Freitag, 24. Dezember 2010

Die Geschichte von Johann Hinrich Wicherns Adventskranz

In einer Zeitschrift stiess ich dieser Tage auf die Besprechung eines Weihnachtsgeschichtenbuchs, das mir gerade noch gefehlt hatte. Einerseits soll ich die Enkelkinder mit Geschichten füllen, wie meine Tochter dies aussprach, andererseits tauche ich immer wieder gerne in alte Weihnachtsgeschichten ein, weil sie weniger rational gestaltet sind. Mir gefallen Geschichten, die der Seele gut tun. Solche, in denen wir miterleben können, wie sich Menschen verändern, wie Wundersames geschieht und solches noch mit nüchternen Überlegungen erklärt werden kann.
 
Das im Verlag Urachhaus erschienene Buch Als Weihnachten beinahe ausgefallen wäre konnte ich kaufen. Vom Kapitel „Advent im Rauhen Haus" will ich erzählen.
 
Es geht hier um verwahrloste Kinder und Jugendliche aus dem Armenviertel von Hamburg in der Zeit ab 1832. In der Geschichte wird erzählt, dass ein Johann Hinrich Wichern das sogenannte „Ruges Hus“ (Raues Haus) ins Leben rief. Ein Zuhause für Kinder, die kein eigenes mehr hatten. Wir können uns damalige Armut und Verwahrlosung wohl kaum vorstellen. Solche Kinder aufzunehmen und sie zu einem menschenwürdigen Leben hinführen, erfordert ein ganz grosses Charisma.
 
In diesem Rauhen Haus galt die Losung, dass man eine Familie und jeder jedem Bruder sei. Aber die Jungen aus schlimmstem sozialen Elend waren noch nicht fähig, solche Forderung zu erfüllen. 2 ungefähr gleich starke Burschen beanspruchten die Führung. Beiden folgten ungefähr je die Hälfte der Buben. Es wurde gestritten, einander geplagt. Es muss eine hochaufgeladene Stimmung geherrscht haben, die zu jenem Zeitpunkt niemand entschärfen konnte. Einer der Anführer hatte sich eine Kerze beschafft und drohte, bald werde es brennen. Schlussendlich beschafften sich alle Knaben, auch jene der Gegnergruppe, eine Kerze. Und niemand wusste eigentlich, was denn brennen sollte.
 
Und dann war es ein kleines Kind, das die Atmosphäre entspannte. Als die Frau, die den Kindern jeweils das Frühstück zubereitete, an einem Morgen auf dem Weg ins Rauhe Haus unterwegs war, fand sie auf der Strasse ein kleines, dunkelhäutiges Kind, fast nackt auf der Strasse liegen. Sie hob es auf, nahm es an ihren Arbeitsort mit. Dort wurde der Kleine in der warmen Stube in den Holzkorb gelegt. Und ab diesem Moment hörten die Raufereien unter den Burschen auf. Sie achteten darauf, dass es diesem kleinen Gast gut gehe. Gab es doch noch Streit, fing der Kleine zu brüllen an und bewirkte, dass sie sich beruhigten.
 
Die Händel rückten nun weg von ihnen. Dieser neugeborene Mensch verwandelte sie, weil er klein und verwundbar war, aber auch, weil er immer wieder auf sich und sein Wohl aufmerksam machte. Sie lernten die Ehrfurcht vor dem Leben kennen. Die Burschen setzten sich zu ihm neben den Holzkorb und schauten nach ihm, fühlten sich vielleicht verantwortlich. Einmal stimmte Vater Johann ein Adventslied an und die Burschen sangen mit. Der Kleine aber, solcher Stimmung fremd, weinte und schluchzte. Einer der Rädelsführer holte nun seine Kerze aus dem Hosensack, entzündete sie am Ofen, brachte sie dem Kleinen vor die Augen und beruhigte ihn augenblicklich. Und weiter heisst es in der Geschichte, Vater Johann sei behilflich gewesen, dass die Kerze am Korbrand sicher befestigt wurde, damit der Kleine das beruhigende Licht und seine Bewegung gut sehen könne. Und dann sei noch ein zum Holzkorb passendes Gestell gebaut worden, auf dem dann nach und nach täglich eine weitere Kerze aus einem der Hosensäcke dazu kam.
 
Und das sei die Geburtsstunde des Adventskranzes gewesen, hiess es. Wicherns Kranz ist aber lichtvoller als derjenige in der Schweiz. Er trägt je eine Kerze für jeden Tag im Advent.
 
Noch vor Jahren hätte ich diese Erzählung einfach als eine erbauende Geschichte aufgefasst. Aber heute, mit dem Zugang zum Internet, habe ich dort bestätigt gefunden, dass es dieses Rauhe Haus gegeben hat und immer noch gibt. Mit grossem Interesse habe ich die entsprechenden Beiträge über Johann Hinrich Wichern gelesen. Er lebte von 1808 bis 1881 und wird als bedeutendste sozialpolitische Persönlichkeit der evangelischen Diakonie in Deutschland bezeichnet. War er mit unserem schweizerischen Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi 1746‒1828 seelenverwandt?
 
Im Internet wird übrigens ebenfalls darauf hingewiesen, dass der Adventskranzbrauch 1839 von Wichern im Rauhen Haus eingeführt worden sei.

Freitag, 17. Dezember 2010

Füsse, Schuhe, Beschwerden, Fussabdrücke im Schnee

Die Füsse haben aufgejault, als ich sie beim ersten Schnee in die schweren Winterschuhe zwängte. Gewohnt an leichtes und bewegliches Schuhwerk, empfanden sie die warmen, aber schweren Schuhe als grosse Last. Knochen und Fersen beklagten sich in Form von Schmerzen, obwohl es Schuhe sind, die meine Füsse seit Jahren kennen und mich an viele Orte hingetragen haben.
 
Auch neue Schuhe wurden nicht sofort akzeptiert. Das ganze Knochengerüst will neuerdings mitreden, wenn es eine Veränderung gibt. Mit zunehmendem Alter meldet sich in diesem Bereich eine anspruchsvolle Sensibilität und fordert geduldige Gewöhnung.
 
Am Morgen des 15.12.2010, als ich zum Einkaufen wieder in den Winterschuhen unterwegs war, fühlte ich keine Probleme mehr. Es lag leichter Schnee und dieser wirkte stossdämpfend. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich locker gehen konnte. Ich freute mich, schaute auf den Boden, der mir sofort allerlei Geschichten zu erzählen begann.
In den Schnee gedrückt, sah ich grobe, filigrane, absatzbetonte und ganz flache Sohlen. Männerfüsse, Frauenfüsse, Kinderfüsse, aber auch Pfoten von Hunden und Spuren von Vögeln. Dekoriert war der Schnee mit letzten locker verstreuten Blättern und Samen von den hier heimischen Bäumen. Ein schönes Bild.
 
Fortan schaute ich nur noch auf meinen Weg, auf die nächsten Schritte. Und ich sah, dass wir alle, die diesen Weg benützen, unsere Spuren hinterlassen. Unwissend, dass wir dabei das Muster von vorher zerstören. Im Dialekt nennen wir das „vertrampe“ (zertreten). Ein Stück weiter hatte ein Auto sogar alle Fussspuren auf dem Trottoir überwalzt. Wieder einmal dachte ich: Der Schnee deckt zu, aber er deckt auch auf.
 
Er deckt auf, dass viele, sehr viele Menschen den gleichen Weg gehen, aber nichts voneinander wissen. Kämen alle zur selben Stunde daher, es wäre ein ungemütliches Gedränge. Da würden gewiss die Ellbogen eingesetzt, um den eigenen Platz und das Fortkommen zu behaupten. Schwache würden beiseite geschoben und möglicherweise „vertrampet“.
 
