Ich war gwundrig (neugierig). Jedesmal, wenn ich aus der
Bahnhofunterführung Zürich-Altstetten herauskam und in die rechtwinklig
wegführende Aargauerstrasse hineinschaute, hoffte ich, dass hier eines
Tages ein Veloweg wegführe und ich dann schnurgerade zur Pfingstweid in
unsere Werkstatt fahren könne. Aber gerade da, wo mein Traum seinen
Ursprung hatte, war die Strasse leicht gebogen und verwehrte mir die
freie Sicht. Ich nahm lediglich die Baustelle und die dazugehörigen
Abschrankungen wahr. Bis hieher werde die Tramlinie 4 verlängert. Hier
entstehe die Endstationschlaufe – das wusste ich aus Publikationen. Und
Teile der neuen Strassen- und Streckenführung hatte ich bereits im
animierten Film „Virtuelle Fahrt Zürich West" gesehen.
Primo begleitete mich hinaus in die Realität, machte mich
auf vieles aufmerksam. Alle paar Minuten stellte ich mein Rad wieder ab
und fotografierte. Und wir liessen die neuen, noch unbekannten
Silhouetten auf uns wirken. Spannend und aufregend zugleich. Es
beschwingte mich, die Orte, die zu meiner Jugend gehören, aus neuer
Warte und zum Teil umgestaltet zu sehen. Wir befanden uns auf einer
Parallelstrasse zum bisher benützten Veloweg neben der Autobahn. Jetzt
zeigte sich die Sicht auf die Rückseiten jener Häuserzeilen und
Geschäftsbauten, die uns bis dahin nur von vorne her bekannt waren.
Obwohl noch nicht alles, was geplant wurde, auch schon gebaut ist, wirkt
das Neue ganz ähnlich wie in der Darstellung im animierten Film der VBZ (Verkehrsbetriebe Stadt Zürich).
Strasse, Tramführung, Stationen und Veloweg sind bald vollendet. Sie
wirken klar und übersichtlich, führen in 2 Etappen schnurgerade zum
Knotenpunkt beim verlassenen GC-Fussballstadion und danach in neuer
Richtung zur Hardbrücke.
Weisse Bauwände riegeln grosse Bauplätze ab. Dahinter, weit
entfernt, wie auf einem Balkon, ist die Kirche Höngg zu sehen. Näher bei
uns winkten Birken und Pappeln. Sie liessen den Eindruck aufkommen,
hinter dieser langen Wand befinde sich ein Paradiesgarten. In ihrem
Umfeld die südlich anmutende Container-Siedung für Emigranten. Die
fröhlichen Fassadenfarben Gelb, Orange und Sand strahlen aus.
Eindrücklich signalisieren 13 Satellitenschüsseln das Bedürfnis nach
Kontakt mit der Heimat.
Und auf dieser Fahrt bin ich endlich einmal zum Engros-Markt für
Früchte und Gemüse gelangt. Er lag immer jenseits meiner Wege. Er
befindet sich an der Aargauerstrasse 1 beim Knotenpunkt, wo sich
Aargauer- und Pfingstweidstrasse treffen, wo sich auch das
Hardturm-Parkhaus und die Ruine Grasshopperstadion befinden. Hier
wird täglich, ausgenommen sonntags, ab 04.45 Uhr auf 6300 m2
Verkaufsfläche in 3 Hallen gehandelt. Die Atmosphäre dieses Markts
möchte ich bald einmal erleben und im dazugehörigen Restaurant essen.
Lustig empfanden wir die an der gerundeten Rückwand des verlassenen
Fussballstadions ausgeschnittenen Fenster, die Aussicht bis zu den
Bernoullihaus-Dächern und den Wohnbauten am Limmatufer zulassen.
Bei der Migros Herdern angekommen, hatte sich die Wissenslücke
geschlossen. Nun kenne ich die Verbindung Altstetten‒Pfingstweid.
Von hier aus liessen sich noch die Bauten im letzten Abschnitt
Hardturm- und Förrlibuckstrasse überblicken. Mit freier Sicht über die
verlassenen Fussball-Trainingsplätze hinweg. Es zeigte sich ein Ort, an
dem verdichtetes Bauen bereits vollzogen ist. Wohnbauten und
Geschäftshäuser stehen dicht an dicht. „Der rote Block", eine
hufeisenförmige Wohnsiedlung, die für sich beanspruchen kann, vor allen
anderen Häusern hier als erste erbaut worden zu sein, tut mir gerade
leid. Vor Jahrzehnten erbaut und mit ziegelrotem Verputz versehen, wurde
sie als roter Block wahrgenommen und bei diesem Namen ist es bis heute
geblieben. Jetzt aber steht nebenan ein knallrotes Haus und drängt sie
optisch zur Seite.
