„Die Kunst gibt einem das Recht, einen Blick auf alle Dinge zu werfen, ohne zu ihrer Beurteilung verpflichtet zu sein." Oder:
„Meine Arbeiten entstehen durch Experimente. Das führt unweigerlich zu
Zufallsmomenten, die ich bewusst in meiner gestalterischen Arbeit
integriere."
Mit ihren Worten hatte sie mir aus dem Herzen gesprochen, und ich
dachte, dieses Recht sollte nicht nur der Kunst vorbehalten sein.
Dann schaute ich ihre Arbeiten an. Jede der 102 aus Gips
gearbeiteten Schalen war auf einen eigenen Sitz platziert. Ich ging von
einer zur anderen. Jede begann, mir sofort eine Geschichte zu erzählen.
Ich musste nicht fragen. Es waren für mich Lebensgeschichten,
Leidensgeschichten, gelebte Talente, Illusionen, Träume, Sehnsüchte,
Schönheit des Lebens, Liebe, aber auch leibliche oder seelische Kerker.
Es gab da auch Schalen mit einer einzelnen Münze. Das wenige Geld? Der
Glücksbatzen? Geld an sich? Die Bettelschale? Verbliebener Rest nach dem
Verkauf der Seele? Je weiter ich ging, desto differenzierter reagierte
ich, ohne etwas endgültig taxieren zu wollen.
Nach meinem Rundgang sah ich in diesen formal gleichen, in ihrem
Inneren aber einmalig ausstaffierten Schalen Bilder von Menschenleben.
Einzigartig. Obwohl „nur“ 102 Versionen, wirkte die Darstellung sehr
vielfältig. Je weiter ich voranschritt, desto erstaunter war ich: Wieder
etwas ganz Anderes! Und im besten Fall immer nur der Titel eines
verarbeiteten Themas. Oft bargen die Schalen auch Worte und wiesen den
Gedanken ein Stück weit den Weg.
Heute hörte ich einen Radiosprecher sagen, als er besinnliche Musik
ankündigte: In allem Denken schwingt Japan (das wegen des schweren
Erdbebens und des Tsunamis leidgeprüfte Land) jetzt immer mit. Das
empfinde ich auch so und ganz speziell in der Ausstellung, als es um die
verletzten Schalen ging. Um Schalen mit Ausbrüchen, Flicken und
Gittern.
Diese Ausstellung nennt sich Passionsausstellung und kann in
der „Offenen Heiliggeistkirche“ an der Spitalgasse 44 in Bern vom 8.
März bis 4. Mai 2011 besucht werden. Dienstag, Mittwoch 11.00‒18.30 Uhr,
Donnerstag 11.00‒20.30 Uhr, Freitag 11.00‒16.30 Uhr.
Was uns anrühre, sei oft das Verletzliche und Verletzte, heisst es
im Vorwort der Ausstellungsbroschüre. Diese Kirche wollte seit ihren
Anfängen im 13. Jahrhundert jenen eine vorübergehende Heimat bieten, die
da auf schlechten Landstrassen unterwegs waren, den Bettlern und
Siechen, den Armen und Heimatlosen und Pilgern. Und heute ist sie als
„offene kirche“ eine Insel im hektischen Alltag unserer Zeit. Wer es
wünscht, darf sich hier ausruhen, sich aussprechen. Als ich hier war,
wurde gerade einem Mann aus einem fernen Land eine Tasse Kaffee
gereicht. Er wunderte und freute sich.
Die unmittelbare Nähe zum Bahnhof Bern ermöglichte mir diesen
beschriebenen Zwischenhalt „zwischen zwei Zügen“ und das oben
beschriebene Erlebnis mit den Schalen des Lebens.
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