Montag, 26. Juli 2010

„Poisson rouge“: Der rote Fisch ist Liebling vieler Kinder

Die handschriftliche doppelte RUF-Buchhaltung, wie ich sie vor mehr als 50 Jahren in der Handelsschule des Kaufmännischen Vereins Zürich erlernte, führe ich immer noch im gleichen Stil für unseren Handwerksbetrieb. Der Computer konnte sie offensichtlich auch andernorts noch nicht vollkommen verdrängen. Bis jetzt habe ich jedenfalls die dafür erforderlichen Formulare immer noch kaufen können. Und die Art der Buchhaltung entspricht mir sehr.
 
Als die 4-jährige Nora bei uns in den Sommerferien weilte, zeigte ich ihr die Grundplatte dieser Einrichtung und den Mechanismus dazu. Und wie mir ihre Mama (Felicitas), als sie selbst noch ein kleines Kind war, beim Buchen half. Ich spannte das Journal ein, legte das Pauspapier darüber und fixierte dieses gemeinsam mit der dafür vorhandenen Klemmvorrichtung. Die darüber eingerichtete bewegliche Leiste wird für die Konti gebraucht. Sie hält dieses für die einzelnen Buchungen fest. Nach jeder gebuchten Zeile wird der Zeiger, der auf die nächste freie Zeile verweisen muss, um 1 Schaltung verschoben. Das war damals Felicitas Aufgabe. So arbeiteten wir. Ich erfasste Eingänge und Ausgänge unseres Geschäftes handschriftlich, und Felicitas sorgte dafür, dass ich immer auf der nächstfreien Linie weiterarbeiten konnte. Sie stand neben mir. Wenn der Zeiger geschoben wurde, ertönte leise ein mechanisches Geräusch. Dieses wollte Felicitas jetzt gerne wieder einmal hören. Ich sah es ihr an, dass es sie berührte und dass wir zusammen in eine längst vergangene Zeit zurückschauten. Wir beide konnten uns an dieses stille und konzentrierte Arbeiten erinnern. Wir fanden unsere Zusammenarbeit immer noch schön.
 
Nora war aber besonders darüber erstaunt, dass das, was wir soeben auf dem oben aufliegenden Kontoblatt geschrieben und gezeichnet hatten, unten auf dem Journal exakt abgebildet wieder zum Vorschein kam. Das Pauspapier ist eben aus der Mode gekommen und Kindern von heute gar nicht bekannt.
 
Noch am selben Tag schaltete mir Felicitas die Webseite www.poissonrouge.com auf, damit mir Nora eines ihrer Lieblingsspiele am Computer zeigen konnte. Was für ein Unterschied zur stillen Handhabung der RUF-Buchhaltung mit seinen bescheidenen Manövrierungsmöglichkeiten!
 
Die Kinder von heute sind in ganz anderer Position am Drücker. Sie sausen durch die vielen Schichten der Angebote, tauschen Farben aus, komponieren kleine Sequenzen von Musik, fangen herumschwirrende Käfer und Bienen, klicken an einem Apfel, der gegessen und immer kleiner wird und hören, wie der Magen mit einem Rülpser reagiert. Sie schauen in ein Liederheft, wo sich Bilder bewegen und rechts davon die Texte zu lesen sind. Und sie hören, wie Kinder, die offenbar im Computer wohnen, diese singen.
 
Fantastisch!
 
In einem anderen Bereich können Gegenstände angetippt werden. Ihre Namen erscheinen dann auf einer schwarzen Wandtafel. Vögel singen und die Kinder am Drücker können diese nach eigenem Willen anders einfärben. Dann gibt es da einen Bereich jener Illusionsbilder, die das Auge kippen kann. Oder geometrische Körper, die sich bewegen. Und vieles, vieles mehr.
 
Ich sah, wie Nora ein Bild bearbeitete, auf dem ein papierener Kreis zerrissen dalag. 3 Teile. Sie konnte diese wieder zu einem Ganzen zusammenfügen. Und sie ist doch erst 4-jährig.
 
Es scheint alles möglich. Die Kinder gestalten die Welt. Vieles, was ich hier gefunden habe, hat mir gefallen. Es fehlt mir aber die Darstellung der Ehrfurcht vor dem Leben. Was ist da zu erwarten, wenn die Kinder, einmal erwachsen geworden, ganz selbstverständlich daraufhin arbeiten, den Wald blau einzufärben, singenden Kindern die Hautfarbe zu ändern und alles was kreucht und fleucht wegzusperren?
 
Trotzdem: Diese Webseite hat etwas Faszinierendes.

