Donnerstag, 21. Oktober 2010

Briefe nach Norwegen, als es noch keine E-Mails gab

Brit brachte Frakfisk (Gärfisch), braunen Käse und Moltebeeren mit. Sie besuchte uns wieder einmal. Seitdem sie innert 5 ½ Jahren 6 Mal Grossmutter geworden ist, reist sie weniger. Als pensionierte Primarlehrerin kümmert sie sich heute gerne um ihre Enkel.
 
Wir haben uns kennengelernt, weil ich vor 35 Jahren in einem norwegischen Hausfrauenblatt meinen Wunsch platzieren konnte, mit einer Norwegerin Briefe zu tauschen. Brit meldete sich. Die Frau vom Nachbarshof hatte sie darauf aufmerksam gemacht, brachte ihr die Annonce, war überzeugt, dass sie einen solchen Wunsch erfüllen könne.
Wir liessen einander am eigenen Leben teilhaben, berichteten über unser Land, seine Menschen, seine Geografie und Kultur. Es waren immer besondere Momente, wenn Post aus Norwegen eintraf. Viele aussagekräftige Postkarten und lange Briefe sind hin- und hergeflogen.
 
Vor Monaten schrieb sie: „Ich habe Heimweh nach der Schweiz." Und als sie wieder einmal da war, sagte sie unvermittelt, es könnte sein, dass sie zum letzten Mal gekommen sei. Unsere Lebenszeit sei vielleicht bald abgelaufen. Jetzt wollte sie nochmals über alles reden, was sie bewegte. In ihrem Dorf habe sie wohl eine Freundin, aber mit ihr könne sie nur über die Handarbeit sprechen. Die beiden stricken miteinander, tauschen Modelle und Muster aus. Sie stellte mir wieder viele, ganz persönliche Fragen. Sinnfragen, Fragen zur Ehe und Familie, Fragen zur Gesundheit usw. Sie erzählte von ihren Töchtern, dem Sohn und den Enkelkindern. Und sie sinnierte darüber, warum zwischen uns beiden nichts störe. Die Antwort gab sie sich gleich selber, nachdem sie die Frage ausgesprochen hatte: Weil wir den Alltag nicht miteinander teilen müssen.
 
Solche Freundschaften, die eben nicht anecken, sind ein besonderes Geschenk. Auch für mich. In Briefen konnte ich, ähnlich wie in den Blogs, etwas beschreiben, was ich so nicht hätte erzählen können. Zu detailreich für ein Gespräch und da, wo ich lebe, weiss man über mein Land Bescheid. Gedanken in einem Brief zusammenfassen, erzählen, wie mein Leben gerade jetzt aussieht, das mache ich immer noch gern. Und wenn sich jemand darüber freut, ist es sinnvoll.
 
Wenn ich morgen den Gärfisch auftische, werden starke Fischgerüche um uns sein. Dieser Fisch ist dominant. Dank ihm können wir uns für eine Weile in Norwegen fühlen. Erinnerungen werden aufsteigen, Reiseerlebnisse erwachen. Dann stehen wir vielleicht in Oslo am Strand und essen Crevetten aus der Tüte.
 
Im Internet habe ich soeben ein Rezept für die norwegischen „Lefsen" entdeckt. Eine Art Omelette, die uns Brits Schwiegermutter seinerzeit auf ihrem Hof zum „Höchsttagskaffee" auftischte. So wurde damals die Zwischenmahlzeit um 12 h mittags genannt. Ein schöner Begriff, vielleicht nicht ganz korrekt ins Deutsche übersetzt. Für mich gut verständlich. Wir konnten uns zum Zeitpunkt, als die Sonne am höchsten stand, mit Lefsen stärken.
 
Vom braunen Käse, ebenfalls aus Norwegen, haben wir schon genascht. Sein Caramelaroma ist hier unbekannt. Und aufs Butterbrot gibt es – solange Vorrat – wieder Konfitüre aus Moltebeeren. Damals durften wir in einem heideartigen Gebiet nach diesen gelb-orangen Beeren suchen und sie pflücken. In der Form ähneln sie unseren Brombeeren. Sie wachsen nur wenige Zentimeter über dem Boden. Als wir diese köstlichen Beeren kennenlernten, stand sogar in Brits Tageszeitung , dass diese jetzt reif seien. Ein Aufruf zum Pflücken.
 
