Sonntag, 25. April 2010

Zufriedene Familienfrauen, rotes Tuch für Berufstätige?

Meine Enkelkinder aus Paris sind wieder da. Da wir meist nur einmal pro Jahr beisammen sind, lassen sich ihre Wachstumsschritte besonders gut erkennen.
 
Wie ich hörte, haben sich die Mädchen bei der Anreise in der Bahn kurz vor Zürich plötzlich an vieles erinnert, was sie letztes und vorletzes Jahr mit den Grosseltern erlebt haben. Auch eine Landschaft birgt Erinnerungen und bringt sie ans Tageslicht, wenn wir zu ihr zurückkehren.
 
Als ich bei ihrer Ankunft durch den gläsernen Vorbau unseres Hauses schaute, erkannten mich die Kinder sofort, und ein Lächeln huschte ihnen übers Gesicht. Da war ihr Ziel erreicht, und sie wussten es. Für uns alle wieder ein Moment grosser Freude und ein Zeichen, dass wir unserer Familiengeschichte ab sofort neue Kapitel zufügen werden.
 
Nun ist viel Betrieb im Haus. Vorsorglich habe ich die Mieterin, die über uns wohnt, auf Kinderlärm vorbereitet. Diesmal dürfen Mena und Nora ohne unsere Begleitung ein- und ausgehen und in einem definierten Umfeld spielen und frei herumspringen. Wenn ich sie kontrolliere, will die knapp 4-jährige Nora wissen warum. „Pourquoi?“ fragt sie dann. Und wenn ich antworte, ich wolle wissen, ob unsere Abmachungen eingehalten werden, ruft sie spontan: „D'accord!“ (Einverstanden!)
Die gleiche noch so junge Person fragte mich, ob ich auch eine Mama sei und Kinder habe und wie sie heissen. Felicitas und Letizia und ihre Mutter sei mein Kind. Da lachte sie verschmitzt. Das wusste sie doch schon, wollte es aber auch bestätigt haben.
 
Ich wundere mich über manche Fragen und Gedanken dieser noch so jungen Menschen und würde gern wissen, womit ich meine Eltern oder die Grossmutter damals verblüfft habe. Allgemein hörte man uns Kindern früher wenig zu. Wir mussten hauptsächlich auf die Erwachsenen hören. Das ist die Erfahrung meiner Generation.
 
Aber jetzt geniesse ich als Grossmutter diesen bevorzugten Stand. Das Leben ist weitergegeben. Die Hauptaufgabe als Eltern erfüllt. Jetzt dürfen wir den Enkelkindern noch Zeit schenken, ihre Fragen beantworten, mit ihnen spielen und lachen und ihre Fortschritte dankbar wahrnehmen.
 
In den letzten Wochen bin ich in unserer Tageszeitung auf Leserinnenbriefe gestossen, die sich mit diesem Thema beschäftigten. Es gab da Stimmen von berufstätigen Frauen, die sich über glückliche Familienfrauen ärgerten. Ihre Freude, dass sie dem Leben ganz nahe sind, weckte Neid. Und in solchen Momenten ist der Mensch ungerecht.
 
Ich wurde sehr nachdenklich, habe mich aber auch über verständnisvolle Reaktionen gefreut. Wichtig wäre in meinen Augen nur eines: Sich der eigenen Art und der eigenen Werte bewusst zu sein und nicht mehr zu wollen als möglich ist. Denn jede Entscheidung für etwas ist gleichzeitig immer auch gegen etwas. Niemandem ist es möglich, alle Talente und alle Chancen, die das Leben verteilen kann, auf sich zu vereinigen.
 
Sich mit andern zu vergleichen, ist unnötig. Es schafft nur Unzufriedenheit. Wichtig ist einzig, dass wir wissen, wer wir sind und wo wir unsere Talente einsetzen können. Das ist sinnvoll. Ob für die persönliche Familie oder die menschliche Gemeinschaft, ist einerlei.

Montag, 12. April 2010

Bald wissen wir, ob unsere Pappel weiterleben darf

Als ich Primo kennen lernte, lernte ich gleichzeitig auch die Bäume kennen. Auf unseren Spaziergängen sprachen sie uns an. Es wurde eine gemeinsame Geschichte. Mann und Frau, Bäume, Sträucher und Holz fanden zusammen.
 