Auf dem Heimweg hörte ich die Glocke von der kleinen Kirche am Suteracher läuten, wie üblich am Mittwochmorgen zu dieser Zeit. Ich fühlte mich, wie schon oft hier oben, in einem Dorf. Jetzt war ich allein unterwegs. In der Zwischenzeit hatten die umliegenden Schulhäuser die vorher noch herumalbernden Kinder verschluckt. Es war ruhig, friedlich. Jetzt, auf dem Rückweg, erspähte ich noch einige Partien mit frischem, unberührtem Schnee. Als Kind wäre ich sofort dorthin gesprungen, um meinen persönlichen Fussabdruck zu deponieren. Damals noch auf dem Land wohnhaft, gefiel es mir und meinen Freundinnen auch, uns in den Schnee zu setzen und mit ausgestreckten Armen, die Wirbelsäule abrollend, auf den Rücken zu liegen. Wenn wir sorgfältig aufstanden, sahen wir die eigene Abbildung. Das bin ich! Das waren wichtige Momente im Leben als Kind.
 
Und heute freue ich mich einfach an diesem unberührten Flecken Schnee und wünsche ihm, dass er bis zur Schmelze so belassen werde. Achtsamkeit ist mir wichtiger geworden.

Sonntag, 5. Dezember 2010

Adventskalender aus der Papeterie oder aus dem Internet

Der Adventskalender ist immer noch beliebt. Er ist Begleiter auf Weihnachten hin. Er soll uns das Warten auf ein grosses Fest hin lehren. Tag um Tag wird ein Türchen geöffnet. Neuerdings gibt es auch Adventskalender im Internet. Gestern bin ich auf eine mich ansprechende Ausgabe gestossen: den Astrodienst-Adventskalender 2010. Anders als beim herkömmlichen Kalender müssen im Internet auch Ungeduldige warten. Hier lässt sich kein Türchen früher öffnen.
 
Eine kleine, feine, aber nur 3 Tage dauernde Ausstellung in St. Anton Basel zeigte Adventskalender aus verschiedenen Zeiten. Und entführte uns alle gleich in die Weihnachtsstuben von einst. Es standen nämlich auf der Bühne 2 Christbäume, einer aus der Stadt, der andere aus der Landschaft. Der eine mit vielen glänzend roten Kugeln, der andere bescheidener mit Strohsternen, Äpfeln und gebackenen „Willisauer“-Ringli geschmückt. Das kannte ich nicht. Weder in Zürich noch im Zürcher Oberland gab es meines Wissens Muster oder Vorgaben für den Christbaum der Region. Für mich gibt es bis heute nur Weihnachtsbäume, die eine Familie oder Menschen, die für öffentliche Räume zuständig sind, charakterisieren.
 
Zu den Bäumen wurden in der Ausstellung Familienmitglieder nachgestellt, ebenso der Nikolaus, der einem Knaben zuhört, wie er sein Gedicht vorträgt. Daneben, unter dem anderen Baum, lagen Geschenke. Und diese müssen einer gewissen Norm entsprochen haben: Eine Märklin-Eisenbahn, noch nicht elektrisch und eine Dampfmaschine für die Buben und den kleinen Stubenwagen für die Puppen und ihre Mütter. Ebenso Puppenhausmöbel für die Mädchen. Ähnlich wurden wir in meiner Familie auch beschenkt. Zwischen diesen 2 Welten sass eine Mutter und vor ihr auf dem Boden spielte ein Säugling. Obwohl es sich um Schaufensterpuppen handelte, vermochte das Bild unsere einstige Weihnacht nullkommaplötzlich ins Bewusstsein zu heben. Andern Besuchern erging es wie mir.
Aber eigentlich gehörten die Adventskalender an die erste Stelle meines Berichts. Nur, das Weihnachtsbild auf der Bühne empfing uns gleich beim Eintreten und lockte uns zu sich.
 
Die Adventskalender, einst ein reiner Artikel aus der Papeterie, hat Wandlungen erfahren. War er früher ein doppelwandiger, bedruckter Karton mit nummerierten Fensterläden, hinter denen ein Bild versteckt war, ist er heute etwas Voluminöses. Zum Beispiel eine kleine Eisenbahn bestehend aus 24 Schubladen, die zu einer Lokomotive und 2 Wagen gestaltet worden sind. Oder an Leinen gehängt: 24 Stoffsäcklein, die individuell gefüllt werden können. Säcklein auch an verschiedenen Gestängen. Die Inhalte wurden nicht preisgegeben. Sie gehören zum Geheimnis der Adventszeit.
 
In den einen vermute ich Schokolade, Bonbons, Nüsse. Es hiess, es könne auch ein Zettel mit einer guten Botschaft drin liegen. Z. B. dass das Kind an diesem Tag von einem Ämtli befreit sei. Andererseits könne auch eine neue Aufgabe gefischt werden. Das ist spannend.
 
Ich wurde auch auf einen papierenen Tannenbaum aufmerksam, dessen Dekoration aus gerollten Papierstreifen bestand. Dazu wurde erklärt, alle Rollen enthielten je einen Vorschlag für Erwachsene, wie der gemeinsame Weg auf Weihnachten hin die Partnerschaft stärken könnte. Wer schenkt denn hier wohl solche Anregungen? Ich weiss es nicht. Da habe ich schon etwas gestutzt, doch weiss ich seit meiner Arbeit in einer Buchhandlung, dass der Mensch von heute für alles eine gedruckte Anleitung wünscht. Und ich denke immer noch: Liebe macht doch erfinderisch.
 
Gut gefallen haben mir die 2 robust hergestellten Adventsbücher, die aufgestellt werden können. Das eine im Format wie eine Pyramide, will aber den Tannenbaum darstellen. Öffnet man das Buch, finden sich 24 Blätter fächermässig, immer grösser werdend. Ein Buch, das meinen Kindern damals sicher als Weihnachtswohnung für die Puppenhaus-Leute gedient hätte. Es hat einen festen Stand.
 
Das zweite der robusten Bücher ist eines mit einer auffaltbaren Weihnachtsgeschichte. Wird das Buch geöffnet, stehen die Figuren auf. Flaches wird räumlich. Menschen und Tiere kommen näher.
 
Es mag mit meinem Alter zusammenhängen oder mit den Erstlingseindrücken aus der Kindheit, dass ich den klassischen Adventskalender aus der Papeterie als meinen Favoriten nenne. Der in Basel ausgestellte mag aus den 60er-Jahren stammen. Im Hochformat konzipiert, zeigt er die Weihnachtsgeschichte auf 4 Ebenen: Erde, Stadt, Brauchtum und Himmel.
 
Da ist eine wunderschöne, orientalisch anmutende Stadt abgebildet. Ein Zusammenhalt von Häusern. Alle, auch farblich, individuell und doch zu einem Ganzen verschmolzen. Mit vielen Kirchen und Türmen, die auf verschiedene Religionen hindeuten. In diese Stadt kann man durch ein prächtiges Tor eintreten.
 
Auf dem weiten Platz davor stehen Vater, Mutter, Kinder, Verwandte und auch ein Hund und alle schauen ergriffen in die Höhe.
 
Hinter der Stadt, die an einen Berg anlehnt, tritt eine grüne Berglandschaft mit einem Dorf hervor. Auf einem ihrer Wege kommen die Heiligen Drei Könige mit ihrem Gefolge daher. Ich deute sie als Darstellung des bis heute lebendig gebliebenen Brauchs, am 6. Januar ihr Fest „Epiphanie“ zu feiern.
 
Nun trennen uns nur noch die Berge mit dem ewigen Schnee vom Himmel, wo 3 Engel das Tor, also das Fenster mit dem dahinterliegenden Weihnachtsbild, bewachen. Der eine mit der Trompete, die beiden anderen scheinen mit der Aufgabe betraut, das Weihnachtsbild zu schützen.
 
