Donnerstag, 18. Februar 2010

Manchmal ist die Schreinerei auch eine Arztpraxis

Im Wartezimmer einer Praxisgemeinschaft beobachte ich, wie eine Ärztin ihre Patientin einlädt, ins Untersuchungszimmer zu kommen. Sie beugt sich zur wartenden Frau, die gleich neben der Tür sitzt. Allein mit dieser einfühlsame Geste scheint sich die Patientin leichter aufzurichten. Das berührt mich.
 
Dann sitze ich alleine in diesem Raum. Die Gedanken sind ausgeschaltet. Ich warte. Plötzlich sehe ich mich in unserer Schreinerei-Werkstatt. Ich beuge mich, ganz ähnlich wie die Ärztin, auch zu einem Patienten nieder. Da steht ein alter Sekretär, und abgebrochene Teile von ihm liegen auf der Hobelbank. Die mit intarsierten Frauenfiguren aus Kirschbaum-, Nussbaum- und Ahornholz gestaltete Klappe geben ihm immer noch ein vornehmes Gepräge, obwohl die brüchige Oberfläche verhindert, dass das Möbel noch eine attraktive Rolle spielen kann. Es ist ein Unikat, das renoviert und dem die ursprüngliche Ausstrahlung zurückgegeben werden soll. Die massive Front ist verzogen. Das Holz wirkt ausgetrocknet. Ich sehe, wie sich fehlende Luftfeuchtigkeit auswirken kann.
 
Noch immer befinde ich mich in diesem Film. Ich sehe die Blessuren. Und Primo beugt sich ebenfalls behutsam über abgefallene Teile, nimmt sie zur Hand, hält sie sachte da hin, wo sie einmal fest verankert waren. Es ist eine vergleichbare Stimmung wie bei einem Arzt, der einen Menschen untersucht und sich über sein Leiden, sein Alter und seine Abnützungen ein Bild macht.
 
Noch rechtzeitig, bevor mich die Ärztin ebenfalls aufruft, komme ich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Jetzt hoffe ich, dass ich selber ähnlich einfühlsam untersucht werde, auch wenn ich keine mit dem Möbel vergleichbare Renovation erwarte. Und so geschieht es auch. Ich höre zum Beispiel, dass mein Körpergewicht jenem entspreche, das vor 3 Jahren notiert worden sei. Die Körpergrösse aber habe um 3 cm abgenommen. Damit ich dann in den Sarg passe, füge ich bei. Mein Schalk schien ihr zu gefallen. Sie griff den Gedanken an den natürlichen Abbau des Körpers auf und schätzte es, dass ich diesen nicht negiere.

Zurück zum Möbel: Der oben beschriebene Sekretär wurde als Patient tatsächlich in unserer Werkstatt behandelt. Auf dem Schragen liegend, wurden die Wurmlöcher in den Füssen unschädlich gemacht, imprägniert und mit Schleifstaub gefüllt. Abgebrochene Teile wurden neu verleimt. Um die Windschiefe aufzulösen, mussten der Klappe im Inneren ein paar Einschnitte verpasst werden. Diese Operation war sehr anspruchsvoll. Sie ist gelungen. Und die frische Schellackoberfläche nach altbewährter Art bringt nun das aufgefrischte Möbel wieder zum Strahlen.
 
Es dünkt mich, diese beiden Geschichten seien verwandt. Da der in die Jahre gekommene Mensch und dort das alte Möbel. Beide haben andern gedient und sich dabei verbraucht. Beide benötigen plötzlich Zuwendung und professionelle Hilfe, um innere und äussere Verwitterungen zu stabilisieren.
 
Der Mensch, der sich verstanden fühlt, wird sich aufrichten und seine schlummernden Kräfte wieder mobilisieren. Auch das Möbel wird seine Dienste nach einer Renovation wieder leisten können.
 
Hat der Handwerker noch mit alten Techniken gearbeitet, ist die Seele eines alten Möbels nicht verletzt und es kann erneut strahlen und die Bewunderung geniessen, die es anzieht. Eine gute Auffrischung ist vom handwerklichen Können des Schreiners abhängig. Seine Hände geben dem Holz manche Streicheleinheit, die eine Maschine nicht hervorbringen kann.
 
Und wie ein guter Arzt empfunden wird, das wissen Sie selber.

Dienstag, 2. Februar 2010

Stricken war einmal sehr populär: Meine Erinnerungen



Am 28. Januar 2010 fand ich im Blog unserer Tochter Letizia zum Thema Stricken diesen kleinen und witzigen Film „The last knit“
Es löste diesen Beitrag aus.
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In letzter Zeit ist Stricken wieder salonfähig geworden. Es soll junge Frauen geben, die sich zu Strickabenden treffen. Das weckt Erinnerungen.
 
Zu meiner Jugendzeit war Stricken populär. Wir Mädchen wuchsen ganz natürlich in dieses Handwerk hinein. Meine Mutter verstand es, uns dafür zu begeistern. Und die Grossmutter half mir, meine Projekte zu verwirklichen, wenn ich bei ihr in den Ferien war. Zu Hause strickten wir zu dritt um die Wette. Beim Sockenstricken gab es einen in vielen Familien bekannten Wettstreit. Wir stachen mit der Nadel in die Zeitung. Die Anzahl Buchstaben jenes Wortes, das wir getroffen hatten, bestimmte die Anzahl der zu strickenden Umgänge. Wer diese zuerst abgespult hatte, war Gewinnerin. Ein fröhliches Spiel. Die Zeit verflog im Nu.
 