Es mag etwa 50 Jahre her sein, als wir am Limmatufer eine Pyramidenpappel entdeckten, die noch im Kindesalter war. Vielleicht 5-jährig. Aus einem Samen entstanden, der aus der umliegenden Pappelreihe angeflogen kam und sich in der Böschung beim Flussufer verwurzelte. Sicher ist, dass die Pappel nicht vom damaligen Gartenbauamt gepflanzt wurde. Dieser Baum hatte seinen Platz selbst gewählt.
 
Wir nannten diese Pappel immer „unsere“ Pappel. Sie gehört auch heute noch zur Familie. Wir gingen nie an ihr vorüber, ohne sie zu grüssen und ihr Wachstum zu bewundern. Sie wurde gross und stark und schlussendlich zu einem Merkpunkt am Fischerweg. Sie tanzte eben aus der Reihe.
 
Ihre Ahnen, auf der gegenüberliegenden Wegseite zu einer langen Wand angesiedelt, wurden in regelmässigen Zeitabständen beschnitten, um sie gesund zu erhalten, wie es aus Fachkreisen hiess. Unsere Pappel bedurfte keiner Operation, keiner Kosmetik, und diese Tatsache imponierte uns. Sie war immer gesund. Sie passte zu uns oder wir zu ihr. Auch wir wollen eigenständig sein und würden uns in einer braven Reihe nicht besonders wohl fühlen.
 
Um diesen Baum sorge ich mich nun. Der gesamte Fischerweg zwischen den Bernoulli-Häusern und der Europabrücke wird saniert. Es ist ein Veloweg geplant. Der Uferweg wird um 1,5 Meter verbreitert. Zusätzliche Umgestaltungs- und Renovationsarbeiten im Uferbereich bedingen nun eine gigantische Fällaktion. 80 Pappeln müssten gefällt werden, las ich im März in unserer Tageszeitung.
 
Als ich heute beim Aufräumen nochmals auf diese Zeitungsnotitz stiess, brachte sie einen Stein ins Rollen. Ich liess alles liegen, zog die Jacke an, holte das Velo und fuhr zur Europabrücke. Hier wollte ich in den Fischerweg einbiegen; doch dieser Zugang war versperrt. Hier sah es nach Frühlingsputz aus. Ausgemusterte „Möbel“ lagen auf einem Haufen. Rote Sitzbänke mit ihren gusseisernen Gestellen, moderne Abfallbehälter und Informationstafeln der Wasserversorgung zum Thema Brunnen. Aus diesem Abfallberg sprang ein Eichhörnchen hervor, überquerte meinen Weg Richtung Wehr. Auf der kleinen Wiese nebenan traf ich dann auf den ersten Haufen Pappelholz.
 
Dann fuhr ich weiter, stadteinwärts zu den Sportplätzen, immer nach unserer Pappel ausschauend, ob sie noch da sei. Endlich entdeckte ich sie jenseits des hohen Maschenzauns, der die Fussbälle schützen muss. Das Tor war offen, angelehnt. Abschrankungsbänder signalisierten auch hier: Zutritt nicht gestattet. Keine Arbeiter in Sicht. Da ich nicht um Erlaubnis fragen konnte, gab ich sie mir selbst. Ein paar Schritte nur, und ich konnte unsere Pappel fotografieren. Selbstbewusst, wie immer, stand sie noch da. Ich sah auch keine Markierungen, die ihren Tod voraussagen würden. Eindrücklich links und rechts die Berge geschlachteten Holzes und eindrücklich auch die ins Erdreich gepressten Profile der wuchtigen Fällmaschinen. Ein wohltuender Kontrast: Die blühenden Büsche, die stehen bleiben dürfen. Die Pappelreihe ist gefällt. Was mit unserem Baum geschieht, steht noch in den Sternen. Sein eigenwilliger Standort rettet ihn vielleicht.
 
Trotz all den wuchtigen Eingriffen fühlte ich mich hier nicht auf einem Friedhof. Hier entsteht Neues. Es wurde auch zugesichert, dass die Pappeln ersetzt werden. Etliche Bäume seien krank gewesen. Man hätte sie ohnehin aus Sicherheitsgründen fällen müssen, stand in der Zeitung.
 
Ist es für mich eine Alterserscheinung, dass ich diese Umwandlung ruhig annehmen kann? Wenn es in früheren Jahren stürmte, sorgte ich mich öfters um unsere Pappel. Wäre sie von einem Blitzschlag getroffen worden, hätte ich es als schlechtes Omen für meine Familie ausgelegt.
 