Diesen Adventskalender, der nicht mir gehört, habe ich fotografieren können. Die inneren Bilder, also jene hinter den Türchen, muss ich selber erfinden, wenn ich meinen Enkelkindern die Weihnachtsgeschichte aufgrund dieser Darstellung erzähle. So wird es gewünscht. Die Mädchen freuen sich, mit uns Weihnachten zu feiern. Unsere Einladung ist gut angekommen. Die bald 9-jährige Mena lese sie täglich vor. Wenn am Schluss unsere Frage gestellt wird: „Ist das gut so? Was sagt ihr dazu?" dann rufen sie jedesmal: „Ja, ja, ja" und tanzten in der Wohnung umher.
 
Beliebt ist in unserer Familie ist auch der feinfühlig gestaltete papierene Adventskalender der Vogelwarte Sempach. Hier sind Vögel hinter den Türchen versteckt und warten darauf, dass wir uns für sie interessieren. Im Inneren des Türchens finden wir Namen und Informationen zu ihrer Nahrung und Lebensweise. Und selbstverständlich vermittelt das Türchen Nr 24 jedesmal auch Weihnachtliches.
 
Dann weise ich noch auf Popis Adventskalender hin. Letizia gestaltet ihn seit einigen Jahren fürs Internet. www.popi.lorenzetti.ch.
 
Popi verkörpert etwas von der Seele unserer Familie. Von unserer Kreativität, von unserer Freude an Geschichten und liebenswürdigem Humor. Mit Popi lösen wir manchmal Probleme, indem wir ihm die Stimme leihen, um etwas zu entschärfen.
 
Popi spricht Zürcher Dialekt. Die Geschichten leben aber auch von den Bildern.

Montag, 29. November 2010

Heute Alltägliches war einmal unbekannt, sogar luxuriös

Die Banane kann heute überall gekauft werden. Man könnte meinen, sie stamme aus hiesigen Gärten, und sie kommt doch von weit her. Meine Mutter, als sie noch ein Kind war, soll den Namen dieser Frucht nicht gekannt haben. Sie nannte sie „die Gelbe“ und habe gebettelt, dass man ihr einmal eine kaufe.
 
Nach wenigen Jahrzehnten konnte offensichtlich niemand mehr auf sie verzichten. Sie wurde schon den Säuglingen verabreicht. Mir wurde sie von der Mütterberatung empfohlen. Sie eignete sich gut für den Übergang vom Stillen oder von der Flaschenmilch zum Brei.
 
Auch die Orange gehörte zu den nicht alltäglichen Früchten. In meinem Elternhaus gab es Äpfel und Birnen sowie eingemachte Früchte wie Zwetschgen, Aprikosen und Mirabellen. Als aber meine Schwester Renate einmal schwer krank war, kaufte Mutter Orangen und verabreichte sie ihr als ergänzende Medizin.
 
Am Sihlquai in der Stadt Zürich, hinter dem Schulhaus „Kornhausbrücke“, wo ich zur Schule ging, kamen die Orangen aus dem Süden in den Güterzügen in Zürich an. Hier wurden sie von den Südfrüchtehändlern für den Engrosmarkt erwartet. Arbeiter, die mit dem Verladen der Früchte beschäftigt waren, schenkten uns augenzwinkernd die noch guten Teile von Orangen, nachdem sie die angefaulten Teile abgeschnitten hatten. Manchmal fielen auch gesunde Orangen aus den Bahnwagen zu Boden. Welch ein Glück, wenn wir sie fanden!
 
Den Krautstiel kannte ich auch lange nicht. Erst 1964, 2 Tage nach der Geburt von unserer Tochter Felicitas, wurde mir dieses Gemüse in der Klinik serviert. Ich fand schon damals, das sei eine Köstlichkeit. Der Krautstiel ist es noch immer, hat seinen Platz in meiner Küche behalten. Ich dämpfe ihn leicht, gebe ihm einige Butterflöckli dazu, würze mit Streusalz und parfümiere ihn mit geriebenem Parmesan.
 
Vom Fenchel kannte ich nur die Samen, die zu einem beruhigenden Tee aufgebrüht werden können und den Säuglingen ebenfalls zuträglich sind. Primo machte mich dann mit dem Fenchelknollen bekannt. In seiner zur Hälfte italienischen Familie wurde der rohe Fenchel als Vorspeise serviert. Die gewaschene Knolle wird gewaschen, abgetrocknet und in etwa 1 cm dicke Scheiben geschnitten. Diese werden beidseitig mit Olivenöl eingerieben und mit wenig Salz bestreut. Die grünen Haare des Knollens werden fein geschnitten und über die Scheiben gestreut. Dazu passen Salami oder Trockenfleisch. Mit diesem rohen Fenchel als Apéro habe ich immer Erfolg.
 
Und Rina, meine Lehrmeisterin, vermittelte mir nicht nur die Praxis der doppelten Buchhaltung. Als sie nach Florenz auswanderte und ich sie dort später besuchte, lehrte sie mich, den Sugo aus frischen Tomaten herzustellen. Ich war begeistert. Nun, nach bald 50 Jahren, habe ich hin und wieder Lust, die Spaghetti nach alter Manier aufzutischen. So, wie es meine Mutter machte. Sie benützte das Parma Doro-Tomatenpüree aus Italien, verdünnte es mit wenig heissem Wasser, presste mindestens 2 Knoblauchzehen dazu, verfeinerte diese Sauce mit Olivenöl und schwenkte die frisch gekochten Teigwaren darin.
 
Neu habe ich einen emotionalen Zugang zum Carnaroli-Reis. Ich habe im Herbst in der südlichen Toskana die grossen Reisfelder bewundert und in der Autobahnraststätte Carnaroli-Reis aus der Region kaufen können. Und wie immer, wenn ich aus den Ferien etwas heim- und dann auf den Tisch bringe, wird meine Liebe zu einer Region oder zu einem Volk gefestigt. Und die schönen Erlebnisse bleiben auf diese Weise lange erhalten.
 
Ich lasse mich immer noch gern von der Güte der italienischen Esskultur beeinflussen. Die Gastarbeiter brachten sie zu uns. Wir wurden aufmerksam auf sie. Es war gerade die Zeit, als ich ziemlich unvorbereitet für meine Familie zu kochen begann.
 
Wer jetzt erwachsen wird und jetzt zu kochen anfängt, wird noch vielfältigere Einflüsse spüren. Produkte aus fernen Ländern sind hier erhältlich und die Grossverteiler sorgen dafür, dass auch entsprechende Rezepte vorhanden sind. Und wer diese nach eigenem Gutdünken an unsere Verhältnisse anpasst, ist kreativ und bringt Welten zusammen.
 
Am meisten staune ich aber über die Fülle von ausgesuchten, hochwertigen Lebensmitteln, die wir in unserem Land kaufen können. Jetzt gerade speziell im Hinblick auf die Feiertage am Jahresende. Es ist eine Art Schlaraffenland entstanden. Für junge Leute etwas ganz Selbstverständliches. Was werden sie in 50 Jahren rückblickend erzählen können?

Freitag, 19. November 2010

Spiegelmeisen im Anflug: Suche nach dem Winterquartier

In der Wiese vor unserem Küchenfenster steht ein zierlicher Baum, eine Schönheit. Sein Name ist Cornus Kousa: Japanischer Blüten-Hartriegel.

Im Frühling bezaubert er uns mit seinen weissen Blüten, im Herbst mit den leuchtend roten Blättern. Jetzt ist er entlaubt und strahlt immer noch Schönheit aus. Er ist gesund, Stamm und Äste lassen an einen Tänzer denken.

