Samstag, 29. Mai 2010

Urgrossmutter-Spuren gesucht: Das Hörensagen ergänzt

Felicitas, unsere Erstgeborene, zeigte schon als Kind lebhaftes Interesse an den Familiennamen und den dazugehörigen Geschichten. Eine Zeit lang beschriftete sie als Primarschülerin ihre Hefte mit dem eigenen und den Familiennamen ihrer weiblichen Vorfahren mütterlicherseits. Das sah dann so aus: Felicitas Lorenzetti-Hess-Fässler-Speichinger-Sprenger.
 
Die Oma Anna Hess-Fässler, also meine Mutter, kannte sie gut. Sie lebte in unserem Umfeld. Von „Grosi“ Josefine Fässler-Speichinger, meiner Grossmutter, hörte sie durch mich von meinen Erfahrungen mit ihr. Deren Mutter, Josefine Speichinger-Sprenger, kannte auch ich nur vom Hörensagen, von Fotos und Erlebnissen, die meine Mutter immer wieder erzählte. Und die Ur-Urgrossmutter Sprenger ist für meine Töchter, meinen Mann und mich nur noch ein Name.
 
Fassbare Familiengeschichte ist in erster Linie mit lebenden Zeugen verbunden. Dann kommen Geschichten hinzu, die weiter erzählt werden. Und ohne genealogische Forschung finden wir im besten Fall noch den Ort, woher das eigene Geschlecht stammt.
 
Wir können ihn aufsuchen, durch alte Strassen gehen, Gebäude und Kirchen betreten, die auch unsere Vorfahren gekannt haben. Manchmal trifft man dort noch auf alte Menschen, die sich an jemanden aus der angesprochenen Familie erinnern . Oder wir treffen, wie eben erlebt, in der Kirche auf Fotos und Namen jener vermutlich Verwandten, die im Krieg ihr Leben verloren haben.
 
Aus Emmingen ab Egg stammt mein und Walter Hess’ Urgrossvater Karl Speichinger*, geboren am 31.10.1854. Maurer und Kaminbauer sei er gewesen, wurde in der Familie mündlich weitergegeben. Er wanderte in die Schweiz aus, liess sich in Wald im Kanton Zürich nieder. Dort heiratete er am 8.5.1881 die ebenfalls aus Emmingen stammende Josefine Sprenger.
 
Er war also ungefähr 27 Jahre alt, als er seinen Heimatort verliess und sich im Zürcher Oberland eine Existenz aufzubauen begann, um Frau und Kinder zu ernähren. Er wurde Vater von 10 Kindern. Dem Stamm von seiner Tochter Josefine Fässler-Speichinger (unsere Grossmutter trug den gleichen Vornamen wie ihre Mutter geb. Sprenger) entstammen Walter Hess und ich (Rita Hess).
 
Reisen nach Emmingen
Emmingen ab Egg (Baden-Württemberg), die Heimat von Karl, besuchte ich schon einmal. 1989 nützte meine Familie die Pfingsttage für eine Velotour dorthin. Wir übernachteten in Tuttlingen im Stadthotel, einem feinen Haus, wie ich in meinem Tagebuch festhielt. Der Eindruck der Stadt von damals entspricht nicht jenem von heute, wie er von Walter Hess beschrieben wurde, aber nur darum, weil wir uns in einem anderen Stadtteil aufhielten. Ich schrieb seinerzeit „Die Stadt ist sehr menschlich, keine Hochhäuser, im innersten Bereich viele Bäume, noch jung, aber schön. Streng angeordnete Strassen, auf den Plätzen Kunst. Ein Brunnen unter einer angedeuteten Pyramide. Unser Hotel vornehm. Die jungen Frauen (unsere Tochter Letizia und ihre Freundin Cristina) waren kribbelig und freuten sich am Komfort. Wir hatten ein Haus mit künstlerischem Gesamtkonzept gefunden.“ Es gefiel auch meinem Mann.
Nun ein zweiter Besuch, diesmal mit Walter Hess, der noch nicht lange weiss, dass wir auch einen deutschen Wurzelstrang haben. Als Journalist geht er anders vor als ich, wenn er einen unbekannten Ort kennen lernen will. Er spricht zuerst im Rathaus vor. Ich erfühle einen Ort am liebsten draussen, gehe hin und her, lasse die Landschaft und ein Ortsbild auf mich wirken. Erste Kontakte und Informationen erhoffe ich mir dann in einem Gasthaus. Damals, mit L. und C., gingen wir auf Kundschaft, wie die Pfadfinder sagen, wenn sie Orte kennen lernen wollen. Primo verteilte die Themen: Mir fiel das Thema Kirche zu, L. und C. die Pestkreuze, das Wahrzeichen von Emmingen-Liptingen und Primo das Museum. Zu einem bestimmten Zeitpunkt trafen wir an einem vorgegebenen Ort wieder zusammen und tauschten die Eindrücke, Notizen und Skizzen aus.
An jenem Pfingstsonntag 1989 war Muttertag, die Plätze in den Gasthäusern ausgebucht. Trotzdem wurde uns an einem Ort für einen Kaffee Platz angeboten. Es setzen sich bald 2 Männer zu uns. Sie kamen vom Kirchgang und sprachen uns an. Ein Bauer, der zusätzlich auch auf dem Bau arbeite und ein Angestellter einer Brauerei, der für die Vermarktung des Gebräus zuständig sei, fragten uns „Woher? Wohin?“ Dass wir die Heimat meines Urgrossvaters aufsuchten, freute sie. Wie der Name sei: „Speichinger!“ „Ah.“ Es tönte fast ehrwürdig. „Wirklich, solche Familien gab und gibt es da.“ Sie nannten uns einen Hof auf der Anhöhe und erzählten, dass der Müller ebenfalls Speichinger geheissen habe. Von diesem Mühlebesitzer Georg Speichinger las ich später im Emminger Heimatbuch, dass er 1845 im Engersteig tödlich verunglückte, als er Sägholz in die Talmühle führte und unter die Räder kam.
 
