deshalb fort? In den schwarzen Sack, dem auch noch andere Abfälle anvertraut wurden? Und dann an die Strasse gestellt? Dem Stadtfuchs vor die Nase? Konnte er noch ein paar Delikatessen finden? Trug er die Beute an einen stillen Ort hinter unser Haus? Der leere Sack gab keine Geheimnisse preis, war etwas zerknittert, aber ohne Spuren von Esswaren.
 
Der Fuchs ist hier bekannt. Ich hatte ihn nachts auch schon beobachtet, und kürzlich lief er sogar zur Mittagszeit auf der leicht erhöhten Wiese, unserem Balkon gegenüber, sehr selbstbewusst vorbei. Nicht als Flüchtender, sondern seiner Majestät bewusst. Er schaute sogar zu uns hinüber.
 
Verhält es sich so, wie es die Fantasie zu dieser Geschichte hier vorgibt, dann muss die erneut zugestellte Abstimmungs-Post grosse Fragezeichen, vielleicht sogar Wut, ausgelöst haben. Aber auch dann, wenn Kinder mit den Abfällen spielten und diese nur achtlos liegen liessen.
 
Wir sollten den Fuchs nach des Rätsels Lösung fragen können.