Neuerdings tummelt eine Sippe Spiegelmeisen auf ihm herum. Die Vögel scheinen vergnügt zu sein. Als wir hier einzogen, waren die Rabenkrähen und Elstern die Platzhirsche. Die Amsel hörten wir singen. Andere Vögel nahmen wir nicht wahr.

Als ein Maschenzaun die Landbesitzverhältnisse zwischen den Wohnhäusern sichtbar machen musste, verschwanden die Vögel. Vordem stand ihnen ein weiter Landeplatz zur Verfügung. Vielleicht wurde es diesen grossen Vögeln hier dann zu eng. Nun sind also die kleinen da. Und sie suchen Nistplätze.

Seit 2 Wochen pocht der Anführer dieses Clans täglich an mein Küchenfenster. Er will den Zugang zum Rollladenkasten-Innenraum erobern. Und wir stellen uns quer. Hier hätten sie kein ruhiges Zuhause; denn die Fenster einer Küche werden immer wieder gekippt oder geöffnet und je nach Wetter die Rollladen heruntergelassen oder hochgezogen. Wir hatten diesen Vogel Tage vorher schon auf dem Balkon beobachtet. Hier forschte er nach einem Schlupfloch im Bereich des Sonnenstorens. Sofort erinnerte ich mich an den Blog vom 9.9.2010 „Von tachistisch veranlagten Spatzen und vom Bauschaum“ von Walter Hess, der diesbezügliche Folgen beschrieben hat.

Wir deckten dann alle für ihn möglichen Stolleneingänge mit Klebeband ab. Er aber blieb beharrlich, suchte einfach weiter. Wie ich jetzt gehört habe, werden alle Bewohner in unserem Haus von der Ostseite her attackiert. Überall hämmert dieser freche Wicht auf den Beton ein, und wenn sich nichts bewegt, klopft er an die Fensterscheiben. Obwohl ich ihm schon oft sagte, hier sei er am falschen Ort, die Bedingungen ungeeignet, kommt er doch täglich wieder. Es gibt Menschen, von denen gesagt wird, sie könnten mit den Vögeln sprechen. Ich gehöre definitiv nicht dazu, werde nicht verstanden.

Anfänglich hatte er bereits Federn für ein Nest mitgebracht und diese auf dem Fenstersims deponiert. Es beeindruckt mich, wie kämpferisch und mutig dieses Wesen ist.

Eine weitere Erfahrung: Vor ein paar Tagen machte ich nach dem Frühstück das Fenster erneut dicht. Den Sonnenaufgang zu beobachten, hatte ich mir noch gegönnt. Dann nahm ich die Düsternis in Kauf und zog den Rollladen herunter. Zwangsläufig brauchte ich dann elektrisches Licht. Als ich den Stecker kippte, leuchtete die Lampe kurz auf, und mit leisem Zischen gab sie sogleich den Geist auf. Die reinste Kabarett-Nummer!

Jetzt lasse ich einfach allem den Lauf, warte darauf, dass meine konsequente Haltung hier einen Nestbau verhindern kann. Die Rollladen-Einstiegstellen sind zugeklebt. Wer gewinnt? Bringt es der Vogel fertig, das klebrige Band wegzuzerren und sich dahinter einzurichten? Dann lasse ich ihn vielleicht gewähren. Oder bewirken unsere Barrieren, dass die Vögel merken, dass dieser Ort für sie ungünstig ist? Zu nahe bei den Menschen, die ihnen aber grundsätzlich gut gesinnt sind.

Im Augenblick ist noch nichts entschieden.

Donnerstag, 11. November 2010

Blätter an den Bäumen, am Boden und aus der Druckerei

Es regnet. Letzte Blätter fallen von den Bäumen. Gestern noch raschelte es, als wir durch den Wald liefen. Wie bald wird sich das Laub am Boden in Matsch verwandeln und nach und nach zu neuer Erde werden.
 
Vorbei ist die Lust meiner 4- bis 6-jährigen Nachbarskinder, die sich in der vergangenen Woche in den Laubhaufen zweier Bäume fallen liessen, dazu jauchzten und sangen. Einen Tag später dann sassen sie, bis zum Oberkörper bedeckt, in ihm. Erstaunlich still. Das Wort „daheim“ könnte nicht schöner dargestellt werden. Auch darum, weil die Blätter nicht weggeführt, sondern den beiden Stämmen als Schutz und Nahrung zu Füssen gelassen werden. In meinen Augen sind diese Bäume ein Liebes- oder Elternpaar. Ein weit ausholender Ast der grösser gewachsenen Esche beschützt die gedrungene Hagebuche gut sichtbar. Und sie wiederum neigt sich ihm zu.
Ganzjährig raschelt es im Papierblätterwald. Aber auch da fallen täglich Blätter ab: Die Zeitungen und Zeitschriften, sogenannte Leibblätter, Wochen- und Monatsblätter inklusive Reklameblätter, liegen in der Stube oder im Büro auf oder herum. Sie zu durchforsten ist der Lust, in die Laubhaufen zu springen, sehr ähnlich. Ohne Papiere, ohne Buchstaben, Worte und Geschichten zu leben, kann ich mir gar nicht vorstellen. Der Computer ist nur die Ergänzung dazu. Das raschelnde Papier und vor allem Texte, die in Händen gehalten werden können, das ist für mich die wirkliche Lektüre. Erfassen, begreifen, diese Worte gehören dazu.
 
Die Tageszeitung kommt uns da entgegen. Ihre Mitteilungen sind in Bünde gefasst. Primo und ich können sie individuell lesen. Er beginnt meist hinten und ich vorn. In der Mitte angelangt, werden sie mit allerlei Hinweisen ausgetauscht. Lustiges und Kurioses wird aber sofort vorgelesen. So beginnt unser Frühstück, unser Tag.
 
Oft nehme ich mir vor, Berichte, die wertvolle Informationen enthalten oder in einer wohlklingenden Sprache geschrieben sind, aufzubewahren. Da ich sie meinem Ehemann nicht vorenthalten will, nehme ich solche Blätter nicht sofort an mich. Und vergesse sie. Und wenn ich mich an sie erinnere, ist es oft zu spät. Sie wurden schon weggetragen. Denn einmal in der Woche werden auch sie zu einem grossen Haufen zusammengeschichtet und alle 2 Wochen der Wiederverwertung abgeliefert.
 
Und die Buchstaben, was geschieht mit ihnen? Zu Zeiten des Handsatzes wurden sie wiederverwendet. Jede einzelne Letter an ihren angestammten Ort in den Setzkasten zurückgelegt. Und später, zu Zeiten des Bleisatzes, wurden die Zeilen zur Wiederverwendung eingeschmolzen.
 
Wie ist das eigentlich mit den Buchstaben und Texten aus dem Computer? Wo werden sie wiederverwertet? Die Delete-Taste wird kaum alles löschen können, was dem Stromgehirn schon anvertraut worden ist. Ergeht es ihnen wie unseren Gedanken, von denen wir ebenfalls nicht wissen können, wo sie aufgefangen, verwendet und ob vielleicht Teile von ihnen vor dem totalen Zerfall gerettet werden.

Donnerstag, 21. Oktober 2010

Briefe nach Norwegen, als es noch keine E-Mails gab

Brit brachte Frakfisk (Gärfisch), braunen Käse und Moltebeeren mit. Sie besuchte uns wieder einmal. Seitdem sie innert 5 ½ Jahren 6 Mal Grossmutter geworden ist, reist sie weniger. Als pensionierte Primarlehrerin kümmert sie sich heute gerne um ihre Enkel.
 