Und an anderer Stelle las ich: „Es ist eine für die Familien- und Sippenforschung wichtige Tatsache, dass weithin zerstreute Familien gleichen Namens häufig von einem gemeinsamen Ursprungsort stammen, an dem die Sippe seit Jahrhunderten sesshaft ist. Die Urheimat ist gleichsam der unversiegbare Quell gewesen, aus dem immer neues Leben sich in die Fremde ergoss."
Als es Zeit wurde fürs Mittagessen, zog es Walter Hess förmlich in den „Adler“. Er wusste selbst nicht warum. Später habe ich im Heimatbuch erfahren, dass der Rösslewirt seit 1810 Franz Xaver Speichinger hiess. Der reichste Grundbesitzer im Dorf. „Als ihm 1822 das Amt des herrschaftlichen Vogtes übertragen wurde, hätte er nach den geltenden Bestimmungen sein Wirtsgewerbe aufgeben oder auf sein Vogtamt verzichten müssen. Er betrieb seine Wirtschaft weiter, verlegte sie aber 1827 in ein neues Haus, das er ,Adler’ nannte, während sein Sohn im ,Rössle weiter wirtete."

Im Museum erwartet
Der Besuch im Dorfmuseum erschloss uns nicht nur einen weiteren Blick in die Vergangenheit. Räume und Gegenstände füllten hier unsere Familiengeschichte zusätzlich mit Bildern.
 
1989 konnten wir das Museum nicht besuchen. Diesmal wurden wir aber von den Herren Josef Renner und Horst Lörch erwartet.
 
Der freundliche Empfang wird mir in bester Erinnerung bleiben. Und vor allem die Frage, ob wir unsere eigene Alltagssprache verstünden oder auf Hochdeutsch wechseln sollen. Diese Abstimmung aufeinander berührte mich. Es war der Ausdruck, einander wirklich verstehen zu wollen.
 
Horst Lörch begrüsste uns im Namen des Museums, und seine Worte gaben unserem Besuch eine liebenswürdige, leicht formelle Note.
 
Und von Josef Renner erfuhren wir rasch, dass ein Leobold Spaichinger* 1800 seinen Hof auf einer Ausmerkerhöhe erbaut habe. Das Heimatbuch berichtet von ihm und seiner Körperkraft unter dem Titel „Von Emminger Originalen“, dass er ein Salzfass von 7 Zentnern lupfte. Das Museum beherbergt sein Ehebett. Die Bettfront ist mit der dekorativen Schrift „Leobold Spaichinger – Maria Rosa Sterckin* – 1798“ prachtvoll gestaltet. Dieses gut erhaltene Möbelstück mit seiner frischen Laubsackmatratze wurde offensichtlich pietätvoll behandelt. Waren dieser Leobold und seine Maria-Rosa vielleicht die Urahnen von Karl, der in die Schweiz ausgewandert ist?
 
