Sonntag, 9. Januar 2011

Wald ZH & Hallwil: Mit Brauchtumsfiguren auf Tuchfühlung

Silvester und Neujahr scheinen am Jahresende die abschliessenden Feste zu sein, doch gehört auch die Ankunft der drei Könige aus dem Morgenland zur Weihnachtsgeschichte. Darum feiern die orthodoxen Christen ihr Weihnachtsfest erst am 6. Januar. An diesem Tag gedenkt die katholische Kirche ebenfalls der Ankunft der 3 Weisen im Fest Epiphanie.
 
Und am 13. Januar geben die Appenzeller immer noch ihrem „alten Silvester“ die Ehre. Sie weigerten sich 1582, die damalige Kalenderreform anzunehmen. Obwohl sie schon längst auch zur üblichen Kalenderordnung gefunden haben, orientieren sie sich aber für ihren Silvester immer noch am Julianischen Kalender. Diese Feier steht noch bevor. Längst ist sie zu einem Magnet geworden. Die Kläuse, die an diesem Tag in Urnäsch AR unterwegs sind, geben den Blick frei in die vorchristliche Zeit.
 
Wer sie einmal gesehen und gehört hat, wird sie nicht mehr vergessen. Die schönen Kläuse bezaubern mit den kunstvollen Aufbauten, die sie auf ihren Köpfen tragen. Es sind Frauengestalten, die von Männern verkörpert werden. Die „Schö-Wüeschte“ (die nicht ganz Hässlichen) oder die „Wüeschte“ (Furchterregenden) widmen sich dem Vertreiben von bösen Geistern. Zum Ritual dieser Kläuse gehören die Zäuerli, die den Appenzellern eigene Art des Naturjodels. Diese ergreifenden Klänge müssen liebenswürdige Geisterbeschwörungen sein.
Am Tag vor Silvester meldeten sich plötzlich auch die Schnappesel aus Wald (Kanton Zürich) wieder bei uns. Nicht persönlich. Durch einen Zufall. Die Tochter Letizia googelte im Internet den Begriff „Schnappesel“ und landete auf der Homepage von „sunneland-oberland“. Sie staunte, dass da ihre Mutter zum gesuchten Begriff zitiert wird. Es war mir, als hätten mich diese Brauchtumsgestalten gerufen, auch wieder einmal beim Schlusstanz dabei zu sein. Es stand uns kein anderes Programm im Weg, und so fuhren wir am Silvesternachmittag nach Wald im Zürcher Oberland. Und gleich weiter im Postauto nach Faltigberg, dem Ort der Höhenklinik. Der Tag war auch hier trüb, und doch überraschte uns die Aussicht ins Tal, auf die gegenüberliegenden Hügelzüge, nach Dietzikon und Laupen und sogar bis zur Linthebene hin. Weiss der Schnee, grau und schwarz die Bäume und Landschaft. Ein sehr schönes Bild.
 
Wir schlenderten der Klinik entlang zum Wald hin und trafen dort auf 2 Figuren aus Schnee: ein Schneemann der üblichen und eine Frauenfigur ganz eigentümlicher Art, eine Schneefrau. Ich war elektrisiert. Es schien, diese Figur würde leben. Obwohl aus Schnee gebaut, hätte sie eine Brauchtumsfigur sein können. Ich ging ihr entgegen, wusste sofort, dass sie Gret heisse, Waldgret. Sie lachte. Sie lacht noch heute. Ich habe mich nämlich neben ihr fotografieren lassen. So kann ich auch exakt beschreiben, was sie auszeichnet: ein schön gerundeter Kopf mit dickem Hals, der Körper als Frauenkörper erkennbar, eine wohlproportionierte Taille, ein etwas nach aussen gestellter Rock. Der rechte Arm hält einen feingliedrigen, besenartigen Ast in der Hand. Auf dem Kopf trägt sie einen diademartigen Schmuck aus Tannnadelsprossen. Als Augen wurden ihr trockene Blätter in die Augenhöhlen gesteckt. 2 ungleiche, trichterartige Blätter, die dem Gesicht jene Lebendigkeit geben, die mich angesprochen hat. Auch der Mund ist mit einem länglichen, leicht gebogenen Blatt gestaltet, und diese Form weist die Waldgret als eine humorvolle, verschmitzte Persönlichkeit aus. Dank der Digitalkamera kann ich sie hin und wieder in meinem Computer begrüssen.