Wir haben uns kennengelernt, weil ich vor 35 Jahren in einem norwegischen Hausfrauenblatt meinen Wunsch platzieren konnte, mit einer Norwegerin Briefe zu tauschen. Brit meldete sich. Die Frau vom Nachbarshof hatte sie darauf aufmerksam gemacht, brachte ihr die Annonce, war überzeugt, dass sie einen solchen Wunsch erfüllen könne.
Wir liessen einander am eigenen Leben teilhaben, berichteten über unser Land, seine Menschen, seine Geografie und Kultur. Es waren immer besondere Momente, wenn Post aus Norwegen eintraf. Viele aussagekräftige Postkarten und lange Briefe sind hin- und hergeflogen.
 
Vor Monaten schrieb sie: „Ich habe Heimweh nach der Schweiz." Und als sie wieder einmal da war, sagte sie unvermittelt, es könnte sein, dass sie zum letzten Mal gekommen sei. Unsere Lebenszeit sei vielleicht bald abgelaufen. Jetzt wollte sie nochmals über alles reden, was sie bewegte. In ihrem Dorf habe sie wohl eine Freundin, aber mit ihr könne sie nur über die Handarbeit sprechen. Die beiden stricken miteinander, tauschen Modelle und Muster aus. Sie stellte mir wieder viele, ganz persönliche Fragen. Sinnfragen, Fragen zur Ehe und Familie, Fragen zur Gesundheit usw. Sie erzählte von ihren Töchtern, dem Sohn und den Enkelkindern. Und sie sinnierte darüber, warum zwischen uns beiden nichts störe. Die Antwort gab sie sich gleich selber, nachdem sie die Frage ausgesprochen hatte: Weil wir den Alltag nicht miteinander teilen müssen.
 
Solche Freundschaften, die eben nicht anecken, sind ein besonderes Geschenk. Auch für mich. In Briefen konnte ich, ähnlich wie in den Blogs, etwas beschreiben, was ich so nicht hätte erzählen können. Zu detailreich für ein Gespräch und da, wo ich lebe, weiss man über mein Land Bescheid. Gedanken in einem Brief zusammenfassen, erzählen, wie mein Leben gerade jetzt aussieht, das mache ich immer noch gern. Und wenn sich jemand darüber freut, ist es sinnvoll.
 
Wenn ich morgen den Gärfisch auftische, werden starke Fischgerüche um uns sein. Dieser Fisch ist dominant. Dank ihm können wir uns für eine Weile in Norwegen fühlen. Erinnerungen werden aufsteigen, Reiseerlebnisse erwachen. Dann stehen wir vielleicht in Oslo am Strand und essen Crevetten aus der Tüte.
 
Im Internet habe ich soeben ein Rezept für die norwegischen „Lefsen" entdeckt. Eine Art Omelette, die uns Brits Schwiegermutter seinerzeit auf ihrem Hof zum „Höchsttagskaffee" auftischte. So wurde damals die Zwischenmahlzeit um 12 h mittags genannt. Ein schöner Begriff, vielleicht nicht ganz korrekt ins Deutsche übersetzt. Für mich gut verständlich. Wir konnten uns zum Zeitpunkt, als die Sonne am höchsten stand, mit Lefsen stärken.
 
Vom braunen Käse, ebenfalls aus Norwegen, haben wir schon genascht. Sein Caramelaroma ist hier unbekannt. Und aufs Butterbrot gibt es – solange Vorrat – wieder Konfitüre aus Moltebeeren. Damals durften wir in einem heideartigen Gebiet nach diesen gelb-orangen Beeren suchen und sie pflücken. In der Form ähneln sie unseren Brombeeren. Sie wachsen nur wenige Zentimeter über dem Boden. Als wir diese köstlichen Beeren kennenlernten, stand sogar in Brits Tageszeitung , dass diese jetzt reif seien. Ein Aufruf zum Pflücken.
 
Auch in der Schweiz gibt es Erinnerungen. Brit bereiste mit uns einmal das Wallis und anschliessend den Gotthard. Ein prägendes Erlebnis, aus dem viel Verständnis für unsere Verkehrsprobleme erwachsen ist. Und besonders der „Kafi fertig" (Kaffee mit Schnaps) blieb in Erinnerung. Mit ihm feierten wir die Ankunft im Gotthard-Hospiz. Brit, die bis dahin keinen Alkohol trank, entschuldigte sich bei sich selber mit dem Humor ihres Schwiegervaters, der dieses Getränk „Doktor-Kaffee" nennt. Sie rief sogar einen Gast an unseren Tisch, damit er sie in der Gesellschaft mit Primo und mir und dem Entspannungstrunk fotografierte.
 
Nun ist sie wieder heimgereist. Mir fehlt ihr Singen. Manchmal hörte ich aus dem Gästezimmer ein paar Takte eines Volksliedes, nur so hingeworfen, wie Blätter fallen. Auch in der Bahn, als sie den Rhein sah, stimmte sie unerwartet ein ihm gewidmetes deutsches Volkslied an. Sie hatte es als Kind in der Schule im Deutschunterricht gelernt.
 
Auch wenn ich nicht weiss, ob sie nochmals hieher kommen wird oder wir zu ihr nach Norwegen reisen werden, unser Briefkontakt wird fortfahrend bestehen. Dieses Wort „fortfahrend" ist eines, das mir Brit beigebracht hat.

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Stätten der Etrusker und der Tarot-Garten in Capalbio

Ferien. Hinter dieses Wort setzte Walter Hess kürzlich die französischen, sehr ähnlich klingenden Worte „fait rien“. Sinngemäss übersetzt : „mach nichts“. Ein origineller Sprachwitz. Ob die Aussage aber stimmt? Machen wir in den Ferien nichts?
 
Nach meiner Erfahrung ruhen jeweils nur die alltäglichen Pflichten, und diese tauschen wir gegen andere Anstrengungen und manchmal sogar Strapazen ein. Wirklich nichts tun ist ebenfalls anstrengend, vielleicht sogar unmöglich.
Ich bin von einer Italienreise zurückgekehrt und noch immer am Verdauen des Geschauten und Gehörten. Ich erlebte sie frei von persönlichen Verpflichtungen, aber mit grossem Anspruch an die eigene Aufnahmefähigkeit. Meine/unsere Reise führte als Gruppe mit 27 Personen in die Maremma (südliche Toscana) zu den Etruskern. Ich masse mir jetzt nicht an, kunsthistorisch oder geschichtlich darüber zu berichten. Aber erzählen möchte ich, wie die Zeugen der etruskischen Kultur auf mich gewirkt haben.
 
Sie haben meinen Blick auf die Römer verändert. Jetzt weiss ich, dass sie die etruskische Kultur aufgesogen und nur weitergeführt haben. Vieles von dem, was ich in jungen Jahren als römische Kunst bezeichnet vermittelt bekam, schufen die Etrusker. Dieses Volk, von dem die Römer schon vor ihrer Eingemeindung Jahrhunderte lang profitiert hatten, wurde ab dem Jahr 40 vor unserer Zeitrechnung endgültig romanisiert.
 
Gegenwärtig wird das kulturelle Erbe in jenen Menschen weiterleben, die dem Volk der Etrusker entstammen. Ihre Handwerker waren virtuose Künstler. Die Darstellung von Schönheit und Anmut drückten sie lebensfreudig aus. Sie waren Ästheten zu einer Zeit, als in der Schweiz Pfahlbauer noch in grobem Leinen oder in Pelzbekleidung daherkamen. Ihre Adeligen stellten die Etrusker auf Fresken oder als Statuen aus Marmor dar. Bewundernswert die Fähigkeit, die leicht fallende, edle Bekleidung im Marmor darzustellen.
 