Wir wunderten uns über das für heutige Begriffe schmale und vor allem kurze Bett. Walter erinnerte uns daran, dass man früher mit angezogenen Beinen schlief. Nur ein toter Mensch liege ausgestreckt da. Und Primo wusste, dass man in weit zurückliegenden Jahrhunderten sitzend geschlafen habe.
 
In diesem Zimmer bestaunten wir auch den schönen Wäscheschrank, auf dessen Tablaren allerlei Textilien lagen. Naturfarbene Nachthemden und rot-weisses Leinen mit Webmustern verschiedenster Art. An 2 Tablarfronten hält der gestickte Text fest: „Und Alles wohlverwahrt ist deutscher Hausfrau'n Art.“
 
Walter Hess hat schon über das „rüschene“ Leinen berichtet. Auch mir hat der Hinweis gefallen, dass dieser rohe, gleichzeitig aber doch auch weiche Nachthemdenstoff während dem Schlaf die Körperhaut massiere und damit Hautkrankheiten vorbeuge. Ganz besonders darum, weil meine Grossmutter Josefine Fässler-Speichinger mir in jungen Jahren den Rat gab, bei Hautunreinheiten die Stelle mit einem Stück Leinen öfters abzureiben. Dieser Rat: Direktimport aus Emmingen! Josefines Mutter brachte diese Erfahrung aus ihrer Heimat nach Wald ins schweizerische Zürcher Oberland. Das rüschene Leinen erscheint mir als Vorläufer vom „Peeling“, das die moderne Kosmetik heute anbietet.
 
In diesem Museum kann man lange verweilen. Während 2 Stunden fühlten wir uns in das vergangene Leben ein, schauten in Vitrinen, an Wände, fanden Rechnungsbücher und auch Fotos, die von der Dorfgemeinschaft Emmingen ab Eck erzählen. Auch Bilder aus jüngerer Zeit. Ihre Feste sind dokumentiert, ihre Tracht kann bewundert werden. Sie feierten den Jahreslauf mit Feiertagen, wie es die Kirche vorgab. Ein Brauch sei auch die „Sichelhenke“ gewesen, wenn am Schluss der Ernte die Sichel aufgehängt wurde und alle, die mitgeholfen haben, zum Festschmaus zusammen kamen. Früher ohne Musik, höchstens zu den Klängen einer Mundharmonika.
 
In jedem Stall standen Kühe, und mit ihnen wurde gearbeitet. Ihre langsame Gangart bestimmte das Arbeitstempo. Man ackerte mit der Kuh, die am Abend auch noch Milch geben musste. Die Arbeit ging langwierig vor sich. Es fehlte das Pferd und seine Agilität. Es gab nur vereinzelt Pferde und diese wurden jeweils für hohe Feiertage geschmückt.
 
Im Museumsstall kann ein Stück originale Katzenkopfsteinpflästerung betreten werden. Urtümliche Fussmassage inbegriffen.
 
Die Museumsräume waren sehr kalt, als wir das Haus besuchten. Wir bekamen einen Eindruck, wie wohl es den Menschen in ihrer Küche gewesen sein muss. Rund um den Herd, wo es im Wasserschiff immer warmes Wasser gab, da strömte die Wärme aus. Von den vielen Gerätschaften waren uns manche noch gut bekannt. Die verschiedenen Beschriftungen weisen aber daraufhin, dass die jungen Familien von heute weit weg sind von diesem urtümlichen Leben und Wirtschaften und Informationen brauchen.
 
Wärme für den Schlafraum der Eltern liess man durch einen Schieber über dem Kachelofen aus der Stube nach oben entweichen. Getrennte Schlafräume für Mädchen und Knaben richtete man oberhalb dem Stall ein. Für sie wirkte die Wärme der Tiere durch die Stalldecke wie eine Bodenheizung im heutigen Schlafzimmer.
 
In den oberen Museumsräumen ist das Handwerk nachgestellt. Die Schuhmacherwerkstatt, das Besenbinden, die Ziegelherstellung, und es werden die verschiedenen Werkzeuge und Geräte aus dem bäuerischen Alltag gezeigt. Für die Arbeit mit den Tieren, für den Getreidanbau und die Verarbeitung des Korns.
 
Aus Grund und Boden
Der Grund und Boden dieses Ortes bescherte den Bewohnern einen guten Magerlehm, der sich für die Ziegelherstellung eignete. Hochwertiges Material, das nicht ausgewaschen wird und beim Trocknungsprozess nicht springt. Gemischt mit Gerstenstroh wurde dieser Lehm auch im Fachwerkbau eingesetzt. Das Lehmgemisch wurde mit den in die Räume zwischen die Riegelbalken ausgelegten Ästen verrieben. Die Zweige garantierten Stabilität und wirkten wie die Betongitter von heute.
 
