In einer Zeitschrift stiess ich dieser Tage auf die Besprechung
eines Weihnachtsgeschichtenbuchs, das mir gerade noch gefehlt hatte.
Einerseits soll ich die Enkelkinder mit Geschichten füllen, wie meine
Tochter dies aussprach, andererseits tauche ich immer wieder gerne in
alte Weihnachtsgeschichten ein, weil sie weniger rational gestaltet
sind. Mir gefallen Geschichten, die der Seele gut tun. Solche, in denen
wir miterleben können, wie sich Menschen verändern, wie Wundersames
geschieht und solches noch mit nüchternen Überlegungen erklärt werden
kann.
Das im Verlag Urachhaus erschienene Buch „Als Weihnachten beinahe ausgefallen wäre“ konnte ich kaufen. Vom Kapitel „Advent im Rauhen Haus" will ich erzählen.
Es geht hier um verwahrloste Kinder und Jugendliche aus dem
Armenviertel von Hamburg in der Zeit ab 1832. In der Geschichte wird
erzählt, dass ein Johann Hinrich Wichern das sogenannte „Ruges Hus“
(Raues Haus) ins Leben rief. Ein Zuhause für Kinder, die kein eigenes
mehr hatten. Wir können uns damalige Armut und Verwahrlosung wohl kaum
vorstellen. Solche Kinder aufzunehmen und sie zu einem menschenwürdigen
Leben hinführen, erfordert ein ganz grosses Charisma.
In diesem Rauhen Haus galt die Losung, dass man eine Familie
und jeder jedem Bruder sei. Aber die Jungen aus schlimmstem sozialen
Elend waren noch nicht fähig, solche Forderung zu erfüllen. 2 ungefähr
gleich starke Burschen beanspruchten die Führung. Beiden folgten
ungefähr je die Hälfte der Buben. Es wurde gestritten, einander geplagt.
Es muss eine hochaufgeladene Stimmung geherrscht haben, die zu jenem
Zeitpunkt niemand entschärfen konnte. Einer der Anführer hatte sich eine
Kerze beschafft und drohte, bald werde es brennen. Schlussendlich
beschafften sich alle Knaben, auch jene der Gegnergruppe, eine Kerze.
Und niemand wusste eigentlich, was denn brennen sollte.
Und dann war es ein kleines Kind, das die Atmosphäre entspannte.
Als die Frau, die den Kindern jeweils das Frühstück zubereitete, an
einem Morgen auf dem Weg ins Rauhe Haus unterwegs war, fand sie
auf der Strasse ein kleines, dunkelhäutiges Kind, fast nackt auf der
Strasse liegen. Sie hob es auf, nahm es an ihren Arbeitsort mit. Dort
wurde der Kleine in der warmen Stube in den Holzkorb gelegt. Und ab
diesem Moment hörten die Raufereien unter den Burschen auf. Sie achteten
darauf, dass es diesem kleinen Gast gut gehe. Gab es doch noch Streit,
fing der Kleine zu brüllen an und bewirkte, dass sie sich beruhigten.
Die Händel rückten nun weg von ihnen. Dieser neugeborene Mensch
verwandelte sie, weil er klein und verwundbar war, aber auch, weil er
immer wieder auf sich und sein Wohl aufmerksam machte. Sie lernten die
Ehrfurcht vor dem Leben kennen. Die Burschen setzten sich zu ihm neben
den Holzkorb und schauten nach ihm, fühlten sich vielleicht
verantwortlich. Einmal stimmte Vater Johann ein Adventslied an und die
Burschen sangen mit. Der Kleine aber, solcher Stimmung fremd, weinte und
schluchzte. Einer der Rädelsführer holte nun seine Kerze aus dem
Hosensack, entzündete sie am Ofen, brachte sie dem Kleinen vor die Augen
und beruhigte ihn augenblicklich. Und weiter heisst es in der
Geschichte, Vater Johann sei behilflich gewesen, dass die Kerze am
Korbrand sicher befestigt wurde, damit der Kleine das beruhigende Licht
und seine Bewegung gut sehen könne. Und dann sei noch ein zum Holzkorb
passendes Gestell gebaut worden, auf dem dann nach und nach täglich eine
weitere Kerze aus einem der Hosensäcke dazu kam.
Und das sei die Geburtsstunde des Adventskranzes gewesen, hiess es.
Wicherns Kranz ist aber lichtvoller als derjenige in der Schweiz. Er
trägt je eine Kerze für jeden Tag im Advent.
Noch vor Jahren hätte ich diese Erzählung einfach als eine
erbauende Geschichte aufgefasst. Aber heute, mit dem Zugang zum
Internet, habe ich dort bestätigt gefunden, dass es dieses Rauhe Haus gegeben
hat und immer noch gibt. Mit grossem Interesse habe ich die
entsprechenden Beiträge über Johann Hinrich Wichern gelesen. Er lebte
von 1808 bis 1881 und wird als bedeutendste sozialpolitische
Persönlichkeit der evangelischen Diakonie in Deutschland bezeichnet. War
er mit unserem schweizerischen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi 1746‒1828 seelenverwandt?
Im Internet wird übrigens ebenfalls darauf hingewiesen, dass der Adventskranzbrauch 1839 von Wichern im Rauhen Haus eingeführt worden sei.