Auch in der Schweiz gibt es Erinnerungen. Brit bereiste mit uns einmal das Wallis und anschliessend den Gotthard. Ein prägendes Erlebnis, aus dem viel Verständnis für unsere Verkehrsprobleme erwachsen ist. Und besonders der „Kafi fertig" (Kaffee mit Schnaps) blieb in Erinnerung. Mit ihm feierten wir die Ankunft im Gotthard-Hospiz. Brit, die bis dahin keinen Alkohol trank, entschuldigte sich bei sich selber mit dem Humor ihres Schwiegervaters, der dieses Getränk „Doktor-Kaffee" nennt. Sie rief sogar einen Gast an unseren Tisch, damit er sie in der Gesellschaft mit Primo und mir und dem Entspannungstrunk fotografierte.
 
Nun ist sie wieder heimgereist. Mir fehlt ihr Singen. Manchmal hörte ich aus dem Gästezimmer ein paar Takte eines Volksliedes, nur so hingeworfen, wie Blätter fallen. Auch in der Bahn, als sie den Rhein sah, stimmte sie unerwartet ein ihm gewidmetes deutsches Volkslied an. Sie hatte es als Kind in der Schule im Deutschunterricht gelernt.
 
Auch wenn ich nicht weiss, ob sie nochmals hieher kommen wird oder wir zu ihr nach Norwegen reisen werden, unser Briefkontakt wird fortfahrend bestehen. Dieses Wort „fortfahrend" ist eines, das mir Brit beigebracht hat.

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Stätten der Etrusker und der Tarot-Garten in Capalbio

Ferien. Hinter dieses Wort setzte Walter Hess kürzlich die französischen, sehr ähnlich klingenden Worte „fait rien“. Sinngemäss übersetzt : „mach nichts“. Ein origineller Sprachwitz. Ob die Aussage aber stimmt? Machen wir in den Ferien nichts?
 
Nach meiner Erfahrung ruhen jeweils nur die alltäglichen Pflichten, und diese tauschen wir gegen andere Anstrengungen und manchmal sogar Strapazen ein. Wirklich nichts tun ist ebenfalls anstrengend, vielleicht sogar unmöglich.
Ich bin von einer Italienreise zurückgekehrt und noch immer am Verdauen des Geschauten und Gehörten. Ich erlebte sie frei von persönlichen Verpflichtungen, aber mit grossem Anspruch an die eigene Aufnahmefähigkeit. Meine/unsere Reise führte als Gruppe mit 27 Personen in die Maremma (südliche Toscana) zu den Etruskern. Ich masse mir jetzt nicht an, kunsthistorisch oder geschichtlich darüber zu berichten. Aber erzählen möchte ich, wie die Zeugen der etruskischen Kultur auf mich gewirkt haben.
 
Sie haben meinen Blick auf die Römer verändert. Jetzt weiss ich, dass sie die etruskische Kultur aufgesogen und nur weitergeführt haben. Vieles von dem, was ich in jungen Jahren als römische Kunst bezeichnet vermittelt bekam, schufen die Etrusker. Dieses Volk, von dem die Römer schon vor ihrer Eingemeindung Jahrhunderte lang profitiert hatten, wurde ab dem Jahr 40 vor unserer Zeitrechnung endgültig romanisiert.
 
Gegenwärtig wird das kulturelle Erbe in jenen Menschen weiterleben, die dem Volk der Etrusker entstammen. Ihre Handwerker waren virtuose Künstler. Die Darstellung von Schönheit und Anmut drückten sie lebensfreudig aus. Sie waren Ästheten zu einer Zeit, als in der Schweiz Pfahlbauer noch in grobem Leinen oder in Pelzbekleidung daherkamen. Ihre Adeligen stellten die Etrusker auf Fresken oder als Statuen aus Marmor dar. Bewundernswert die Fähigkeit, die leicht fallende, edle Bekleidung im Marmor darzustellen.
 
In Beschreibungen werden die Etrusker manchmal als zügelloses Volk beschrieben. Aus welcher Perspektive wurde das gedacht? Kann ein Volk so vollendete Schönheit darstellen, Mann und Frau einander ebenbürtig behandeln und intensiven Kontakt zu seinen Göttern pflegen, wenn es sittenlos ist? Das glaube ich nicht. Die Etrusker bebauten das Land, sorgten für die Ernährung, hielten Tiere und kannten die normale Fruchtbarkeitsfolge allen Lebens. In diesem Sinn mögen sie auch die Sexualität verstanden und Lebensfreude gelebt haben. Moral und Ethik, Leben nach dem Tod, also auch Verantwortung, müssen meines Erachtens zu ihren Lebensthemen gehört haben.
 