Mit einem gewissen Schalk berichtete Herr Renner von den Zusatzverdiensten der Bauern, die in ihrem Umfeld Bohnerz (Eisenkorn) fanden, dieses schürften und ins Schmelzwerk im Nachbarsdistrikt schmuggelten. 3 zusammengebundene Leitern tief konnten sie den Boden ausbeuten. Das sogenannte Zusatzbrot wurde anschliessend verflüssigt. Sie tranken es im Gasthaus Hühnerhof, nachdem sie die Grenze wieder überschritten hatten. Ob sich die Frauen darüber gefreut haben?
 
Zurück in Zürich, in Gedanken noch in Emmingen
Am Tag nach der Rückkehr an unsere angestammten Plätze in der Schweiz fühlte ich mich zerstreut. Meine Gedanken lagen wie Fetzen in der Landschaft rund um Emmingen. Die Reise dorthin hat mich erneut beeindruckt und dass sich diesmal auch Kontakte mit Einwohnern ergeben haben, freute mich besonders. Wenn ich wieder einmal zurückkomme, komme ich mit dem Gefühl, über meine Vorfahren hier auch ein bisschen beheimatet zu sein.
 
Solange ich an diesem Aufsatz schrieb, „hörte“ ich noch die Stimmen der beiden Männer Josef Renner und Horst Lörch, die sich um das liebevolle Museum in Emmingen ab Eck verdient gemacht haben. Sie haben uns viele Details vermittelt und in unserer Familiengeschichte ein paar leere Felder ausgefüllt. Ich freute mich auch an allen Kontakten, die Walter Hess bereits aufgezählt hat.
 
Und in Gedanken stehe ich immer noch auf jener Anhöhe, die totale Rundsicht verschenkt. Diese Weite, Offenheit und Anmut! Sie muss auf die Emminger abfärben. Eine Landschaft prägt ihre Menschen. Auch dieser Aspekt gehört zu meiner persönlichen Familiengeschichte. Hat diese weite Sicht unseren Urgrossvater dazu verführt, auszuwandern? Hier oben fanden wir auf einer Aussichtstafel auch Hinweise auf Schweizer Alpen. Als Abschlussgeschenk zeigten sich uns dort noch die Pestkreuze, an denen wir an diesem Tag schon einmal vorbeigefahren waren. Da standen wir, ergriffen von ihrer Geschichte und ihrem Alter.
 
Da ich im Heimatbuch gelesen habe, die Pestkreuze würden jeweils erneuert und wieder geweiht, wenn sie morsch geworden seien, kann ich damit rechnen, dass wir sie auch später wieder finden werden. Die Treue zu einem frommen Gelübde ist beeindruckend. 1629 wurde die Pest in Emmingen eingeschleppt. Seither stehen Pestkreuze an allen 4 Ortsausgängen (nach Engen, Hattingen, Tuttlingen und Liptingen) und werden von der Gemeinde pietätvoll betreut. Sie sind zu ihrem Wahrzeichen geworden.
*
*Anmerkung zu den Schreibweisen:
Anhand des Namens der Familie Sterckh erläutert der Autor im Heimatbuch die Veränderung der Schreibweise von Sterckh über Stärckh, Störckh und Stärk über die Jahre 1700‒1845.
 
Den Familiennamen von Leobold Spaichingers Ehefrau kann ich nicht mit Sicherheit angeben. An ihrem Namen auf der Bettfront waren Retouchen auszumachen. Das, was ich als „Sterckin“ las, sollte möglicherweise „Sterckh“ heissen.
 
Ich nehme an, dass sich die Schreibweise Spaichinger im Laufe der Zeit ebenfalls verändert hat. Meine Speichinger-Verwandten schreiben ihren Namen jedenfalls alle mit „ei“.
 
Angaben zum Heimatbuch:
„Emmingen ab Egg" Geschichte eines Hegaudorfes“
von Professor Erich Stärk, Freiburg i.Br.
1. Auflage 1955
2. Auflage mit Ergänzungsteil 1971.

Freitag, 21. Mai 2010

Busskirch immer noch ein Ort, der die Menschen anzieht

In Busskirch am Obersee (Gemeinde Jona SG) kam und kommt für mich manches zusammen. Auch diesmal wieder. Der Ort mit seiner Kirche St Martin ist geschichtsträchtig und gleichzeitig lebendig.
 