In Beschreibungen werden die Etrusker manchmal als zügelloses Volk beschrieben. Aus welcher Perspektive wurde das gedacht? Kann ein Volk so vollendete Schönheit darstellen, Mann und Frau einander ebenbürtig behandeln und intensiven Kontakt zu seinen Göttern pflegen, wenn es sittenlos ist? Das glaube ich nicht. Die Etrusker bebauten das Land, sorgten für die Ernährung, hielten Tiere und kannten die normale Fruchtbarkeitsfolge allen Lebens. In diesem Sinn mögen sie auch die Sexualität verstanden und Lebensfreude gelebt haben. Moral und Ethik, Leben nach dem Tod, also auch Verantwortung, müssen meines Erachtens zu ihren Lebensthemen gehört haben.
 
In Vulci fand ich die Darstellung eines Engels, vermutlich einer weiblichen Gottheit, die mich in dieser Ansicht bestätigt. Auf einer simplen Holzplatte war eines der verwitterten Fresken aus der „Tomba François“ reproduziert und ergänzt dargestellt. Das Bild packte mich. Da steht neben einem Krieger, dem offenbar im nächsten Augenblick der Kopf abgeschlagen werden soll, diese Schutzgottheit. Ihr Antlitz ist unglaublich mild und ebenso unglaublich stark und sicher für die Entscheidung, die sie sogleich fällen wird. Ihre Macht ist Hilfe. Sie ist befähigt, gewissen Situationen im Leben oder im Kampf eine neue Richtung zu geben. Sie tritt hinter dem Peiniger hervor. Sie verhilft dem Mitgefühl und der Menschenliebe zum Durchbruch. Da wo sie hintritt, wird alles anders. Der vordem Mächtige wird machtlos.
 
Ebenfalls in Vulci trafen wir im Archäologischen Museum im ehemaligen Zisterzienserkloster auf verschiedene Sarkophage, auf deren Deckeln der oder die Verstorbene in Stein gehauen verewigt sind.
 
In dieser Ausstellung stehen diese Steinsärge ungeschützt im Raum, und die dargestellten Menschen sind den Besuchern nahe. Da stand ich und wartete, dass sich die Nasenflügel eines Mannes bewegen würden und dass er mit uns ins Gespräch käme. So lebendig sind hier die Persönlichkeiten dargestellt. In diesem Museum wurde auch ein Lichtbild einer Gruppe Sarkophage gezeigt, wie sie in einer Nekropole aufgefunden worden sind. Eine grosse Familie, alle in der gewohnt vornehm liegenden Haltung. Sie schauten aufeinander, schienen zu feiern und sich über die neue Heimat in der jenseitigen Welt zu freuen. Ein ergreifendes Bild.
 
Von den Etruskern ist ihr gutes Verhältnis zu zahlreichen Göttern bekannt. Die Priester pflegten die Lehre von der Interpretation göttlicher Signale wie die Formen von Blitzen, der Leberschau und des Vogelflugs. Diese Priester standen in hohem Ansehen, auch bei den Römern, die ihre Dienste für die eigenen wichtigen Entscheidungen gerne in Anspruch nahmen.
 
Nach etruskischer Lehre stand jeder Kultur eine eigene, ähnliche Lebenszeit zu, wie es zu uns Menschen gehört (Geburt, Wachstum, Entfaltung, Tod). Nach einer alten Weissagung wussten sie, dass die ihre ungefähr 800 Jahre alt würde. Ihre Herrschaftszeit von zirka 800 bis 100 Jahre v. u.Z. kommt der Voraussage nahe.
 
Noch schlafen viele Schätze in Gräbern unter der Erde. Bis heute seien die Ausgrabungen erst zu einem Drittel ausgeführt, erfuhren wir.
 
Unsere täglichen Ausflüge führten uns durch das dünn besiedelte Land der südlichen Toscana. Lange Fahrten zu Ausgrabungsstätten wurden nie langweilig. Die spannend aufgefaltete Landschaft mit ihren berühmten Erdfarben Umbra und Ocker, den locker verstreuten Bäumen, den Olivenhainen und den auf den Kreten platzierten Zypressen sog ich in mich auf. Ihre Lieblichkeit muss man einfach gern haben. Manchmal, auf dem Heimweg auf der Via Aurelia, sahen wir einen Streifen Meer golden aufscheinen. Begeistert hat uns auch der langgezogene Pinienwald, der den Strand begleitet und uns bei jeder Heimkehr unter sein pelziges Dach nahm.
Immer kehrten wir nach Grosseto-Maritima zurück. Im Hotel Ariston waren wir bestens aufgehoben und wurden ebenso bewirtet.
 
Unsere Ausflugsziele
Nekropole Roselle und Museo Archeologico e d 'Arte Grosseto:
In Roselle gingen wir auf einer Etruskerstrasse, die gut wahrnehmbar in eine römische Strasse überführte.
In Grosseto habe ich erstmals einen Granatapfelbaum mit reifenden Früchten gesehen.
 
Vulci:
Ruinenstadt. Grossräumiges Ausgrabungsgebiet, wo man sich verlaufen könnte.
Sowohl in Roselle wie hier in Vulci zeigten uns die noch erhaltenen Mosaikböden, dass die Römer diese Kunst von den Etruskern übernommen haben.
Kellergrab François.
Berühmt ist die imposante Bogenbrücke, die den Fluss Fiona überquert. Beliebtes Fotosujet.
Pittigliano:
Die allerschönste Stadt der Maremma. Auf einem mächtigen Felsen aus Tuffstein erbaut.
Ein Bild menschlicher Zusammengehörigkeit. Alle Häuser lehnen aneinander an. Mit jüdischer Synagoge. Ihre Gemeinde nennt den Ort „La Piccola Gerusalemme“.
 
Sovana:
Dies ein Bilderbuchort. Seine Piazza oder Strasse aus gebrannten Ziegelsteinen gestaltet.
Hochkant eingesetzt, zu Fischgrätenmuster gestaltet. Sehr speziell.
Grab l'Ildebranda, monumentale Tempelruine aus Tuffstein.
 
Tuscana:
Alter, lebhafter Ort mit Burgtürmen gegen Saraszenen.
In Tuscana besuchten wir 2 wunderschöne Kirchenräume San Pietro und Santa Maria Maggiore.
Räume voller Geistigkeit. Es finden in beiden Kirchen subtile Renovationen auf der Basis von Freiwilligenarbeit statt. Hier finden sich etruskische Symbole, die in die Christliche Kirche übernommen worden sind.
 
Castiglione della Pescaia:
Ort am Hügel und Meer. Mit altem Yachthafen. Sympathischer Ort, vermittelt Ferienstimmung.
 
Vetulonia:
Grosseto gegenüberliegend. Der Talgrund war zur Zeit der Etrusker ein See mit Zugang zum Meer. Prachtvolle Aussicht und Übersicht.
Niki Saint Phalles Giardino dei Tarocchi in Capalbio:
Die Werke dieser Künstlerin strahlen weltweit aus. In Zürich kennen wir sie wegen ihres grossen Schutzengels, der in der Bahnhofhalle über die Reisenden wacht.
Angaben zu ihrer Biografie und auch zum Thema Tarot finden sich im Internet.
 
Dass sie einen Garten zum Thema der Tarot-Karten erschaffen hat, wusste ich aus Filmen. Die Grösse aber überraschte mich enorm. Die Figuren ragen aus dem Blätterwald heraus und sind von weither sichtbar. Die Farben der Figuren sind stark. Einige schillern. An ihnen ist nicht so einfach vorbeizukommen. Sie dominieren den Ort und verlangen, dass wir nach ihrer Botschaft suchen.
 
Ich fragte mich, warum sie diesen Garten in Italien gebaut hat. Nachdem ich mich nun etwas mit der Religion der Etrusker befasst habe, vermute ich eine Seelenverwandtschaft. Niki de Saint Phalle kämpfte ein Leben lang für die Anerkennung der weiblichen Kräfte und deren Spiritualität und in der Etruskischen Religion wurde als höchste Gottheit „die grosse Mutter“ verehrt.
 