Mehr als 45 Jahre lebten wir in ihrem Umfeld. Zuerst auf der rechten, dann auf der linken Flussseite. Nun sind wir es, die zuerst fortgegangen sind. Nach unserem Umzug nach Zürich-Altstetten und dem ersten Spaziergang auf Schlierenberg, begrüsste uns dort oben wieder eine Pyramidenpappel. Genau so eigenständig und alleinstehend wie die unsere vom Fischerweg.
 
Sollte unsere Pappel in den nächsten Tagen sterben müssen, sehen wir sie auf Schlierenberg in ihrer Verwandten weiterleben. Das wäre ein Trost. Aber wer weiss, vielleicht darf sie ja stehen bleiben, weil ihr Standort das Limmatufer bereichert.

Sonntag, 4. April 2010

Vom Sandwich übers Kiewer-Huhn zur Totalüberwachung

Mit Primo war ich auf der Strecke Zürich‒Uster unterwegs. Ab Stadelhofen setzte sich ein junger Mann zu uns ins Abteil. Das Notebook auf den Knien, ein Sandwichpaket in Händen. Hungrig biss er ins Brot und stutzte. „Was habe ich da gekauft?“ sagte er gut hörbar zu sich selbst. Wie es sich dann herausstellte, hatte er an einem Kiosk ein Sandwich aus der Rubrik „Poulet“ gewählt und war jetzt über die Konsistenz des angeblichen Hühnerfleisches erstaunt. Dieses hier hatte gar keinen Biss, war nur eine Pasta. Während er die Informationen auf der Verpackung las, kaute er weiter, war aber unsicher, ob ihm diese Nahrung zuträglich sei. Ironisch zitierte er: „Formbares Fleisch-Erzeugnis.“
 
Wir lachten. Ich dachte: Dieser Mann kennt die reelle Nahrung. Und dann ergab ein Wort das andere. Ich erinnerte mich an das „Kiewer-Huhn“ das ich in Istanbul gegessen hatte und erzählte davon. Für eine grosse Gesellschaft wurde dort Hühnerfleisch durch den Fleischwolf getrieben und zu künstlichen Pouletschenkeln portioniert. Auf diese Art musste niemand an den Knochen nagen, und alle Gäste bekamen gleichmässig viel zu essen.
 
Dann erinnerte ich mich an die Einflüsse der Astronauten-Nahrung, die für den 1. Flug zum Mond erfunden wurde. Ich habe den Namen jenes getrockneten Produktes vergessen, das wir im Wasser aufquellen liessen, es ebenfalls durch den Fleischwolf drehten und dann wie gehacktes Rindfleisch verarbeiteten. Es war auch für mich ein Experiment, aber nur für kurze Zeit. Es war mir zu künstlich, nicht lebendig. Ob sich dieses noch auf dem Markt befindet, weiss ich nicht.
 
Primo vollzog dann Gedankensprünge zu weiteren Errungenschaften und landete bei George Orwells „Grossem Bruder“, dem vermeintlich unsichtbaren Überwacher. Als wir jung waren, sprachen wir oft von der Gefahr, dass unsere Nachfahren einst sofort nach der Geburt mit einem Chip ausgerüstet würden, der die Überwachung sichere. Wir stellten uns vor, dass dieser hinter dem Ohr implantiert würde. Und heute? Hunde tragen schon solche Chips, auch Schafe. Wenn sie auch Kindern eingesetzt würden, müssten sie gar nicht mehr zur Schule. Man könnte ihnen den Schulstoff ferngesteuert eintrichtern. Und jener Mann, der vergangene Woche im Vierwaldstättersee ertrunken ist, hätte man rasch finden können. Obwohl diese Gedankenblitze nichts anderes als ein heiteres, etwas überdrehtes Gespräch und ein Pingpong sein wollten, sagte der junge Mann etwas nachdenklich, alles habe auch seine guten Seiten. Und ich fragte, wie auch schon früher, wer denn ein solches System lenken dürfte.
 
Dann war seine Fahrt zu Ende. Mit der Papierserviette wischte er noch die Oberlippe ab, lobte den Humor, dankte für die Unterhaltung und verabschiedete sich. Und an der nächsten Station waren auch wir an unserem Ziel angekommen.