Donnerstag, 22. Juli 2010

Sommerschwüle, Gewitter, Überraschung im Gästebett

Unsere Gäste aus Paris sind heimgereist. Die Wohnung ist wieder in ihren Urzustand zurückgeführt. Die Bettwäsche ist gewaschen. Der Bettüberwurf aus Manchesterstoff liegt da wie immer. Es ist ihm nicht mehr anzusehen, dass er in jenes Gewitter hineingezogen worden ist, das viele Orte überschwemmt hat.
 
Vorausgegangen war ein Tag voller Sommerschwüle. Am Abend entschlossen wir uns, noch einen Spaziergang zu machen. Unsere Tochter Felicitas, die Enkelin Nora, Primo und ich. Wie üblich nach Schlierenberg. Dort oben treffen wir mehrheitlich auf angenehmere Temperaturen und erfrischenden Wind. So auch diesmal.
 
Aber vorher hatten wir noch eine überraschende Begegnung. Seit ein paar Monaten beobachten wir im Umfeld des Dunkelhölzlis ein ungefähr 30 Aren grosses neu eingerichtetes Gartenareal. Es ist die Gemüse-Anbaugemeinschaft Pflanzplatz Dunkelhölzli", die hier gemeinschaftlich unter fachkundiger Anleitung und nach biologischen Richtlinien gärtnert.
 
An dieser Stelle beginnt die letzte Steigung für Schlierenberg. Hier tritt man aus den Wohnbaugebieten heraus. Für mich immer ein befreiender Moment, wenn sich nur noch Felder und Waldrand präsentieren und noch weiter oben dann die Sicht aufs Limmattal frei wird.
 
Diesmal blieb mein Blick an einer wunderschönen Frauenfigur hängen. Als Vogelscheuche wachte sie über den neu angelegten Pflanzplatz. Allgemein sind Vogelscheuchen simple Holzgestelle, bekleidet mit alten Hemden oder Blusen und Hüten. Ihr Kleid aber war ein mit orientalischen Ornamenten bestickter Mantel. Ihr langes, rotes Haar flatterte. Sie gab den Eindruck einer lebenden Person.
 
Ich stellte mich neben sie, streckte die Arme auch seitlich aus. Als Vogelscheuche Modell Nummer 2. Meine Familie konnte sich aber nicht für mich begeistern. Die geheimnisvolle Schönheit neben mir war einmalig. Wir bedauerten, dass wir keinen Fotoapparat bei uns hatten.
 
Wir gingen weiter. Keine 10 Minuten später überraschte uns ein giftiger Wind. Hier oben ist es immer kälter als im Tal, aber an diesem Abend war der Unterschied markant. Wir entschlossen uns, die Wanderung sofort abzubrechen und schnurstracks heimzugehen. In kurzer Zeit hatte der Himmel seine Farbe gewechselt. Er grollte und das schwere Grau erschreckte uns. Dass es hier nichts mehr zu spassen gab, zeigte uns auf dem Rückweg ein schwarzes, wirr zusammengedrücktes Stoffbündel am Querbalken des Vogelscheuche-Skeletts. Der Wind hatte die Schönheit umgebracht. Das, was von ihr übrig blieb, erinnerte vage an den Kadaver eines grossen, schwarzen Vogels. Jetzt wirbelte der Wind viel Staub aus den durchsonnten Kornfeldern über unseren Weg und auch in unsere Augen.
 
Dann eilte ich voraus, hatte Bedenken, die offenen Fenster unserer Wohnung seien vielleicht zu wenig gesichert. Das traf dann nicht zu. Tochter, Enkelin und Ehemann kamen hinterher, aber auch noch rechtzeitig, ohne nass zu werden.
 
Den Durchzug hob ich auf, öffnete aber in jedem Zimmer das Hauptfenster, um die frische Luft einzulassen und schloss jede Tür.
 
Dann setzte der Regen ein. In der Ferne zuckten Blitze. Und es donnerte. In unserem behaglichen Zuhause fühlten wir uns geschützt. Den Wetterverlauf verfolgten wir nicht weiter. Wir waren rechtzeitig heimgekehrt. Bald wurde es Zeit für Nora, schlafen zu gehen. Sie wünschte sich aber noch eine Geschichte. In aller Seelenruhe setzten wir uns in der Stube aufs Sofa und schauten zusammen ein altes Album an.
 