Ausser dem Eremiten und dem Partner „der Liebenden“ und einem Fabeltier habe ich an diesem Ort Figuren weiblichen Zuschnitts getroffen. Die Frau und Mutter, Lebensspenderin, Gebärerin mit übergrossen Brüsten steht im Zentrum. Die 1930 geborene Künstlerin kämpfte ein Leben lang mit aller Kraft gegen männliche Überheblichkeit.
 
Als wir in ihrem Garten ankamen, begleitete uns ein Führer durch die von Mario Botta gestaltete Schranke, die die Aussen- von der Innenwelt markiert. Dann begann es zu regnen, zu strömen. Der Mann, der uns begleitete, konnte gerade noch sagen, dass es für die Besuchenden von grosser Bedeutung sei, welche der Figuren wir zuerst betreten. Das Tarot ist ja bekanntlich auch ein Orakel und antwortet auf unsere unbewussten Entscheidungen. Und schon stand ich, eben wegen des Regens, gerade zuerst im Körper der „Kaiserin“. Es war Niki de Saint Phalles Lieblingsort. Hier sassen die Handwerker mit ihr zusammen, hier sei gegessen und um Lösungen vieler Arbeitsprobleme gerungen worden.
 
Da ich Niki de Saint Phalles Anliegen, ihre Arbeitsperioden und Arbeiten schon einigermassen gut kannte, schaute ich nicht nach ihrer Botschaft aus. Ich liess die Figuren fürs erste einmal einfach vom handwerklichen Standpunkt aus wirken. Und dieser ist grandios.
 
Das Zusammenfügen von farbigem Glas, von reiner Keramik, Spiegeln, verspiegeltem blauem und grünem Glas. Ich kann mich erinnern, dass es rosafarbene Spiegel gab und vielleicht noch gibt, damit die Haut pfirsichhaft erscheint. Blaues, grünes, gelbes Spiegelglas habe ich noch nie gesehen und bin doch im Haus einer Spiegelmanufaktur aufgewachsen. Das Material wurde offensichtlich von ihr noch erfunden. Das ist das Geheimnis der Figuren, dass ihre Flächen verschiedenartig ausstrahlen, schillern, aber auch Farben und Abbildungen von Pflanzen, Bäumen und Menschen brillant reflektieren.
 
Ich blieb lange im Haus dieser Kaiserin, wo die Spiegel mehrheitlich das sind, was wir Spiegel nennen. Aber zerstückelte und wieder zusammengefügte, um zu einem Körper zu werden, weg von der Fläche. Wie ich so stand, die Arbeit bewunderte und mich wunderte über die Ausdauer, die für solch gigantische Werke erforderlich sind, sah ich in den Spiegelspickeln Teile meiner roten Windjacke. Auf einer gewissen Bandbreite erschien mehrfach die gleiche Jackenpartie, oben und unten jedoch abgeschnitten und von anderen Spiegelungen verdrängt. Mein Gesicht sah ich nicht, weil die Wölbung des Raumes in eine Richtung gebogen wurde, die mich nicht mehr auffangen konnte.
 
Schön fand ich ein kreisrundes Fenster aus normalem Fensterglas, das dem total verspiegelten Innenraum einen Blick nach dem Garten gestattet. Das Grün eines Baumes kann durch diese Lukarne wahrgenommen werden.
 
Noch immer faszinierten mich die einzelnen Spiegelspickel, weil sie scheinbar ganz eigenwillig abbildeten, was ihnen so passte. Mir fiel ein, wie gut geeignet diese Schau sei, um einander zu erklären, dass wir uns nur als Teile eines Ganzen wahrnehmen können. Hier drinnen liegt es an den Spiegeln und an den Formen, an denen sie befestigt wurden, dass wir uns nicht als ganze Persönlichkeit sehen und darstellen können. Draussen aber ist es nicht anders. Da sind wir auch nur Spickel zum Beispiel von universellem Wissen, von Talenten, die nicht nur einem Menschen allein gehören. Wir sind verschieden gross, sehen die Umwelt von unserem persönlichen Standpunkt aus. Wir verkörpern nur eine Spiegelart oder nur eine nicht reflektierende Glasart mit einer satten Farbe. Zusammen aber sind wir das Ganze. Jedermann kann meine Erfahrung im Tarotgarten auch selber machen.
 
In der Nacht vor unserer Rückreise in die Schweiz befanden wir uns noch direkt im Auge eines ungewöhnlichen Gewitters. Blitz und Donner folgten sich Schlag auf Schlag. Ich fragte mich, ob vielleicht mein Leben in wenigen Sekunden beendet sei. Was kommt jetzt? fragte ich. Es wurde ruhiger und stiller.
 
Nach der Heimkehr schrieb ich als letzten Text ins Ferientagebuch:
 
Voll Vertrauen, aber ohne zu wissen, dass ich mich dem Vertrauen hingab, muss ich ins Meer gestiegen sein. Es hat mich aufgefangen, gepackt und herumgetrieben, mich in seinen Wellen sachte, aber auch wild herumgeschleudert, mich in die Tiefe mitgenommen, um mich nach Tagen lachend dem Land wieder zurückzugeben. Da lag ich dann am Boden im Sand, unversehrt rieb ich mir die Augen und sah, dass sich das Wasser längst zurückgezogen hatte. Ohne Gruss, ohne Abschied.
 
Das ist ein Bild, nicht die verbürgte Wahrheit, und doch habe ich die Tage in der Maremma so erlebt.

Mittwoch, 22. September 2010

Entscheidungen zwischen Schränken und dem Rollkoffer

Morgen früh fahren wir! Der Druck ist da. Wie üblich seufze ich beim Packen über die anstehenden Entscheidungen.
 
Gepackt wird bei uns immer erst kurz vor der Abreise. Die Erfahrung lehrte uns, dass dies die beste Version ist. Beginnen wir früh damit, besteht die Gefahr, dass wir Dinge, die schon im Koffer liegen, wieder hervorholen und dann vergessen, sie zurückzulegen.
 
So kommt es, dass ich alle Gedanken auf die Vorbereitung lange Zeit an mir vorbeiziehen lasse und trödle. Erst der Zeitdruck macht mich entscheidungsfähig.
 
Hilfreich sind mir dann die Wetterprognosen, die wir im Internet für 14 Tage abrufen können. Und doch: Immer diese Entscheidungen! Sie sind anspruchsvoll. Ich möchte für jedes Klima bestens vorgesorgt haben.
 
Sobald wir dann das Haus verlassen, sind es nullkommaplötzlich keine Probleme mehr. Ist die Wohnung abgeschlossen, arrangieren wir uns mit der getroffenen Wahl.
 
Dann wissen wir, dass die Ferien beginnen. Dass der Alltag hinter der Wohnungstür zurückbleibt. Dass keine geschäftlichen Termine anstehen. Dass wir es geniessen werden, etwas fremdbestimmt zu sein.
 
Wir reisen mit einer Gruppe. Das angebotene Programm „Auf den Spuren der Etrusker“ interessiert uns. Das Fremdbestimmtsein ist grundsätzlich kein Lieblingszustand in unserem Leben. Aber in den Ferien darf und soll er dazugehören. Anders wohnen, anders essen, anders schlafen. Und dem Meer ganz nahe sein.
 
Vieles sehen wir voraus. Davon sprechen auch die Intarsien, mit denen Primo die Einbände unserer Reisetagebücher gestaltet hat. Ich sehe da in seinen ganz und gar nicht gegenständlichen Dekorationen sich überlagernde Schichten, weite Horizonte, gewachsene Gebilde und vor allem auch südliche Farben. Mein Tagebuchdeckel ist für mich eine geöffnete Blume mit vielen Fächern, in denen Entdeckungen und Geheimnisse eingelagert sind.
 
