Mittwoch, 22. September 2010

Entscheidungen zwischen Schränken und dem Rollkoffer

Morgen früh fahren wir! Der Druck ist da. Wie üblich seufze ich beim Packen über die anstehenden Entscheidungen.
 
Gepackt wird bei uns immer erst kurz vor der Abreise. Die Erfahrung lehrte uns, dass dies die beste Version ist. Beginnen wir früh damit, besteht die Gefahr, dass wir Dinge, die schon im Koffer liegen, wieder hervorholen und dann vergessen, sie zurückzulegen.
 
So kommt es, dass ich alle Gedanken auf die Vorbereitung lange Zeit an mir vorbeiziehen lasse und trödle. Erst der Zeitdruck macht mich entscheidungsfähig.
 
Hilfreich sind mir dann die Wetterprognosen, die wir im Internet für 14 Tage abrufen können. Und doch: Immer diese Entscheidungen! Sie sind anspruchsvoll. Ich möchte für jedes Klima bestens vorgesorgt haben.
 
Sobald wir dann das Haus verlassen, sind es nullkommaplötzlich keine Probleme mehr. Ist die Wohnung abgeschlossen, arrangieren wir uns mit der getroffenen Wahl.
 
Dann wissen wir, dass die Ferien beginnen. Dass der Alltag hinter der Wohnungstür zurückbleibt. Dass keine geschäftlichen Termine anstehen. Dass wir es geniessen werden, etwas fremdbestimmt zu sein.
 
Wir reisen mit einer Gruppe. Das angebotene Programm „Auf den Spuren der Etrusker“ interessiert uns. Das Fremdbestimmtsein ist grundsätzlich kein Lieblingszustand in unserem Leben. Aber in den Ferien darf und soll er dazugehören. Anders wohnen, anders essen, anders schlafen. Und dem Meer ganz nahe sein.
 
Vieles sehen wir voraus. Davon sprechen auch die Intarsien, mit denen Primo die Einbände unserer Reisetagebücher gestaltet hat. Ich sehe da in seinen ganz und gar nicht gegenständlichen Dekorationen sich überlagernde Schichten, weite Horizonte, gewachsene Gebilde und vor allem auch südliche Farben. Mein Tagebuchdeckel ist für mich eine geöffnete Blume mit vielen Fächern, in denen Entdeckungen und Geheimnisse eingelagert sind.
 
Das kann ja schön werden!
 
So stellt sich für mich die Vorfreude ein.
 
Und jetzt: Pause beendet. Ich muss weitermachen. Wenn dann die Tagebücher in der Reisetasche obenauf liegen, dann sind alle Entscheidungen getroffen, und der Reissverschluss kann zugezogen werden.

Mittwoch, 15. September 2010

Ortsauskünfte – und schon sind Fremde an ihrem Ziel

Ein Mann meines Alters, ebenfalls an der Ampel auf Grün wartend, fragte mich nach der Tramlinie Nummer 3. Er sprach Englisch. Antworten konnte ich ihm nicht in seiner vertrauten Sprache, aber ich zeigte ihm den Weg zur Station und signalisierte, dass ich ihn bis dorthin begleiten könne. Er war erfreut. Ich erfuhr, dass er aus Australien komme und einen Freund an der Klosbachstrasse, hier in Zürich, besuchen möchte. Er zeigte mir einen Zettel mit der genauen Adresse und dem Hinweis auf die Tramlinie Nummer 3. Ebenso waren die Kosten für die Tramfahrt mit Fr. 2.– angegeben. Dann zeigte er mir eine kleine Übersetzungshilfe und schmunzelte dazu. Es war notiert, wie er sich auf deutsch bedanken könne. Kurz und bündig, sehr effizient.
 
Mich irritierte nur der notierte Fahrpreis. Ich löse selten einzelne Fahrkarten, trage immer ein Abonnement auf mir und bin ohnehin mehrheitlich mit dem Velo unterwegs. Für 2 Franken können wir heute doch nicht mehr Tram fahren, ging mir durch den Kopf. Was der Mann brauchte, war ein Einwegbillett für mehr als 5 Stationen. Und dieses koste 4 Franken, antwortete der Apparat. Diesen Preis hätte ich mir gern von einer hier anwesenden Person bestätigen lassen. Auf dieser wichtigen Umsteigstation standen viele Wartende, und einige von ihnen sprach ich auch an. Niemand konnte mir aber Auskunft geben. Die eine Frau war gerade aus Stuttgart angekommen, kenne sich hier nicht aus. Eine andere sagte, sie reise immer nur mit Tageskarten, löse keine Einzelbillette und der nächstfolgende Mann sprach kein Deutsch ...
 