In Vulci fand ich die Darstellung eines Engels, vermutlich einer weiblichen Gottheit, die mich in dieser Ansicht bestätigt. Auf einer simplen Holzplatte war eines der verwitterten Fresken aus der „Tomba François“ reproduziert und ergänzt dargestellt. Das Bild packte mich. Da steht neben einem Krieger, dem offenbar im nächsten Augenblick der Kopf abgeschlagen werden soll, diese Schutzgottheit. Ihr Antlitz ist unglaublich mild und ebenso unglaublich stark und sicher für die Entscheidung, die sie sogleich fällen wird. Ihre Macht ist Hilfe. Sie ist befähigt, gewissen Situationen im Leben oder im Kampf eine neue Richtung zu geben. Sie tritt hinter dem Peiniger hervor. Sie verhilft dem Mitgefühl und der Menschenliebe zum Durchbruch. Da wo sie hintritt, wird alles anders. Der vordem Mächtige wird machtlos.
 
Ebenfalls in Vulci trafen wir im Archäologischen Museum im ehemaligen Zisterzienserkloster auf verschiedene Sarkophage, auf deren Deckeln der oder die Verstorbene in Stein gehauen verewigt sind.
 
In dieser Ausstellung stehen diese Steinsärge ungeschützt im Raum, und die dargestellten Menschen sind den Besuchern nahe. Da stand ich und wartete, dass sich die Nasenflügel eines Mannes bewegen würden und dass er mit uns ins Gespräch käme. So lebendig sind hier die Persönlichkeiten dargestellt. In diesem Museum wurde auch ein Lichtbild einer Gruppe Sarkophage gezeigt, wie sie in einer Nekropole aufgefunden worden sind. Eine grosse Familie, alle in der gewohnt vornehm liegenden Haltung. Sie schauten aufeinander, schienen zu feiern und sich über die neue Heimat in der jenseitigen Welt zu freuen. Ein ergreifendes Bild.
 
Von den Etruskern ist ihr gutes Verhältnis zu zahlreichen Göttern bekannt. Die Priester pflegten die Lehre von der Interpretation göttlicher Signale wie die Formen von Blitzen, der Leberschau und des Vogelflugs. Diese Priester standen in hohem Ansehen, auch bei den Römern, die ihre Dienste für die eigenen wichtigen Entscheidungen gerne in Anspruch nahmen.
 
Nach etruskischer Lehre stand jeder Kultur eine eigene, ähnliche Lebenszeit zu, wie es zu uns Menschen gehört (Geburt, Wachstum, Entfaltung, Tod). Nach einer alten Weissagung wussten sie, dass die ihre ungefähr 800 Jahre alt würde. Ihre Herrschaftszeit von zirka 800 bis 100 Jahre v. u.Z. kommt der Voraussage nahe.
 
Noch schlafen viele Schätze in Gräbern unter der Erde. Bis heute seien die Ausgrabungen erst zu einem Drittel ausgeführt, erfuhren wir.
 
Unsere täglichen Ausflüge führten uns durch das dünn besiedelte Land der südlichen Toscana. Lange Fahrten zu Ausgrabungsstätten wurden nie langweilig. Die spannend aufgefaltete Landschaft mit ihren berühmten Erdfarben Umbra und Ocker, den locker verstreuten Bäumen, den Olivenhainen und den auf den Kreten platzierten Zypressen sog ich in mich auf. Ihre Lieblichkeit muss man einfach gern haben. Manchmal, auf dem Heimweg auf der Via Aurelia, sahen wir einen Streifen Meer golden aufscheinen. Begeistert hat uns auch der langgezogene Pinienwald, der den Strand begleitet und uns bei jeder Heimkehr unter sein pelziges Dach nahm.
Immer kehrten wir nach Grosseto-Maritima zurück. Im Hotel Ariston waren wir bestens aufgehoben und wurden ebenso bewirtet.
 
Unsere Ausflugsziele
Nekropole Roselle und Museo Archeologico e d 'Arte Grosseto:
In Roselle gingen wir auf einer Etruskerstrasse, die gut wahrnehmbar in eine römische Strasse überführte.
In Grosseto habe ich erstmals einen Granatapfelbaum mit reifenden Früchten gesehen.
 