Zu erreichen ist er über den Seeuferweg, dem Naturschutzgebiet entlang. Er ist gut markiert. Von Rapperswil-Bahnhof bis zur Kirche Busskirch beansprucht er ½ Std. Wegzeit. Er ist eine Einstimmung in den wohltuenden Raum des Obersees (Zürichsee).
 
Obwohl der Natur hier viel Freiheit gelassen wird, habe ich doch mitbekommen, wie etliche Bäume verschwanden. Ich vermisse heute jene Mistelkugeln tragenden Birken oder Weiden, die den breiten Uferraum mitgestalteten.
 
Was es mit dem Namen Busskirch auf sich hat, weiss ich nicht. In römischer Zeit war der Ort Umschlagplatz am Verkehrsweg Zürich/Winterthur–Chur/Italien.
 
Die Kirche St Martin ist eines der ältesten christlichen Gotteshäuser dieser Gegend. Ihre Geschichte ist rund 1400 Jahre alt. Auf Grundmauern eines römischen Landhauses gebaut. In dieser Kirche werden immer noch regelmässig Gottesdienste gefeiert. Sie ist auch ein beliebter Ort für Hochzeiten geworden. Der idyllische Ort am See und auch der Kirchenraum strahlen Ruhe und Frieden aus.
 
Hierhin luden letzte Woche die beiden Musikerinnen Cornelia Dürr (Klarinette) und Anne-Lise Meier (Akkordeon) zu einer Abendmusik mit Klezmer-, Barock- und Schweizer-Volksmusik ein. Dargeboten auch mit eigenen Kompositionen und Improvisationen.
 
Schon nach ein, zwei Takten wusste ich, dass mir das Konzert zuträglich sein werde. Meine Ohren sind anspruchsvoll geworden. Nicht immer werden musikalische Darbietungen zum Genuss. Laute Musik soll ich meiden. Hier aber entsprach der Raum exakt den Darbietungen der beiden Frauen, ihrem Ausdruck und ihrer Kraft.
 
Cornelia Dürr trat aus der Sakristei heraus, eröffnete das Konzert mit wenigen Schritten und Takten. Dann stand sie still. Wir sahen nur den vorderen Drittel ihrer Klarinette. So erreichte sie Stille im Raum. Und gleich verhielt sich eine Weile später die Akkordeonistin Anne-Lise Meier. Dann „sah“ ich diese ersten Töne aufsteigen und auf mich zukommen und ich begriff, dass der Ort, wo sie emporkommen, Empore heisst.
 
Da oben war mir ein Platz zugewiesen. Mit Blick auf die Musikerinnen. Das zahlreiche Publikum, das die Kirche füllte, sah ich nicht. Mit Primo und einigen anderen Gästen zusammen erlebten wir das Konzert, wie wenn es nur für uns aufgeführt worden wäre.
 
In der Begrüssung übergab Cornelia Dürr ihre nicht ausgesprochenen Worte der Musik, auf dass sie spreche und erkläre und uns mitnehme.
 
Gesprochen haben für mich auch die Körper der beiden Frauen. Cornelias Part verlangte für die Klezmermusik Bewegung, Schwünge und sichtbare Hingabe, um die Modulation dieser jüdischen Festmusik aus Osteuropa hervorzubringen. Von Anne-Lise Meiers Seite gingen die verhaltenen, wehmütigen Töne aus, und es schien mir, diese könne nur ein schwergewichtiges Instrument und eine in sich ruhende Persönlichkeit hervorbringen. Aber beide Musikerinnen konnten in anderen Stücken sehr wohl auch gegenteilig aufspielen, und das war das Schöne an diesem Konzert, diese Vielfalt: heiter – glückselig – sprühend vor Lebensfreude – aber auch nachdenklich und von Heimweh nach unserer Urheimat erfüllt.
 
Beeindruckt hat mich auch die Fähigkeit der beiden Frauen, aufeinander zu hören, sich auf einander einzustimmen. Ich sah das Verschmelzen zweier Talente.
 
Eine Stunde war ohne Zeitgefühl vergangen. Die Musik hatte uns an verschiedene Orte mitgenommen. Aufmüpfiges löste Besinnliches ab. Eindrücklich auch eine Komposition für die Kirchenorgel verfasst und von Anne-Lise Maier auf ihrem Akkordeon intoniert.
 
