Felicitas, unsere Erstgeborene, zeigte schon als Kind
lebhaftes Interesse an den Familiennamen und den dazugehörigen
Geschichten. Eine Zeit lang beschriftete sie als Primarschülerin ihre
Hefte mit dem eigenen und den Familiennamen ihrer weiblichen Vorfahren
mütterlicherseits. Das sah dann so aus: Felicitas Lorenzetti-Hess-Fässler-Speichinger-Sprenger.
Die Oma Anna Hess-Fässler, also meine Mutter, kannte sie gut. Sie lebte in unserem Umfeld. Von „Grosi“ Josefine Fässler-Speichinger, meiner Grossmutter, hörte sie durch mich von meinen Erfahrungen mit ihr. Deren Mutter, Josefine Speichinger-Sprenger,
kannte auch ich nur vom Hörensagen, von Fotos und Erlebnissen, die
meine Mutter immer wieder erzählte. Und die Ur-Urgrossmutter Sprenger ist für meine Töchter, meinen Mann und mich nur noch ein Name.
Fassbare Familiengeschichte ist in erster Linie mit lebenden Zeugen
verbunden. Dann kommen Geschichten hinzu, die weiter erzählt werden.
Und ohne genealogische Forschung finden wir im besten Fall noch den Ort,
woher das eigene Geschlecht stammt.
Wir können ihn aufsuchen, durch alte Strassen gehen, Gebäude und
Kirchen betreten, die auch unsere Vorfahren gekannt haben. Manchmal
trifft man dort noch auf alte Menschen, die sich an jemanden aus der
angesprochenen Familie erinnern . Oder wir treffen, wie eben erlebt, in
der Kirche auf Fotos und Namen jener vermutlich Verwandten, die im Krieg
ihr Leben verloren haben.
Aus Emmingen ab Egg stammt mein und Walter Hess’ Urgrossvater Karl Speichinger*,
geboren am 31.10.1854. Maurer und Kaminbauer sei er gewesen, wurde in
der Familie mündlich weitergegeben. Er wanderte in die Schweiz aus,
liess sich in Wald im Kanton Zürich nieder. Dort heiratete er am 8.5.1881 die ebenfalls aus Emmingen stammende Josefine Sprenger.
Er war also ungefähr 27 Jahre alt, als er seinen Heimatort verliess
und sich im Zürcher Oberland eine Existenz aufzubauen begann, um Frau
und Kinder zu ernähren. Er wurde Vater von 10 Kindern. Dem Stamm von
seiner Tochter Josefine Fässler-Speichinger (unsere Grossmutter trug den gleichen Vornamen wie ihre Mutter geb. Sprenger) entstammen Walter Hess und ich (Rita Hess).
Reisen nach Emmingen
Emmingen ab Egg (Baden-Württemberg), die Heimat von Karl, besuchte
ich schon einmal. 1989 nützte meine Familie die Pfingsttage für eine
Velotour dorthin. Wir übernachteten in Tuttlingen im Stadthotel, einem
feinen Haus, wie ich in meinem Tagebuch festhielt. Der Eindruck der
Stadt von damals entspricht nicht jenem von heute, wie er von Walter
Hess beschrieben wurde, aber nur darum, weil wir uns in einem anderen
Stadtteil aufhielten. Ich schrieb seinerzeit „Die Stadt ist sehr
menschlich, keine Hochhäuser, im innersten Bereich viele Bäume, noch
jung, aber schön. Streng angeordnete Strassen, auf den Plätzen Kunst.
Ein Brunnen unter einer angedeuteten Pyramide. Unser Hotel vornehm. Die
jungen Frauen (unsere Tochter Letizia und ihre Freundin Cristina) waren
kribbelig und freuten sich am Komfort. Wir hatten ein Haus mit
künstlerischem Gesamtkonzept gefunden.“ Es gefiel auch meinem Mann.
Nun ein zweiter Besuch, diesmal mit Walter Hess, der noch nicht
lange weiss, dass wir auch einen deutschen Wurzelstrang haben. Als
Journalist geht er anders vor als ich, wenn er einen unbekannten Ort
kennen lernen will. Er spricht zuerst im Rathaus vor. Ich erfühle einen
Ort am liebsten draussen, gehe hin und her, lasse die Landschaft und ein
Ortsbild auf mich wirken. Erste Kontakte und Informationen erhoffe ich
mir dann in einem Gasthaus. Damals, mit L. und C., gingen wir auf
Kundschaft, wie die Pfadfinder sagen, wenn sie Orte kennen lernen
wollen. Primo verteilte die Themen: Mir fiel das Thema Kirche zu,
L. und C. die Pestkreuze, das Wahrzeichen von Emmingen-Liptingen und
Primo das Museum. Zu einem bestimmten Zeitpunkt trafen wir an einem
vorgegebenen Ort wieder zusammen und tauschten die Eindrücke, Notizen
und Skizzen aus.