Zurück im Dorf, besuchten wir noch den Friedhof, auf dessen Gräbern viele lebendige Lichter flackerten und auch einen prächtigen Christbaum erleuchteten. Wir fanden da eine festliche, ganz und gar nicht tote Stimmung und konnten noch einer lieben Verwandten das Kerzengefäss aus dem Schnee befreien und das Licht darin anzünden. Von den Aussenwachten her hörten wir Schnappesel und Kläuse sich dem Dorfkern nähern. Es war Zeit, sich zuerst beim Bahnhof einzufinden und von dort aus die 7 Klaus-/Schnappeselpaare zum Schwertplatz zu begleiten, wo dann der Schlusstanz stattfand. Wir bewunderten deren ganztägigen Einsatz. Die körperliche Leistung besonders jener Männer, die den Glockenkranz tragen mussten, ist enorm. Der Festplatz vor dem Gasthaus Schwert war gefüllt. Man sah viele Familien und viele Kinder auf den Schultern ihrer Väter. Die Begeisterung aller und eine Art Verzauberung waren auch diesmal wieder zu spüren. Und für uns löste ein Ereignis das andere ab.
 
Auf einen Hinweis von Radio DRS 1 fuhren wir am 2. Januar 2011 nach Hallwil (Kanton Aargau), um noch das Bärzelitreiben zu erleben. Ohne Kenntnis des Orts liefen wir den wilden Gesellen gleich in die Arme. Ein Ausweichen war unmöglich. Ich kann mich nur an 3 Gestalten erinnern, die auf mich zukamen. Ein Strohmann, ein „Hobelspäniger“ und das Stechpalmenungeheuer. Jemand hielt eine Sammelbüchse vor mich hin. Als ich einen Batzen hineingeworfen hatte, wurde ich gleich vom „Stechpalmenen" gepackt. Erst später erlebte ich, wie die jungen Frauen kreischten und davonrannten, wenn ihnen die wilden Gesellen nachstellten. Aber ich als Grossmutter wurde zwar für einige Augenblicke in der stacheligen Umarmung gefangen gehalten, aber mir wurde freundlich „Ä guets Nöis Jahr" gewünscht, derweil Primo vom Strohmann gepackt und geschüttelt wurde. Kaum befreit, wurde auch er noch vom „Stechpalmenen" überfallen und ebenfalls mit einem wohlwollenden Glückwunsch und stacheligem Druck beschenkt. Die Dorfjugend führte den Umzug an, allen voran ein König. Nach und nach bewunderten wir den „Hobelspänigen", eine Figur, die rundum mit Hobelspänen bedeckt war, ebenso eine Gestalt mit einem Gewand voller Schneckenhäuser bekleidet. Es ging auch ein Kamel daher. Unter grobem Sackleinen marschierten 2 Männer und markierten sowohl die Beine wie auch die Höcker des Tiers. Vor ihnen her ging ein Mohr und führte sie.
 
Es gab Burschen, die Saublatern schwangen und einen treffen wollten. Der Begriff „Die Sau herauslassen" passte dazu. Nachdem nochmals ein Obolus in die Kasse fiel, wurden wir nicht mehr angegriffen.
 
Als wir dann später auf der Station auf die Seetalbahn warteten, wurden wir gefragt, woher wir kämen und wie es uns hier gefallen habe. Gut! Wir haben ein lustvolles, unverdorbenes Treiben gesehen, das der Jugend Spass macht und ihr Zusammenhalt gibt. Als ich erzählte, wir seien vom „Stechpalmenen" gepackt worden, sagte der Mann: „Siiie! Das bringt Glück!" So sind wir gespannt, wann und wo es sich im Lauf dieses neuen Jahres dann zeigen wird.