Und dann die Überraschung: Auf dem Gästebett lag ein See. Auf der Wetterseite schoss der Regen horizontal durchs offene Fenster ins Zimmer hinein. Das Bett in seiner Nähe bot sich als Auffangbecken an. Da Nora hier gerne herumturnte, war die Bettdecke in der Mitte eingedrückt. Auf sie liess sich das Wasser fallen. „Das ist ja der Seealpsee!“ rief ich, um meiner Unachtsamkeit etwas Humor hinterher zu schicken. Das Wasser durchdrang den festen Manchesterstoff und auch die Federdecke. Es dauerte 3 Tage – und diese waren sehr sonnig –, bis sich ihr Inhalt erholt hatte und der üble, modernde Geruch verschwand.
 
Während dieser Zeit wunderte ich mich öfters, wie es die Natur immer wieder versteht, uns ein Schnippchen zu schlagen und aufzuzeigen, dass wir unfähig sind, für totale Ordnung und Sicherheit zu sorgen.
 
Die schöne Vogelscheuche wurde vom unvermittelten Sturm gebodigt. Bis heute ist sie nicht auferstanden.
 
Aber ich habe sie, sehr ähnlich, sehr verwandt, in einem Bekleidungskatalog wieder gefunden. Die Ornamente des samtenen Mantels sind hier schlichter, aber die Erscheinung der ganzen Persönlichkeit erinnert stark an die Figur, die wir auf dem freien Feld bewundert haben.
 
Zu finden im Katalog "hessnatur" auf Seite 133. Diese angesehene Firma, die Produkte aus natürlichen Materialien anbietet und dazu versichert: „Was wir tun, tun wir vor dem Hintergrund höchster ökologischer und sozialer Standards oder gar nicht. Darauf können Sie sich verlassen."
 
hessnatur kleidet selbstverständlich keine Vogelscheuchen ein. Das ist das eine, was ich aus meinem Erlebnis herausfiltere. Das andere ist das Gemeinsame mit den Gemüsebauern. Beide wollen Erzeugnisse aus der Natur anbieten. Die gewachsene Schönheit und die Unversehrtheit ihrer Produkte stehen im Mittelpunkt.
 
Hinweis
Das Textatelier.com hat weder verwandtschaftliche Verbindungen noch irgendewelche geschäftliche Beziehungen zur Firma hessnatur. Grundsätzlich erfolgen alle Produkte- oder Firmennennungen nach freiem Ermessen der Autoren, wenn sie im Interesse der Nutzer und der Detailgenauigkeit sind.

Samstag, 3. Juli 2010

Gestohlene Velotaschen, lustige Kinder, Kurzweil im Bus

Heute liess ich mein Velo zu Hause, im Abstellraum gut geschützt. Es wurde bestohlen. Diebe halfterten in den Abendstunden im Velostand Bahnhof Altstetten die praktischen Seitentaschen ab. Ich erkannte mein Rad kaum mehr. Die Seitentaschen gaben ihm eine gewisse Behäbigkeit. Ohne diese steht es nun mager und nackt da. Immerhin, es ist noch da. Das ist das Wichtigste.
 
Die Reise ohne Velo, am Tag danach, wurde dann zu einer Art kleiner Entschädigung, obwohl nicht von den Dieben organisiert. Auf dem Velo bin ich immer allein. Im Tram und Bus aber unter Mitmenschen und ihren Geschichten.
 
Auf der Busstation traf ich mit einer jungen Frau und 2 Kindern zusammen. Der ältere Bub begann plötzlich herzzerbrechend zu weinen, und obwohl der jüngere nicht wissen konnte, warum, wollte er auch losheulen. Es gelang mir, ihn abzulenken. Ich trommelte ein bisschen an die Plakatwand, wechselte die Stellen, damit sich die Töne veränderten. Das gefiel dem Kleinen im Kinderwagen, und er zeigte mir, ohne zu sprechen, da, dort, oben, unten, auf dem blauen Feld, auf dem grünen usw. solle ich auch noch klopfen. Und er lachte dazu, weil ich ihn verstand. Inzwischen hatte die Mutter erfahren, warum geweint wird. Der grössere Bub hatte sein Spielzeugauto, das er gestern bekommen hatte (Kosten: Fr. 45.–), in den Hort mitnehmen wollen und dieses nun auf der Ablage am Kiosk liegen gelassen, als sie dort noch Proviant einkauften. Und jetzt konnte die Mutter nicht zurückgehen und nach ihm suchen, denn der Bus traf ein. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Die Kinder müssen pünktlich im Hort sein.
 
Noch immer traurig, aber doch schon etwas gefasst, verliessen sie wenig später den Bus, und an ihrer Stelle stieg eine Schulklasse ein. Diese 2. Primarklasse ging auf die Schulreise in den Sihlwald. Eine lustige Schar, Kinder aus aller Welt mit erwartungsvollen Blicken, gut gekleidet und mit dem Proviant am Rücken. Sie ergatterten die letzten freien Sitzplätze. Kurz war die gemeinsame Fahrt mit ihnen. Nach 2 Stationen mussten sie schon umsteigen. Das galt auch für mich. Aber unsere Ziele waren verschieden.