An jenem Pfingstsonntag 1989 war Muttertag, die Plätze in den
Gasthäusern ausgebucht. Trotzdem wurde uns an einem Ort für einen Kaffee
Platz angeboten. Es setzen sich bald 2 Männer zu uns. Sie kamen vom
Kirchgang und sprachen uns an. Ein Bauer, der zusätzlich auch auf dem
Bau arbeite und ein Angestellter einer Brauerei, der für die Vermarktung
des Gebräus zuständig sei, fragten uns „Woher? Wohin?“ Dass wir die Heimat meines Urgrossvaters aufsuchten, freute sie. Wie der Name sei: „Speichinger!“ „Ah.“ Es tönte fast ehrwürdig. „Wirklich, solche Familien gab und gibt es da.“
Sie nannten uns einen Hof auf der Anhöhe und erzählten, dass der Müller
ebenfalls Speichinger geheissen habe. Von diesem Mühlebesitzer Georg Speichinger
las ich später im Emminger Heimatbuch, dass er 1845 im Engersteig
tödlich verunglückte, als er Sägholz in die Talmühle führte und unter
die Räder kam.
Und an anderer Stelle las ich: „Es ist eine für die Familien-
und Sippenforschung wichtige Tatsache, dass weithin zerstreute Familien
gleichen Namens häufig von einem gemeinsamen Ursprungsort stammen, an
dem die Sippe seit Jahrhunderten sesshaft ist. Die Urheimat ist
gleichsam der unversiegbare Quell gewesen, aus dem immer neues Leben
sich in die Fremde ergoss."
Als es Zeit wurde fürs Mittagessen, zog es Walter Hess förmlich in
den „Adler“. Er wusste selbst nicht warum. Später habe ich im Heimatbuch
erfahren, dass der Rösslewirt seit 1810 Franz Xaver Speichinger hiess. Der reichste Grundbesitzer im Dorf. „Als
ihm 1822 das Amt des herrschaftlichen Vogtes übertragen wurde, hätte er
nach den geltenden Bestimmungen sein Wirtsgewerbe aufgeben oder auf
sein Vogtamt verzichten müssen. Er betrieb seine Wirtschaft weiter,
verlegte sie aber 1827 in ein neues Haus, das er ,Adler’ nannte, während
sein Sohn im ,Rössle weiter wirtete."
Im Museum erwartet
Der Besuch im Dorfmuseum erschloss uns nicht nur einen weiteren
Blick in die Vergangenheit. Räume und Gegenstände füllten hier unsere
Familiengeschichte zusätzlich mit Bildern.
1989 konnten wir das Museum nicht besuchen. Diesmal wurden wir aber von den Herren Josef Renner und Horst Lörch erwartet.
Der freundliche Empfang wird mir in bester Erinnerung bleiben. Und
vor allem die Frage, ob wir unsere eigene Alltagssprache verstünden oder
auf Hochdeutsch wechseln sollen. Diese Abstimmung aufeinander berührte
mich. Es war der Ausdruck, einander wirklich verstehen zu wollen.
Horst Lörch begrüsste uns im Namen des Museums, und seine Worte gaben unserem Besuch eine liebenswürdige, leicht formelle Note.
Und von Josef Renner erfuhren wir rasch, dass ein Leobold Spaichinger* 1800 seinen Hof auf einer Ausmerkerhöhe erbaut habe. Das Heimatbuch berichtet von ihm und seiner Körperkraft unter dem Titel „Von Emminger Originalen“, dass er ein Salzfass von 7 Zentnern lupfte. Das Museum beherbergt sein Ehebett. Die Bettfront ist mit der dekorativen Schrift „Leobold Spaichinger – Maria Rosa Sterckin* – 1798“
prachtvoll gestaltet. Dieses gut erhaltene Möbelstück mit seiner
frischen Laubsackmatratze wurde offensichtlich pietätvoll behandelt.
Waren dieser Leobold und seine Maria-Rosa vielleicht die Urahnen von Karl, der in die Schweiz ausgewandert ist?
