Als ich Primo kennen lernte, lernte ich gleichzeitig auch
die Bäume kennen. Auf unseren Spaziergängen sprachen sie uns an. Es
wurde eine gemeinsame Geschichte. Mann und Frau, Bäume, Sträucher und
Holz fanden zusammen.
Es mag etwa 50 Jahre her sein, als wir am Limmatufer eine
Pyramidenpappel entdeckten, die noch im Kindesalter war. Vielleicht
5-jährig. Aus einem Samen entstanden, der aus der umliegenden
Pappelreihe angeflogen kam und sich in der Böschung beim Flussufer
verwurzelte. Sicher ist, dass die Pappel nicht vom damaligen
Gartenbauamt gepflanzt wurde. Dieser Baum hatte seinen Platz selbst
gewählt.
Wir nannten diese Pappel immer „unsere“ Pappel. Sie gehört
auch heute noch zur Familie. Wir gingen nie an ihr vorüber, ohne sie zu
grüssen und ihr Wachstum zu bewundern. Sie wurde gross und stark und
schlussendlich zu einem Merkpunkt am Fischerweg. Sie tanzte eben aus der
Reihe.
Ihre Ahnen, auf der gegenüberliegenden Wegseite zu einer langen
Wand angesiedelt, wurden in regelmässigen Zeitabständen beschnitten, um
sie gesund zu erhalten, wie es aus Fachkreisen hiess. Unsere Pappel
bedurfte keiner Operation, keiner Kosmetik, und diese Tatsache
imponierte uns. Sie war immer gesund. Sie passte zu uns oder wir zu ihr.
Auch wir wollen eigenständig sein und würden uns in einer braven Reihe
nicht besonders wohl fühlen.
Um diesen Baum sorge ich mich nun. Der gesamte Fischerweg zwischen
den Bernoulli-Häusern und der Europabrücke wird saniert. Es ist ein
Veloweg geplant. Der Uferweg wird um 1,5 Meter verbreitert. Zusätzliche
Umgestaltungs- und Renovationsarbeiten im Uferbereich bedingen nun eine
gigantische Fällaktion. 80 Pappeln müssten gefällt werden, las ich im
März in unserer Tageszeitung.
Als ich heute beim Aufräumen nochmals auf diese Zeitungsnotitz
stiess, brachte sie einen Stein ins Rollen. Ich liess alles liegen, zog
die Jacke an, holte das Velo und fuhr zur Europabrücke. Hier wollte ich
in den Fischerweg einbiegen; doch dieser Zugang war versperrt. Hier sah
es nach Frühlingsputz aus. Ausgemusterte „Möbel“ lagen auf einem Haufen.
Rote Sitzbänke mit ihren gusseisernen Gestellen, moderne Abfallbehälter
und Informationstafeln der Wasserversorgung zum Thema Brunnen. Aus
diesem Abfallberg sprang ein Eichhörnchen hervor, überquerte meinen Weg
Richtung Wehr. Auf der kleinen Wiese nebenan traf ich dann auf den
ersten Haufen Pappelholz.
Dann fuhr ich weiter, stadteinwärts zu den Sportplätzen, immer nach
unserer Pappel ausschauend, ob sie noch da sei. Endlich entdeckte ich
sie jenseits des hohen Maschenzauns, der die Fussbälle schützen muss.
Das Tor war offen, angelehnt. Abschrankungsbänder signalisierten auch
hier: Zutritt nicht gestattet. Keine Arbeiter in Sicht. Da ich nicht um
Erlaubnis fragen konnte, gab ich sie mir selbst. Ein paar Schritte nur,
und ich konnte unsere Pappel fotografieren. Selbstbewusst, wie immer,
stand sie noch da. Ich sah auch keine Markierungen, die ihren Tod
voraussagen würden. Eindrücklich links und rechts die Berge
geschlachteten Holzes und eindrücklich auch die ins Erdreich gepressten
Profile der wuchtigen Fällmaschinen. Ein wohltuender Kontrast: Die
blühenden Büsche, die stehen bleiben dürfen. Die Pappelreihe ist
gefällt. Was mit unserem Baum geschieht, steht noch in den Sternen. Sein
eigenwilliger Standort rettet ihn vielleicht.
Trotz all den wuchtigen Eingriffen fühlte ich mich hier nicht auf
einem Friedhof. Hier entsteht Neues. Es wurde auch zugesichert, dass die
Pappeln ersetzt werden. Etliche Bäume seien krank gewesen. Man hätte
sie ohnehin aus Sicherheitsgründen fällen müssen, stand in der Zeitung.
Ist es für mich eine Alterserscheinung, dass ich diese Umwandlung
ruhig annehmen kann? Wenn es in früheren Jahren stürmte, sorgte ich mich
öfters um unsere Pappel. Wäre sie von einem Blitzschlag getroffen
worden, hätte ich es als schlechtes Omen für meine Familie ausgelegt.
Mehr als 45 Jahre lebten wir in ihrem Umfeld. Zuerst auf der
rechten, dann auf der linken Flussseite. Nun sind wir es, die zuerst
fortgegangen sind. Nach unserem Umzug nach Zürich-Altstetten und dem
ersten Spaziergang auf Schlierenberg, begrüsste uns dort oben wieder
eine Pyramidenpappel. Genau so eigenständig und alleinstehend wie die
unsere vom Fischerweg.
Sollte unsere Pappel in den nächsten Tagen sterben müssen, sehen
wir sie auf Schlierenberg in ihrer Verwandten weiterleben. Das wäre ein
Trost. Aber wer weiss, vielleicht darf sie ja stehen bleiben, weil ihr
Standort das Limmatufer bereichert.
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