Vulci:
Ruinenstadt. Grossräumiges Ausgrabungsgebiet, wo man sich verlaufen könnte.
Sowohl in Roselle wie hier in Vulci zeigten uns die noch erhaltenen Mosaikböden, dass die Römer diese Kunst von den Etruskern übernommen haben.
Kellergrab François.
Berühmt ist die imposante Bogenbrücke, die den Fluss Fiona überquert. Beliebtes Fotosujet.
Pittigliano:
Die allerschönste Stadt der Maremma. Auf einem mächtigen Felsen aus Tuffstein erbaut.
Ein Bild menschlicher Zusammengehörigkeit. Alle Häuser lehnen aneinander an. Mit jüdischer Synagoge. Ihre Gemeinde nennt den Ort „La Piccola Gerusalemme“.
 
Sovana:
Dies ein Bilderbuchort. Seine Piazza oder Strasse aus gebrannten Ziegelsteinen gestaltet.
Hochkant eingesetzt, zu Fischgrätenmuster gestaltet. Sehr speziell.
Grab l'Ildebranda, monumentale Tempelruine aus Tuffstein.
 
Tuscana:
Alter, lebhafter Ort mit Burgtürmen gegen Saraszenen.
In Tuscana besuchten wir 2 wunderschöne Kirchenräume San Pietro und Santa Maria Maggiore.
Räume voller Geistigkeit. Es finden in beiden Kirchen subtile Renovationen auf der Basis von Freiwilligenarbeit statt. Hier finden sich etruskische Symbole, die in die Christliche Kirche übernommen worden sind.
 
Castiglione della Pescaia:
Ort am Hügel und Meer. Mit altem Yachthafen. Sympathischer Ort, vermittelt Ferienstimmung.
 
Vetulonia:
Grosseto gegenüberliegend. Der Talgrund war zur Zeit der Etrusker ein See mit Zugang zum Meer. Prachtvolle Aussicht und Übersicht.
Niki Saint Phalles Giardino dei Tarocchi in Capalbio:
Die Werke dieser Künstlerin strahlen weltweit aus. In Zürich kennen wir sie wegen ihres grossen Schutzengels, der in der Bahnhofhalle über die Reisenden wacht.
Angaben zu ihrer Biografie und auch zum Thema Tarot finden sich im Internet.
 
Dass sie einen Garten zum Thema der Tarot-Karten erschaffen hat, wusste ich aus Filmen. Die Grösse aber überraschte mich enorm. Die Figuren ragen aus dem Blätterwald heraus und sind von weither sichtbar. Die Farben der Figuren sind stark. Einige schillern. An ihnen ist nicht so einfach vorbeizukommen. Sie dominieren den Ort und verlangen, dass wir nach ihrer Botschaft suchen.
 
Ich fragte mich, warum sie diesen Garten in Italien gebaut hat. Nachdem ich mich nun etwas mit der Religion der Etrusker befasst habe, vermute ich eine Seelenverwandtschaft. Niki de Saint Phalle kämpfte ein Leben lang für die Anerkennung der weiblichen Kräfte und deren Spiritualität und in der Etruskischen Religion wurde als höchste Gottheit „die grosse Mutter“ verehrt.
 
Ausser dem Eremiten und dem Partner „der Liebenden“ und einem Fabeltier habe ich an diesem Ort Figuren weiblichen Zuschnitts getroffen. Die Frau und Mutter, Lebensspenderin, Gebärerin mit übergrossen Brüsten steht im Zentrum. Die 1930 geborene Künstlerin kämpfte ein Leben lang mit aller Kraft gegen männliche Überheblichkeit.
 
Als wir in ihrem Garten ankamen, begleitete uns ein Führer durch die von Mario Botta gestaltete Schranke, die die Aussen- von der Innenwelt markiert. Dann begann es zu regnen, zu strömen. Der Mann, der uns begleitete, konnte gerade noch sagen, dass es für die Besuchenden von grosser Bedeutung sei, welche der Figuren wir zuerst betreten. Das Tarot ist ja bekanntlich auch ein Orakel und antwortet auf unsere unbewussten Entscheidungen. Und schon stand ich, eben wegen des Regens, gerade zuerst im Körper der „Kaiserin“. Es war Niki de Saint Phalles Lieblingsort. Hier sassen die Handwerker mit ihr zusammen, hier sei gegessen und um Lösungen vieler Arbeitsprobleme gerungen worden.
 