Inzwischen war es 9 Uhr geworden. Die Berufstätigen waren an ihren Arbeitsplätzen. Die Autos in den Garagen und die meisten Sitzplätze im Tram und Bus verwaist. Wenn ich mit dem Velo in die Stadt fahre, richte ich es meist so ein, dass ich diese ruhige Phase nützen kann. Kurze Zeit waren im Bus meiner 2. Wahl nur gerade 3 Plätze besetzt, dann aber stürmte eine Kindergartenschar herein. Als wir über die Hardbrücke fuhren, hörte ich hinter mir eine Bubenstimme, wie diese auf den "Prime Tower" verwies. Das sei das höchste Haus von Zürich und der Schweiz, wusste der 6-Jährige. Stimmt. Die vorgesehene, alles überragende Höhe ist schon erreicht. Der Bau aber noch nicht vollendet. Ein Kollege widersprach, das sei kein Haus. Doch es sei ein Haus. Nein, es sei kein Haus. So ging das hin und her. Ich erwartete immer eine interessante Übersetzung des englischen Namens. Ich habe noch nie eine solche gehört. Einig wurden die beiden nicht. Der eine bestand darauf, dass dies ein Haus sei und der andere verneinte es hartnäckig. Endlich kam es aus ihm heraus. Das sei ein Geschäft!
 
Stimmt. Aus Zeitungen war schon zu erfahren, wie hoch die Mietkosten für Räume in diesem prestigeträchtigen Turmbau angesetzt sind. Es war auch schon die Rede vom Kaufpreis einer ganzen sogenannten Eigentumsetage. Schwindel erregende Zahlen. Obwohl ich mir solche Preise nicht merke – Angebote dieser Art sind jenseits meiner Bedürfnisse – mag es 100-prozentig zutreffen, was der Bub aus dem Kindergarten sagte: Das sei ein Geschäft.
 
Mir gegenüber sassen 2 Mädchen. Sarah und Alessia. Sie zeigten mir ihre Namen auf den orangefarbigen Schutzwesten. Freimütig erzählten sie, ihr Ausflug sei keine Schulreise, sondern eine Chindsgi-Reise (Chindsgi=Kindergarten). Sie würden den Zoo besuchen.
 
Dann widmeten sie sich wieder ihren eigenen Geschichten. Ich hörte die Frage: Wie viele Grossväter hast Du? Ich habe zwei. Ich auch. Eigentlich habe ich nur noch einen Grossvater. Der andere ist gestorben. Ich wollte ihn am Morgen wecken, stupfte ihn. Da war er schon gestorben. Sterben ist nicht schön. Die andere: Mein Grossvater stirbt jetzt dann auch gerade. Er ist im Spital. Er ist ganz weiss im Gesicht.
 
Wie schön ist es, wenn Kinder gleichen Alters alles aussprechen können, was sie gerade beschäftigt. Kürzlich wurde am Radio einer Person die Frage gestellt: Was war das Schönste in ihrer Jugend? Die Antwort, die der Mann gab, ist mir entfallen, aber sofort wusste ich, was für mich das Schönste war: Dass ich eine Schulfreundin hatte und ihr auf dem langen Schulweg alles erzählen konnte, was mich bewegte.
 
Ich konnte mir vorstellen, wo die Klasse aussteigen werde und hoffte, dass keines der Kinder ein anderes von der Traminsel schupfe. Aber alles war gut eingeübt. Die Kindergärtnerin rief die Kinder im Bus zusammen, erinnerte daran, dass jedes das bestimmte Gspäänli (Mitschüler, Mitschülerin) an der Hand halte und alle zusammen warten müssten, bis der Bus weggefahren sei.
 
Ich fühle grossen Respekt den Lehrpersonen gegenüber. In der Stadt einen Haufen Kinder so zu führen, dass sie den Weisungen folgen, ist nicht Nichts. Die Hektik des Strassenverkehrs und die vielen Ablenkungen ganz allgemeiner Art sind beträchtlich. Zusätzlich gibt es immer Kinder, die gerne spassen, andere necken und selbstvergessen reagieren. Die Verantwortung ist riesengross.
 
Lehrer sollten es erleben können, dass ihnen die dann erwachsenen Schüler erzählen, wie spannend die Schulreisen waren und welche Erlebnisse und Erfahrungen ihnen immer noch wichtig sind.