Freitag, 2. April 2010

Wie mich die Frühlingsenergie reizt und wie ich sie zähme

Die Karwoche ist etwas Besonderes. Es sind die Tage vor dem Osterfest. Die Arbeitswoche ist kurz. Die Ansprüche an diese Zeit sind gross. Das Haus soll aufgeräumt und sauber werden, damit wir es in der Osternacht wieder feierlich ausräuchern können.
Das Frühlingslicht macht mich quirlig. Vermutlich ist es nicht das Licht allein, das in alle Winkel zündet und mir den Staub und Schmutz präsentiert. Ich spüre auch die Energie aus der wieder erwachten Natur. Im Erdreich muss sich ein Gerangel abspielen. Gras und Blumen befinden sich ziemlich sicher in einem gigantischen Wettstreit, wer zuerst den Durchbruch schafft.
 
An solchen Tagen fallen mir viele Ideen zu, ohne dass ich sie auf ihre Tauglichkeit prüfen kann. Es ist Aufbruchstimmung. Die Gedanken sind noch unvergoren „en Chrüsimüsi“, eine Art Mischmasch. Auch sie sind im Wettstreit nach aussen und mit dem Wunsch verbunden, verwirklicht zu werden. Es ist eine Art Energietanz in mir und ein Drang, dies und das gleichzeitig anzupacken und zu realisieren. Die Gefahr, nervös zu werden, gehört dazu. Mein Vater nannte meine Natur manchmal „Schutzgatter“. Die Einzelteile eines Fallgatters baumeln solange unruhig hin und her, bis sie im Stadttor fixiert sind. So bildreich war die Sprache noch vor 50 oder 100 Jahren.
 
Ich habe auch schon davon geträumt, die Karwoche in einem Kloster zu verbringen, um mich nicht mit Alltäglichem befassen zu müssen. Der Übergang von der schlafenden zur erwachten Natur, vom Sterben und Auferstehen in kontemplativer Art zu erleben.
 
Und dann stellte ich fest, dass gerade die Hausfrauenarbeit zur Beschaulichkeit führen kann. Kontemplation (Versunkenheit ohne allen Wollens) stellt sich doch auch ein, wenn ich Wäsche bügle. Diese Arbeit geht mir leicht von der Hand, verlangt nur Konzentration. Das, was nachher auch noch getan werden muss, ist noch nicht angesprochen. Ich bin nur da, wo ich jetzt gerade bin. Arbeitend und doch auch ruhend. Und dann steigen manchmal ganz schöne Einsichten auf.
 
Ähnlich beruhigend wirkt das warme Wasser aus dem Schüttsteinbecken, wenn ich unser Geschirr spüle. Dann reguliert mir die Wärme den Kreislauf, beruhigt das Nervensystem und bindet die schusselige Natur zurück.
 
Als unsere Töchter noch kleine Kinder waren, konnte ich auch an ihnen beobachten, wie sich der Frühling gebärdet. Sie stürmten hinaus, tummelten sich stundenlang im Freien, redeten laut oder schrien. Sie wurden frech und setzten sich durch. Ich erinnere mich jeden Frühling an diese Erfahrung. Eindrücklich ist auch der Vergleich mit dem astrologischen Widder, dem ersten Zeichen im Tierkreis. Das Temperament jener Menschen, die zwischen dem 21. März und dem 20. April geboren sind, tragen unübersehbar vergleichbare Zeichen in sich. Sie stürmen gerne auf Ziele los, sind Tatmenschen, jungendlich unbekümmert, ungeduldig und wollen oft mit dem Kopf durch die Wand.
 
Der französische Astrologe André Barbault schrieb dazu: „Wenn man bedenkt, was sich in der Natur abspielt, während die Sonne das erste Zeichen durchläuft, versteht man auch, dass dieses Zeichen von einem Widder versinnbildlicht wird. Dieses Tier steht in der Herde stets zuvorderst, seine Stosskraft ballt sich im massigen Schädel zusammen und ist immer bereit, sich mit den Hörnern voran auf ein Hindernis zu stürzen.“
 
Vielleicht mehr noch ist mir das Leise am Frühling lieb. Wie lautlos und geheimnisvoll sich das Wachstum vollzieht. Wie sich die Knospen entfalten, wie Blumen erblühen. Wie sich Wiesen und Felder über Nacht verändern. Wir hören sie nicht, und doch bin ich überzeugt, dass auch sie miteinander im Gespräch sind und den Frühling feiern.