Im Wartezimmer einer Praxisgemeinschaft beobachte ich, wie eine
Ärztin ihre Patientin einlädt, ins Untersuchungszimmer zu kommen. Sie
beugt sich zur wartenden Frau, die gleich neben der Tür sitzt. Allein
mit dieser einfühlsame Geste scheint sich die Patientin leichter
aufzurichten. Das berührt mich.
Dann sitze ich alleine in diesem Raum. Die Gedanken sind
ausgeschaltet. Ich warte. Plötzlich sehe ich mich in unserer
Schreinerei-Werkstatt. Ich beuge mich, ganz ähnlich wie die Ärztin, auch
zu einem Patienten nieder. Da steht ein alter Sekretär, und
abgebrochene Teile von ihm liegen auf der Hobelbank. Die mit
intarsierten Frauenfiguren aus Kirschbaum-, Nussbaum- und Ahornholz
gestaltete Klappe geben ihm immer noch ein vornehmes Gepräge, obwohl die
brüchige Oberfläche verhindert, dass das Möbel noch eine attraktive
Rolle spielen kann. Es ist ein Unikat, das renoviert und dem die
ursprüngliche Ausstrahlung zurückgegeben werden soll. Die massive Front
ist verzogen. Das Holz wirkt ausgetrocknet. Ich sehe, wie sich fehlende
Luftfeuchtigkeit auswirken kann.
Noch immer befinde ich mich in diesem Film. Ich sehe die Blessuren. Und Primo
beugt sich ebenfalls behutsam über abgefallene Teile, nimmt sie zur
Hand, hält sie sachte da hin, wo sie einmal fest verankert waren. Es ist
eine vergleichbare Stimmung wie bei einem Arzt, der einen Menschen
untersucht und sich über sein Leiden, sein Alter und seine Abnützungen
ein Bild macht.
Noch rechtzeitig, bevor mich die Ärztin ebenfalls aufruft, komme
ich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Jetzt hoffe ich, dass ich selber
ähnlich einfühlsam untersucht werde, auch wenn ich keine mit dem Möbel
vergleichbare Renovation erwarte. Und so geschieht es auch. Ich höre zum
Beispiel, dass mein Körpergewicht jenem entspreche, das vor 3 Jahren
notiert worden sei. Die Körpergrösse aber habe um 3 cm abgenommen. Damit
ich dann in den Sarg passe, füge ich bei. Mein Schalk schien ihr zu
gefallen. Sie griff den Gedanken an den natürlichen Abbau des Körpers
auf und schätzte es, dass ich diesen nicht negiere.
Zurück zum Möbel: Der oben beschriebene Sekretär wurde als Patient
tatsächlich in unserer Werkstatt behandelt. Auf dem Schragen liegend,
wurden die Wurmlöcher in den Füssen unschädlich gemacht, imprägniert und
mit Schleifstaub gefüllt. Abgebrochene Teile wurden neu verleimt. Um
die Windschiefe aufzulösen, mussten der Klappe im Inneren ein paar
Einschnitte verpasst werden. Diese Operation war sehr anspruchsvoll. Sie
ist gelungen. Und die frische Schellackoberfläche nach altbewährter Art
bringt nun das aufgefrischte Möbel wieder zum Strahlen.
Es dünkt mich, diese beiden Geschichten seien verwandt. Da der in
die Jahre gekommene Mensch und dort das alte Möbel. Beide haben andern
gedient und sich dabei verbraucht. Beide benötigen plötzlich Zuwendung
und professionelle Hilfe, um innere und äussere Verwitterungen zu
stabilisieren.
Der Mensch, der sich verstanden fühlt, wird sich aufrichten und
seine schlummernden Kräfte wieder mobilisieren. Auch das Möbel wird
seine Dienste nach einer Renovation wieder leisten können.
Hat der Handwerker noch mit alten Techniken gearbeitet, ist die
Seele eines alten Möbels nicht verletzt und es kann erneut strahlen und
die Bewunderung geniessen, die es anzieht. Eine gute Auffrischung ist
vom handwerklichen Können des Schreiners abhängig. Seine Hände geben dem
Holz manche Streicheleinheit, die eine Maschine nicht hervorbringen
kann.
Und wie ein guter Arzt empfunden wird, das wissen Sie selber.