Mutter und Grossmutter verstanden es, uns zur Perfektion zu erziehen. Da machte es dann Freude, wenn ein Werk gelang. Wir strickten auch Pullover und Jacken. Noch besitze ich zwei der hochformatigen Strickbücher der „Schaffhauser Wolle“. Den 19. und den 20. Jahrgang. Modejournal und Anleitungsbuch in einem. Jedes Modell fotografisch dargestellt, mit Zeichnung und Beschrieb versehen. Einleitend auch mit einem Sortenverzeichnis der verschiedenen Wollgarne.
 
Das Markensignet der „Schaffhauser Wolle“ mit dem abgebildeten Hardturm spricht mich darum speziell an, weil ich diesem mittelalterlichen Wohnturm gegenüber aufgewachsen bin.
 
Wenn ich heute in diesem Strickbuch blättere, erkenne ich sofort jene Modelle, die in unserer Stube entstanden sind. Und ich finde auch Yolanda, meine Mitschülerin, die wie ein professionelles Mannequin eine mehrfarbige und mit Spannstichen dekorierte Strickjacke präsentiert. Auf der Fotografie sitzt sie auf dem Brunnenrand vor dem Primarschulhaus Kornhausbrücke. Um dieses Mädchen wehte immer eine Art Glanz, dem sich vor allem die Buben nicht entziehen konnten. Wer wählte sie aus, wie kam sie zu solcher Ehre? Wir waren doch Kinder aus dem Industriequartier.
 
Beeindruckt bin ich noch heute von der Gestaltung dieser Strickbücher. Es begeistert mich das modische Flair, die übersichtliche Darstellung, die Fotos auch von Strickmustern und die grundlegenden, allgemeinen Hinweise. Alles klar. Wirklich alles klar.
Beim Stricken lernten wir, auf viele Details zu achten. Auch da gibt es eine Art Handschrift. Manche reihen die Maschen ganz eng und hart aneinander, andere locker. Darum musste zuallererst eine Maschenprobe gemacht werden. Im Strickbuch heisst es dazu zum Beispiel bei einem Modell: „15 M. (Maschen) im Flächenmuster ergeben 4 cm Breite.“ Das war zu vergleichen und falls nötig, auf die eigene „Handschrift“ umzurechnen. Da lernte ich den Dreisatz praktisch einsetzen.
 
Wir lernten planen, berechnen, vorausschauen, Masse einhalten, auf Form stricken. Man kann eine Handstrickarbeit später nicht zuschneiden. Da würde das Gewebe sofort zerfallen. Wir lernten, Voraussicht und Übersicht zu entwickeln.
 
Wenn wir einen Fehler entdeckten, wurden die Nadeln herausgezogen und die Strickerei soweit aufgelöst, bis er verschwunden war.
 
Dass das Gewebe der Handstrickerei aufgelöst werden kann, hat uns damals auch ermöglicht, einen Pullover, der zu klein geworden war, aufzutrennen, das vernähte Wollfadenende zu suchen, es aufzulösen und die gesamte Arbeit rückgängig zu machen. Die gekräuselte Wolle also wieder zu Knäueln aufrollen. Danach wickelten wir sie um eine Stuhllehne, unterteilten von Zeit zu Zeit mit einem andersfarbigen Garn die Stränge und banden den Faden fest. Dann wuschen wir diese Wollstränge in einem milden Seifenwasser, streckten sie, trockneten sie, banden sie erneut zu Knäueln auf und verarbeiteten sie zu einem neuen Modell. Wenn es grösser ausfallen musste, wurde ein zusätzliches, andersfarbiges Garn dazugenommen und zu einer neuen Kreation verarbeitet. Als „nachhaltig“ würde man das heute bezeichnen.
 
Wenn sich die Fäden beim Stricken um unsere Finger schlängelten, fühlten wir die Art der Garne und ihre Elastizität. Das sind Sinneseindrücke, die ewig leben und mir immer noch beistehen, wenn ich eine Stoffqualität beurteilen will.
 
Nach und nach folgte ich nicht mehr den vorgegebenen Mustern. Erfahrung führt ja automatisch zur Kreativität. Das ist nochmals ein positiver Punkt, der zum Thema Stricken hinzugefügt werden kann. Und mit Stricken verdiente ich übrigens mein erstes Geld.
 
Felicitas, unsere ältere Tochter, wuchs auch noch in der beschriebenen Tradition auf. Schneller als ich verzichtete sie auf Strickbücher und Vorgaben und entwickelte eigene Modelle und Muster. Ihre spätere Ausbildung zur Textil-Designerin baute dann auf diesen Erfahrungen auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Paris und hat kürzlich einen Laden für ihre CAGOULES (Kapuzenmützen) im Internet eröffnet. www.ateliercagoules.etsy.com
 
Im Werbebanner von Letizias Blog machetwas.blogspot.com stellen meine Enkelinnen Mena und Nora samt Puppe Mamas Arbeit vor. Von dort aus ist das Atelier Cagoules ebenfalls erreichbar. Ein Besuch lohnt sich.