Samstag, 1. Januar 2011

In jedes neue Jahr nehmen wir die alten Erinnerungen mit

Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich gern. Sie sind mit dem Atemholen vergleichbar. Das Fest ist verklungen. Die Enkelkinder sind abgereist. Nach und nach findet unsere Wohnung zur alten Form zurück. Das Massenlager ist aufgehoben. Die Energie erlebnishungriger Kinder ist verflogen. Es ist still. Still auch ganz besonders, weil es jetzt wieder schneit.
 
Jetzt können sich die Erlebnisse in mir niederlassen, ihren Platz finden und mich dann in Ruhe lassen. Je älter ich werde, desto langsamer verlaufen die entsprechenden Prozesse. Erst danach fallen alle Anspannungen von mir ab.
 
Betrete ich aber unsere Stube, ist die Stimmung mit den Kindern wieder da. Hier steht doch noch unser prächtiger Christbaum, und um ihn tanzen die Erlebnisse des Heiligen Abends. Der Baum scheint die Freude immer noch auszustrahlen, dass er hier sein kann. Seine Nadeln und sein Harz duften. Er ist eben ein ganz besonderes Exemplar. Eines mit einem Vorleben.
 
Primo entdeckte ihn kurz vor Weihnachten in einer grossen Abfallmulde im Umfeld seiner Werkstatt und der benachbarten Event-Hallen. 5 Meter hoch, aufrecht gewachsen, stark, etliche Jahre alt. Gesund und schön. Und doch weggeworfen, rücksichtslos entsorgt. Dass er für weihnachtliche Stimmung einer Geschäftsfeier dienen musste, bezeugen die Beigaben im Containergrab. Ein paar rote und silberne Kugeln, grosse Schneesterne aus Karton und meterweise wattierter weisser Stoff.
 
Primo hat in seinem Berufsleben viele Parkbäume, die hätten geschreddert werden müssen, gerettet und aus ihrem Holz Raritäten hergestellt. Verständlich, dass ihn das Schicksal dieser Tanne im Abfallcontainer berührt hat. Er rettete auch sie und brachte sie heim. Vordem schnitt er sie auf die Masse unserer Stube zu und brachte auch die abgeschnittenen Äste heim. Diese schichtete er am Boden um den Stamm herum auf. Nichts ging verloren, was zum Baum gehört hatte. Entstanden ist eine ausstrahlende, dem Fest würdige Persönlichkeit.
 
Es gab viele Jubelrufe – „Oh wie schön! Oh wie schön!“ – als wir die Stube betraten und die Kinder im Glauben liessen, das Christkind hätte den Baum gebracht. Da gab es keine Zweifel, auch für die Erwachsenen nicht. Wohl können wir einen Baum in die Stube stellen, doch der Glanz, den ihm die flackernden Lichter bescheren, der kommt von anderswo her. Die Enkelkinder erlebten erstmals lebendiges Kerzenlicht und sie staunten.
 
Und vor diesem Baum sangen Mena und Nora Weihnachtslieder, deutsch und französisch. Sie hielten sich an den Händen. Ihre Freude, hier singen zu können, war gross.
 
Gerne wüsste ich, welche Momente in ihren Herzen einen ewigen Platz gefunden haben, von denen sie als Erwachsene dann erzählen. Für jetzt aber muss mir der Glanz, den ich in ihren Augen gesehen habe, genügen.
 
Nora hatte irgendwo den Ausdruck „Du meine Güte!“ aufgefangen. Schnell begriff sie, dass wir es lustig fanden, wenn sie ihn an mehr oder weniger passenden Stellen anbrachte. Sie verwendete ihn nicht in Momenten, die erschreckten. Für sie ist diese Güte Ausdruck einer heiteren Überraschung. Und doch habe ich ihn am Weihnachtsfest nicht gehört. Für ein solches Fest kannte sie noch keine Worte.
 
Auch das neue Jahr kennen wir noch nicht. Ich benütze die Gelegenheit, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, zum Übergang ins Jahr 2011 von Herzen alles Gute zu wünschen.