Wir wunderten uns über das für heutige Begriffe schmale und vor
allem kurze Bett. Walter erinnerte uns daran, dass man früher mit
angezogenen Beinen schlief. Nur ein toter Mensch liege ausgestreckt da.
Und Primo wusste, dass man in weit zurückliegenden Jahrhunderten sitzend
geschlafen habe.
In diesem Zimmer bestaunten wir auch den schönen Wäscheschrank, auf
dessen Tablaren allerlei Textilien lagen. Naturfarbene Nachthemden und
rot-weisses Leinen mit Webmustern verschiedenster Art. An 2
Tablarfronten hält der gestickte Text fest: „Und Alles wohlverwahrt ist deutscher Hausfrau'n Art.“
Walter Hess hat schon über das „rüschene“ Leinen berichtet. Auch
mir hat der Hinweis gefallen, dass dieser rohe, gleichzeitig aber doch
auch weiche Nachthemdenstoff während dem Schlaf die Körperhaut massiere
und damit Hautkrankheiten vorbeuge. Ganz besonders darum, weil meine
Grossmutter Josefine Fässler-Speichinger mir in jungen Jahren den Rat
gab, bei Hautunreinheiten die Stelle mit einem Stück Leinen öfters
abzureiben. Dieser Rat: Direktimport aus Emmingen! Josefines Mutter
brachte diese Erfahrung aus ihrer Heimat nach Wald ins schweizerische
Zürcher Oberland. Das rüschene Leinen erscheint mir als Vorläufer vom
„Peeling“, das die moderne Kosmetik heute anbietet.
In diesem Museum kann man lange verweilen. Während 2 Stunden
fühlten wir uns in das vergangene Leben ein, schauten in Vitrinen, an
Wände, fanden Rechnungsbücher und auch Fotos, die von der
Dorfgemeinschaft Emmingen ab Eck erzählen. Auch Bilder aus jüngerer
Zeit. Ihre Feste sind dokumentiert, ihre Tracht kann bewundert werden.
Sie feierten den Jahreslauf mit Feiertagen, wie es die Kirche vorgab.
Ein Brauch sei auch die „Sichelhenke“ gewesen, wenn am Schluss der Ernte
die Sichel aufgehängt wurde und alle, die mitgeholfen haben, zum
Festschmaus zusammen kamen. Früher ohne Musik, höchstens zu den Klängen
einer Mundharmonika.
In jedem Stall standen Kühe, und mit ihnen wurde gearbeitet. Ihre
langsame Gangart bestimmte das Arbeitstempo. Man ackerte mit der Kuh,
die am Abend auch noch Milch geben musste. Die Arbeit ging langwierig
vor sich. Es fehlte das Pferd und seine Agilität. Es gab nur vereinzelt
Pferde und diese wurden jeweils für hohe Feiertage geschmückt.
Im Museumsstall kann ein Stück originale Katzenkopfsteinpflästerung betreten werden. Urtümliche Fussmassage inbegriffen.
Die Museumsräume waren sehr kalt, als wir das Haus besuchten. Wir
bekamen einen Eindruck, wie wohl es den Menschen in ihrer Küche gewesen
sein muss. Rund um den Herd, wo es im Wasserschiff immer warmes Wasser
gab, da strömte die Wärme aus. Von den vielen Gerätschaften waren uns
manche noch gut bekannt. Die verschiedenen Beschriftungen weisen aber
daraufhin, dass die jungen Familien von heute weit weg sind von diesem
urtümlichen Leben und Wirtschaften und Informationen brauchen.
Wärme für den Schlafraum der Eltern liess man durch einen Schieber
über dem Kachelofen aus der Stube nach oben entweichen. Getrennte
Schlafräume für Mädchen und Knaben richtete man oberhalb dem Stall ein.
Für sie wirkte die Wärme der Tiere durch die Stalldecke wie eine
Bodenheizung im heutigen Schlafzimmer.
In den oberen Museumsräumen ist das Handwerk nachgestellt. Die
Schuhmacherwerkstatt, das Besenbinden, die Ziegelherstellung, und es
werden die verschiedenen Werkzeuge und Geräte aus dem bäuerischen Alltag
gezeigt. Für die Arbeit mit den Tieren, für den Getreidanbau und die
Verarbeitung des Korns.
Aus Grund und Boden
Der Grund und Boden dieses Ortes bescherte den Bewohnern einen
guten Magerlehm, der sich für die Ziegelherstellung eignete.