Da ich überraschend noch angefragt wurde, ob ich nach dem Konzert beim Einsammeln der Kollekte mithelfe, sah ich am Ausgang dann in viele Gesichter, die offensichtlich von weit her wieder ins alltägliche Leben zurückfanden.
 
In jenen Augenblicken klang die Musik in uns allen nach.
 
Anhang
Angaben zu Cornelia Dürr 
In Jona aufgewachsen. Studierte bei Elmar Schmid am Konservatorium Zürich. Lehrdiplom mit Auszeichnung. Orchesterdiplom und Konzertreifediplom.
Preisträgerin des Kiwanis-Wettebewerbs für Klarinette. Förderpreis "Orpheus-Konzerte Zürich".
Regelmässige Konzerte mit verschiedenen Kammermusikensembles im Duo oder als Solistin.
Besonderes Interesse an Improvisation, Klezmermusik und andere Stilrichtungen.
Cornelia Dürr unterrichtet an der Jugendmusikschule Rapperswil-Jona Klarinette.
Zusammenarbeit im Bereich Entspannungsmusik mit dem Musiker Reto Feuerstein.
CD-Projekte „Positive Gefühle“ und „Endless Flow“ sind im Handel erhältlich. www.flintimusic.com.

Sonntag, 16. Mai 2010

Hand- und Gläsertücher spielen diesmal die Hauptrollen

Als ich heute die wöchentliche Wäsche vorbereitete, sprach mich der Text auf einem Handtuch wieder einmal an. Es ist schon 48 Jahre alt und dient uns immer noch. Es wäre übertrieben, wenn ich behauptete, dass wir beim Gebrauch jedes Mal an Ruth und Werner denken, die es uns zur Verlobung schenkten. Von Zeit zu Zeit aber erinnert es uns an gemeinsame Erlebnisse in der Jugend.
 
Das halbleinene Tuch mit seitlich roten Streifen trägt einen für uns aufgedruckten Text, ein Glückwunsch zur Verlobung. Zusätzlich eine Art Garantie für „saubere Hände, ein Leben lang“, sofern wir uns darum bemühten.
 
Stoff und aufgedruckte Worte blieben intakt. Das Handtuch ist nicht fadenscheinig geworden. Worte und Wünsche und das tragende Gewebe waren von guter Qualität.
 
Ein weiteres Tuch, das ich seit einem Jahr jedem 90-Grad-Wäschesud beigebe, ist das Gläsertuch aus dem bekannten „Hotel Central Zürich“. Ein Fund aus dem Holzlager der Schreinerei an der Müllerstrasse. Beim Räumen für den Hausabbruch kam es hinter einer Abtrennwand zum Vorschein. Verschmutzt, verklebt, mehr grau-braun als weiss. Keine Ahnung, wie es in diesen etwa 100-jährigen Raum gekommen ist. Primo liebt solche Reliquien, warf sie nicht zum Abfall. Ich solle das Tuch waschen, könne es vielleicht noch gebrauchen.
 
Den weissen, textilen Grundton haben die vielen Waschgänge wieder hervorholen können, nicht aber die Beschädigungen durch Leim, Beize und Farbe. Auch die Rostflecken bleiben hartnäckig im Tuch. Es wurde wahrscheinlich nicht lange als Gläsertuch verwendet, denn der Stoff war beim Auffinden noch zähe und die Appretur nicht voll ausgewaschen. Heute ist er weicher. Das Blau der eingewobenen Bordüre mit dem Schriftzug des Hotels und der Bestimmung „Gläser“, ebenso die quadratischen Grundmusterlinien, wirken jetzt frisch. Aber als Küchentuch setze ich es nicht mehr ein. Obwohl ich weiss, dass es mit vielen Wassern gewaschen ist, bleibt es doch fleckig und unappetitlich. Der Anblick, wie er sich heute zeigt, wird kaum noch zu verändern sein. Es gibt eine Grenze. Der Stoff lässt sich nicht alles gefallen. Wenn ich zu lange scheuere, verschwinden nicht nur die Flecken, sondern auch die dazugehörigen Gewebepartien.
 
Also akzeptiere ich den Stand der Renovation. Das Tuch und ich, wir haben jetzt eine gemeinsame Geschichte. Ich werde es irgendwo wieder einsetzen. Ich habe auch schon daran gedacht, es in einem Rahmen als Bild aufzuhängen.
 
Dort könnte es von den Verschmutzungen reden, die unser modernes Leben produziert und aufzeigen, wie Verletzungen und Vernachlässigungen Spuren hinterlassen, die weder ausgelöscht noch vertuscht werden können.