Da ich Niki de Saint Phalles Anliegen, ihre Arbeitsperioden und Arbeiten schon einigermassen gut kannte, schaute ich nicht nach ihrer Botschaft aus. Ich liess die Figuren fürs erste einmal einfach vom handwerklichen Standpunkt aus wirken. Und dieser ist grandios.
 
Das Zusammenfügen von farbigem Glas, von reiner Keramik, Spiegeln, verspiegeltem blauem und grünem Glas. Ich kann mich erinnern, dass es rosafarbene Spiegel gab und vielleicht noch gibt, damit die Haut pfirsichhaft erscheint. Blaues, grünes, gelbes Spiegelglas habe ich noch nie gesehen und bin doch im Haus einer Spiegelmanufaktur aufgewachsen. Das Material wurde offensichtlich von ihr noch erfunden. Das ist das Geheimnis der Figuren, dass ihre Flächen verschiedenartig ausstrahlen, schillern, aber auch Farben und Abbildungen von Pflanzen, Bäumen und Menschen brillant reflektieren.
 
Ich blieb lange im Haus dieser Kaiserin, wo die Spiegel mehrheitlich das sind, was wir Spiegel nennen. Aber zerstückelte und wieder zusammengefügte, um zu einem Körper zu werden, weg von der Fläche. Wie ich so stand, die Arbeit bewunderte und mich wunderte über die Ausdauer, die für solch gigantische Werke erforderlich sind, sah ich in den Spiegelspickeln Teile meiner roten Windjacke. Auf einer gewissen Bandbreite erschien mehrfach die gleiche Jackenpartie, oben und unten jedoch abgeschnitten und von anderen Spiegelungen verdrängt. Mein Gesicht sah ich nicht, weil die Wölbung des Raumes in eine Richtung gebogen wurde, die mich nicht mehr auffangen konnte.
 
Schön fand ich ein kreisrundes Fenster aus normalem Fensterglas, das dem total verspiegelten Innenraum einen Blick nach dem Garten gestattet. Das Grün eines Baumes kann durch diese Lukarne wahrgenommen werden.
 
Noch immer faszinierten mich die einzelnen Spiegelspickel, weil sie scheinbar ganz eigenwillig abbildeten, was ihnen so passte. Mir fiel ein, wie gut geeignet diese Schau sei, um einander zu erklären, dass wir uns nur als Teile eines Ganzen wahrnehmen können. Hier drinnen liegt es an den Spiegeln und an den Formen, an denen sie befestigt wurden, dass wir uns nicht als ganze Persönlichkeit sehen und darstellen können. Draussen aber ist es nicht anders. Da sind wir auch nur Spickel zum Beispiel von universellem Wissen, von Talenten, die nicht nur einem Menschen allein gehören. Wir sind verschieden gross, sehen die Umwelt von unserem persönlichen Standpunkt aus. Wir verkörpern nur eine Spiegelart oder nur eine nicht reflektierende Glasart mit einer satten Farbe. Zusammen aber sind wir das Ganze. Jedermann kann meine Erfahrung im Tarotgarten auch selber machen.
 
In der Nacht vor unserer Rückreise in die Schweiz befanden wir uns noch direkt im Auge eines ungewöhnlichen Gewitters. Blitz und Donner folgten sich Schlag auf Schlag. Ich fragte mich, ob vielleicht mein Leben in wenigen Sekunden beendet sei. Was kommt jetzt? fragte ich. Es wurde ruhiger und stiller.
 
Nach der Heimkehr schrieb ich als letzten Text ins Ferientagebuch:
 
Voll Vertrauen, aber ohne zu wissen, dass ich mich dem Vertrauen hingab, muss ich ins Meer gestiegen sein. Es hat mich aufgefangen, gepackt und herumgetrieben, mich in seinen Wellen sachte, aber auch wild herumgeschleudert, mich in die Tiefe mitgenommen, um mich nach Tagen lachend dem Land wieder zurückzugeben. Da lag ich dann am Boden im Sand, unversehrt rieb ich mir die Augen und sah, dass sich das Wasser längst zurückgezogen hatte. Ohne Gruss, ohne Abschied.
 
Das ist ein Bild, nicht die verbürgte Wahrheit, und doch habe ich die Tage in der Maremma so erlebt.