Dann kam eine Dame, die uns beobachtet hatte, auf uns zu und konnte den Gast aus Australien auf Englisch ansprechen und ihm die Fragen beantworten. Er war sehr zufrieden, dass er von ihr deckungsgleiche Antworten erhielt. Dass der Billettautomat ebenfalls den gleichen Fahrpreis von 4 Franken errechnete. Dass die von mir angegebene Fahrtrichtung mit ihrer Auskunft übereinstimmte. Das stimmte ihn zuversichtlich. Die Reise sei anstrengend, hatte er schon vorher zu mir gesagt. Er führte auch ansehnliches Gepäck mit sich.
 
Er dankte herzlich und hatte gerade noch Zeit, zu sagen, er werde sich an den Wagenführer wenden, um sicher ans Ziel zu gelangen. Dann fuhr das Tram Nummer 3 ein und nahm ihn mit.
Ein Leben ohne Wegweiser, auch menschliche, ist undenkbar.
 
Als junge, noch nicht volljährige Frau kam ich nach Paris und musste viele Wege suchen und nach ihnen fragen. Als ich nach 1 ½ Jahren in die Schweiz zurück kam, nahm ich mir vor, jeder wegsuchenden Person zu helfen, als Dank für alle Hilfe, die ich damals erfahren hatte. Und daran habe ich mich bis heute gehalten. Und bis heute bin ich immer wieder darauf angewiesen, dass man auch mir hilft.

Sonntag, 5. September 2010

Spannende Suche nach Mats Staubs Erinnerungsbüro

Am 30. August 2010 hatte ich einen Hinweis auf die Arbeit des Künstlers Mats Staub erhalten. Er sammle seit Jahren Erinnerungen an Grosseltern und zeige vom 3. September bis 10. Oktober 2010 Teile davon im Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16 in Bern. Und im September werde auch sein Buch „Meine Grosseltern“ (Edition Patrik Frey) erscheinen. Es hiess dazu, diese Ausstellung dürfte mich interessieren. Und das sei der Link: „erinnerungsbuero.net“.
 
Was ich da sehen und lesen konnte, packte mich. Ich fing auch einen Hinweis auf, der Künstler zeige sein Erinnerungsbüro am Zürcher Theater Spektakel und lade ein, von den eigenen Grosseltern zu erzählen. Einer der gesammelten Pressestimmen entnahm ich den Hinweis, das Erinnerungsbüro könne noch bis zum 31. August auf der Landiwiese besucht werden. Also noch heute und morgen, stellte ich fest. Das traf sich gut. Ich konnte diese Ausstellung im letzten Moment besuchen. Der Ort war mir bestens bekannt, und ich wusste, dass das Theater Spektakel noch gastierte. Ich liess alles liegen und fuhr an den See.
 
Als ich auf der Landiwiese ankam, fand ich nicht, was ich suchte. Kein hölzerner Turm, wie er auf einer Filmsequenz im Internet zu sehen war. Weder der diensttuende Wächter an einem der Eingangstore noch die beiden Männer am Billettschalter wussten etwas von Erinnerungen an Grossmütter oder von Mats Staub. Sie durchsuchten erfolglos das umfangreiche Programmheft. Einer der beiden riet mir dann, im Container der Organisatoren vorzusprechen. Dort vorne links neben der alte Weide befinde sich ihr Büro. Und dort erfuhr ich dann, dass die von mir gesuchte Ton- und Fotoinstallation im Vorjahr auf diesem Kulturplatz eingerichtet worden sei. Richtig, sogar vor 2 Jahren, wie ich später feststellte. Innerhalb jenes Pressetexts, der für mich wegweisend war, wurde nur der 31. August, nicht aber die dazugehörige Jahreszahl genannt. Das sprach für die Gegenwart. Darum befand ich mich zur falschen Zeit an diesem Ort.
 
Ich war aber nicht vergebens gekommen. In diesem schlichten Büro mit den unkomplizierten Menschen erhielt ich den Hinweis, die Zeitung reformiert (Kirchenbote Kanton Zürich) habe sich in der neuesten Ausgabe Nr. 9 vom 27. August 2020 ebenfalls dem Thema der Grosseltern angenommen und über Mats Staub berichtet.
 