Hochwertiges Material, das nicht ausgewaschen wird und beim
Trocknungsprozess nicht springt. Gemischt mit Gerstenstroh wurde dieser
Lehm auch im Fachwerkbau eingesetzt. Das Lehmgemisch wurde mit den in
die Räume zwischen die Riegelbalken ausgelegten Ästen verrieben. Die
Zweige garantierten Stabilität und wirkten wie die Betongitter von
heute.
Mit einem gewissen Schalk berichtete Herr Renner von den
Zusatzverdiensten der Bauern, die in ihrem Umfeld Bohnerz (Eisenkorn)
fanden, dieses schürften und ins Schmelzwerk im Nachbarsdistrikt
schmuggelten. 3 zusammengebundene Leitern tief konnten sie den Boden
ausbeuten. Das sogenannte Zusatzbrot wurde anschliessend verflüssigt.
Sie tranken es im Gasthaus Hühnerhof, nachdem sie die Grenze wieder
überschritten hatten. Ob sich die Frauen darüber gefreut haben?
Zurück in Zürich, in Gedanken noch in Emmingen
Am Tag nach der Rückkehr an unsere angestammten Plätze in der
Schweiz fühlte ich mich zerstreut. Meine Gedanken lagen wie Fetzen in
der Landschaft rund um Emmingen. Die Reise dorthin hat mich erneut
beeindruckt und dass sich diesmal auch Kontakte mit Einwohnern ergeben
haben, freute mich besonders. Wenn ich wieder einmal zurückkomme, komme
ich mit dem Gefühl, über meine Vorfahren hier auch ein bisschen
beheimatet zu sein.
Solange ich an diesem Aufsatz schrieb, „hörte“ ich noch die Stimmen
der beiden Männer Josef Renner und Horst Lörch, die sich um das
liebevolle Museum in Emmingen ab Eck verdient gemacht haben. Sie haben
uns viele Details vermittelt und in unserer Familiengeschichte ein paar
leere Felder ausgefüllt. Ich freute mich auch an allen Kontakten, die
Walter Hess bereits aufgezählt hat.
Und in Gedanken stehe ich immer noch auf jener Anhöhe, die totale
Rundsicht verschenkt. Diese Weite, Offenheit und Anmut! Sie muss auf die
Emminger abfärben. Eine Landschaft prägt ihre Menschen. Auch dieser
Aspekt gehört zu meiner persönlichen Familiengeschichte. Hat diese weite
Sicht unseren Urgrossvater dazu verführt, auszuwandern? Hier oben
fanden wir auf einer Aussichtstafel auch Hinweise auf Schweizer Alpen.
Als Abschlussgeschenk zeigten sich uns dort noch die Pestkreuze, an
denen wir an diesem Tag schon einmal vorbeigefahren waren. Da standen
wir, ergriffen von ihrer Geschichte und ihrem Alter.
Da ich im Heimatbuch gelesen habe, die Pestkreuze würden jeweils
erneuert und wieder geweiht, wenn sie morsch geworden seien, kann ich
damit rechnen, dass wir sie auch später wieder finden werden. Die Treue
zu einem frommen Gelübde ist beeindruckend. 1629 wurde die Pest in
Emmingen eingeschleppt. Seither stehen Pestkreuze an allen 4
Ortsausgängen (nach Engen, Hattingen, Tuttlingen und Liptingen) und
werden von der Gemeinde pietätvoll betreut. Sie sind zu ihrem
Wahrzeichen geworden.
*
*Anmerkung zu den Schreibweisen:
Anhand des Namens der Familie Sterckh erläutert der Autor im Heimatbuch die Veränderung der Schreibweise von Sterckh über Stärckh, Störckh und Stärk über die Jahre 1700‒1845.
Den Familiennamen von Leobold Spaichingers Ehefrau kann ich nicht mit Sicherheit angeben. An ihrem Namen auf der Bettfront waren Retouchen auszumachen. Das, was ich als „Sterckin“ las, sollte möglicherweise „Sterckh“ heissen.
Ich nehme an, dass sich die Schreibweise Spaichinger im Laufe der
Zeit ebenfalls verändert hat. Meine Speichinger-Verwandten schreiben
ihren Namen jedenfalls alle mit „ei“.
Angaben zum Heimatbuch:
„Emmingen ab Egg" Geschichte eines Hegaudorfes“
von Professor Erich Stärk, Freiburg i.Br.
1. Auflage 1955
2. Auflage mit Ergänzungsteil 1971.