Weiter stadteinwärts Richtung Hardbrücke wird es vornehm. Von hier
aus gestaltete sich die Umwandlung vom Industriequartier zum modernen Zürich West. Hier gibt es Raum zwischen den neuen Geschäftshäusern. Hier wurde ein Quartierteil ganz neu und grosszügig gestaltet.
Und was war früher?
Als ich 1947 mit meinen Eltern und Geschwistern nach Zürich
übersiedelte, gab es an unserem Wohnort an der Hardturmstrasse viele
Fabriken. Südlich von ihr aber auch viele Wiesen, Viehweiden, Obst- und
unzählige Familiengärten, den Bauernhof der Familie Johann Buob, eine
Schafweide und das erste Fussballstadion „Förrlibuck". Auf einer
Foto aus der Pionierzeit der Flugfotografie (1925) ist dieser
Fussballplatz verewigt. Hier fand die Sportprüfung zum Schulabschluss
statt. Primo, Schüler aus dem Limmatschulhaus, erinnert sich an die
Limite, die gesetzt war: 1 km rennen in maximal 5 Minuten.
Dieses Fussballfeld grenzte an die Herdern, heute Terrain von Migros Herdern.
Zu jener Zeit ein grosses Familiengarten-Areal. Es reichte bis zu den
Bahnlinien hin. Ein Fussweg führte sogar über die Geleisestränge hinweg
zur Hohlstrasse hin. Es brauchte nur etwas Geduld, bis die Barriere
jeweils für eine Weile hochgezogen wurde. Für Primo und mich ist der
damalige Zugang zu dieser Geleiseüberquerung von der Hohlstrasse her
noch gut sichtbar. In solchen Augenblicken wundern wir uns, wie sich der
Bahnverkehr zu einem Geleisegerangel entwickelt hat.
Am Rande dieser Herdern haben nur wenige Familiengärten
überlebt. Unter anderen auch der Schrebergarten und das Gartenhaus
meines Vaters. Wir kennen seinen Nachfolger nicht, sehen immer nur, dass
hier so liebevoll gegärtnert wird, wie einst. Es ist eine kleine Gruppe
Hobbygärtner, die sich gewehrt hat, das Land zu verlassen, bevor die
Bagger auffahren. Geplant sind hier Wohnhäuser, ein Schulhaus und ein
Erholungspark. Ansätze dafür sind schon sichtbar. Die Auflösung der
Gärten steht bevor.
Zum Umfeld dieses Orts gehören die Hochhäuser Prime Tower und Mobimo Tower,
mit denen sich Zürich neuerdings brüstet. Andere werden folgen. Auf dem
Heimweg schaute ich vom Sportweg her nochmals zurück. Da präsentierten
sich die beiden Türme zusammen mit dem Migros-Hochhaus Herdern
zu einer direkt liebenswürdigen Dreiergruppe. Wie wenn sie mit einander
im Gespräch wären. Ich meinte, sie fragen zu hören: Wer von uns ist der
grösste?
Das Gebiet Sportweg sei auch noch erwähnt. Auch es grundsätzlich
ein Schrebergärtenareal. Mit vielen Wegen, schmalen Strassen, grösseren
und kleineren Hütten. Abbruch-Firmen lagerten hier noch verwendbares
Baumaterial. Hier suchte man z. B. nach einem Lavabo, gut erhaltenen
Fenstern, Elektromaterial, usw. Es war ein schummeriger Ort, verkommen,
ungepflegt, bei Regen verschlammt, bei Trockenheit voller Staub. Primo
erinnert sich gut an den erdigen Geruch, der sich hier verströmte. Und
an die interessanten Menschen, die dieses Ghetto belebten. Gärtner,
Handwerker, Tüftler und Clochards. Diese Siedlung ist im Gelände des
Engros-Marktes untergegangen.
Bald untergehen wird wohl auch das Gebäude der Seifensiederei Kolb an der Förrlibuckstrasse. Schon lange ist hier die Produktion eingestellt. Der Raum wird jetzt für Partys benützt.
Alle kleinen Nischengewerbe sind ausgestorben. Man braucht sie
nicht mehr. Hütten und Häuser wurden abgebrochen, die Erde umgegraben,
die Spuren verwischt. Es leben nur noch die Bilder in jenen Menschen,
die hier alt geworden sind. Und bald können nicht einmal mehr Fotos das
Leben von einst fühlbar oder zumindest verständlich machen.