Auf dem Rückweg suchte ich den grössten Zeitungs- und Zeitschriftenkiosk von Zürich auf und fragte nach der Zeitung reformiert. Als Antwort erhielt ich, unabhängig voneinander, zweimal nur ein müdes Lächeln. Was nicht zum Mainstream gehört und noch auf Religion hinweist, wird belächelt, auch wenn es Format hat.
 
Ich habe weiter gesucht und bin in der evangelisch-reformierten Predigerkirche in der Zürcher Altstadt fündig geworden. Dort lag die Zeitung auf. Ich konnte ein Exemplar mitnehmen. Das erwähnte Thema Grosseltern wurde auf 7 Redaktorinnen und Redaktoren aufgeteilt. Sie erzählen in ihren Beiträgen die persönlichen Grosseltern-Geschichten und illustrieren sie mit alten Fotos einfühlsam und spannend. Zu lesen auch auf www.reformiert.info.
 
Von solchen Geschichten lasse ich mich gern ansprechen. Sie werten sogar die eigenen auf und machen bewusst, wie einmalig sie sind und dass wir ein Glied in einer unvorstellbar langen Kette sind. „Leben heisst Ahnen haben“ steht über dem Dossier „Die Grosseltern“ in der erwähnten Zeitung.
 
Und vom 3. September bis 10. Oktober 2010 zeigt nun das Museum für Kommunikation in Bern die von mir gesuchte und wohl erweiterte Ausstellung „Meine Grosseltern – Alte Geschichten in Bild und Ton“. Da sie vor 2 Jahren ausserordentlich viele Menschen anzog, dürfte sie auch jetzt wieder ein Magnet sein.
 
Das Thema Grosseltern wird gegenwärtig so positiv behandelt, weil die „Alten“ heute viel Betreuungsarbeit leisten. Es wird von jährlich 100 Millionen Betreuungsstunden gesprochen. Ohne Grosseltern könnten heute viele jungen Mütter ihre Berufsarbeit nicht ausüben.
 
Auch meine Mutter war auf ihre Mutter angewiesen, damit sie Geld verdienen konnte. Wenige Wochen alt, kam ich zu ihr, als der 2. Weltkrieg ausgebrochen war. Von einem Tag auf den anderen hatten meine Eltern ihre Existenz verloren. Die Mobilmachung zog den Vater aus der Familie fort. Er musste Aktivdienst leisten. 9 Monate dauerte sein erster Einsatz. Eine Lohnentschädigung stand ihm nicht zu, weil er Selbständigerwerbender war.
 
Bis zu Grosis Tod fühlte ich immer eine grosse Geborgenheit, wenn ich sie besuchte. Die positive Kraft, die sie für mich ausströmte, blieb ihr Leben lang erhalten. Ich führe es darauf zurück, dass erste Lebenserfahrungen in ihrem Umfeld stattfanden. Sie kümmerte sich um mich. Sie half mir auf die Beine. In ihrem Haus lernte ich laufen. Im Winter zog sie mich auf dem Schlitten ins Dorf. Sie war für mich der ruhige Pol, eine ausgeglichene und geduldige Frau und in diesem Sinn eine starke Persönlichkeit. Sie brachte 9 Kinder lebend zur Welt. Zwillinge starben vermutlich noch im Mutterleib. An ihrem Arbeitsplatz in der Weberei liefen die Webstühle noch an einer Transmission und waren mit Lederriemen verbunden. Ein mit einer kleinen Reparatur beschäftigter Webermeister kam einem Transportriemen zu nahe, dieser riss ihn in die Höhe und verklemmte ihn in der Transmission. Dieses Unglück erlebte mein Grosi als schwangere Frau hautnah mit. Wahrscheinlich tötete der Schock die im Mutterleib heranwachsenden Kinder. Es stellten sich Blutungen ein. Tage später dann Wehen. Unter schlimmsten Schmerzen kamen 2 Knaben tot zur Welt.
 
Grosis älteste Tochter hat diese Geschichte für die Familie aufgeschrieben. Es heisst da: Heute würde eine so verunglückte Frau sofort ins Spital gebracht. Damals gab ihr der Hausarzt ein blutstillendes Mittel und überliess sie dem Schicksal. In diesem Bericht wird auch noch davon erzählt, wie der Arzt dann nach der Geburt auf sie gekniet sei, um die Nachgeburt auszukratzen. Eine fürchterliche Prozedur, natürlich ohne Narkose.
 
Was haben die Frauen von damals alles aushalten müssen!