Das kann ja schön werden!
 
So stellt sich für mich die Vorfreude ein.
 
Und jetzt: Pause beendet. Ich muss weitermachen. Wenn dann die Tagebücher in der Reisetasche obenauf liegen, dann sind alle Entscheidungen getroffen, und der Reissverschluss kann zugezogen werden.

Mittwoch, 15. September 2010

Ortsauskünfte – und schon sind Fremde an ihrem Ziel

Ein Mann meines Alters, ebenfalls an der Ampel auf Grün wartend, fragte mich nach der Tramlinie Nummer 3. Er sprach Englisch. Antworten konnte ich ihm nicht in seiner vertrauten Sprache, aber ich zeigte ihm den Weg zur Station und signalisierte, dass ich ihn bis dorthin begleiten könne. Er war erfreut. Ich erfuhr, dass er aus Australien komme und einen Freund an der Klosbachstrasse, hier in Zürich, besuchen möchte. Er zeigte mir einen Zettel mit der genauen Adresse und dem Hinweis auf die Tramlinie Nummer 3. Ebenso waren die Kosten für die Tramfahrt mit Fr. 2.– angegeben. Dann zeigte er mir eine kleine Übersetzungshilfe und schmunzelte dazu. Es war notiert, wie er sich auf deutsch bedanken könne. Kurz und bündig, sehr effizient.
 
Mich irritierte nur der notierte Fahrpreis. Ich löse selten einzelne Fahrkarten, trage immer ein Abonnement auf mir und bin ohnehin mehrheitlich mit dem Velo unterwegs. Für 2 Franken können wir heute doch nicht mehr Tram fahren, ging mir durch den Kopf. Was der Mann brauchte, war ein Einwegbillett für mehr als 5 Stationen. Und dieses koste 4 Franken, antwortete der Apparat. Diesen Preis hätte ich mir gern von einer hier anwesenden Person bestätigen lassen. Auf dieser wichtigen Umsteigstation standen viele Wartende, und einige von ihnen sprach ich auch an. Niemand konnte mir aber Auskunft geben. Die eine Frau war gerade aus Stuttgart angekommen, kenne sich hier nicht aus. Eine andere sagte, sie reise immer nur mit Tageskarten, löse keine Einzelbillette und der nächstfolgende Mann sprach kein Deutsch ...
 
Dann kam eine Dame, die uns beobachtet hatte, auf uns zu und konnte den Gast aus Australien auf Englisch ansprechen und ihm die Fragen beantworten. Er war sehr zufrieden, dass er von ihr deckungsgleiche Antworten erhielt. Dass der Billettautomat ebenfalls den gleichen Fahrpreis von 4 Franken errechnete. Dass die von mir angegebene Fahrtrichtung mit ihrer Auskunft übereinstimmte. Das stimmte ihn zuversichtlich. Die Reise sei anstrengend, hatte er schon vorher zu mir gesagt. Er führte auch ansehnliches Gepäck mit sich.
 
Er dankte herzlich und hatte gerade noch Zeit, zu sagen, er werde sich an den Wagenführer wenden, um sicher ans Ziel zu gelangen. Dann fuhr das Tram Nummer 3 ein und nahm ihn mit.
Ein Leben ohne Wegweiser, auch menschliche, ist undenkbar.
 
Als junge, noch nicht volljährige Frau kam ich nach Paris und musste viele Wege suchen und nach ihnen fragen. Als ich nach 1 ½ Jahren in die Schweiz zurück kam, nahm ich mir vor, jeder wegsuchenden Person zu helfen, als Dank für alle Hilfe, die ich damals erfahren hatte. Und daran habe ich mich bis heute gehalten. Und bis heute bin ich immer wieder darauf angewiesen, dass man auch mir hilft.

Sonntag, 5. September 2010

Spannende Suche nach Mats Staubs Erinnerungsbüro

Am 30. August 2010 hatte ich einen Hinweis auf die Arbeit des Künstlers Mats Staub erhalten. Er sammle seit Jahren Erinnerungen an Grosseltern und zeige vom 3. September bis 10. Oktober 2010 Teile davon im Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16 in Bern. Und im September werde auch sein Buch „Meine Grosseltern“ (Edition Patrik Frey) erscheinen. Es hiess dazu, diese Ausstellung dürfte mich interessieren. Und das sei der Link: „erinnerungsbuero.net“.
 
Was ich da sehen und lesen konnte, packte mich. Ich fing auch einen Hinweis auf, der Künstler zeige sein Erinnerungsbüro am Zürcher Theater Spektakel und lade ein, von den eigenen Grosseltern zu erzählen. Einer der gesammelten Pressestimmen entnahm ich den Hinweis, das Erinnerungsbüro könne noch bis zum 31. August auf der Landiwiese besucht werden. Also noch heute und morgen, stellte ich fest. Das traf sich gut. Ich konnte diese Ausstellung im letzten Moment besuchen. Der Ort war mir bestens bekannt, und ich wusste, dass das Theater Spektakel noch gastierte. Ich liess alles liegen und fuhr an den See.
 
Als ich auf der Landiwiese ankam, fand ich nicht, was ich suchte. Kein hölzerner Turm, wie er auf einer Filmsequenz im Internet zu sehen war. Weder der diensttuende Wächter an einem der Eingangstore noch die beiden Männer am Billettschalter wussten etwas von Erinnerungen an Grossmütter oder von Mats Staub. Sie durchsuchten erfolglos das umfangreiche Programmheft. Einer der beiden riet mir dann, im Container der Organisatoren vorzusprechen. Dort vorne links neben der alte Weide befinde sich ihr Büro. Und dort erfuhr ich dann, dass die von mir gesuchte Ton- und Fotoinstallation im Vorjahr auf diesem Kulturplatz eingerichtet worden sei. Richtig, sogar vor 2 Jahren, wie ich später feststellte. Innerhalb jenes Pressetexts, der für mich wegweisend war, wurde nur der 31. August, nicht aber die dazugehörige Jahreszahl genannt. Das sprach für die Gegenwart. Darum befand ich mich zur falschen Zeit an diesem Ort.
 
Ich war aber nicht vergebens gekommen. In diesem schlichten Büro mit den unkomplizierten Menschen erhielt ich den Hinweis, die Zeitung reformiert (Kirchenbote Kanton Zürich) habe sich in der neuesten Ausgabe Nr. 9 vom 27. August 2020 ebenfalls dem Thema der Grosseltern angenommen und über Mats Staub berichtet.
 
Auf dem Rückweg suchte ich den grössten Zeitungs- und Zeitschriftenkiosk von Zürich auf und fragte nach der Zeitung reformiert. Als Antwort erhielt ich, unabhängig voneinander, zweimal nur ein müdes Lächeln. Was nicht zum Mainstream gehört und noch auf Religion hinweist, wird belächelt, auch wenn es Format hat.
 
Ich habe weiter gesucht und bin in der evangelisch-reformierten Predigerkirche in der Zürcher Altstadt fündig geworden. Dort lag die Zeitung auf. Ich konnte ein Exemplar mitnehmen. Das erwähnte Thema Grosseltern wurde auf 7 Redaktorinnen und Redaktoren aufgeteilt. Sie erzählen in ihren Beiträgen die persönlichen Grosseltern-Geschichten und illustrieren sie mit alten Fotos einfühlsam und spannend. Zu lesen auch auf www.reformiert.info.
 
Von solchen Geschichten lasse ich mich gern ansprechen. Sie werten sogar die eigenen auf und machen bewusst, wie einmalig sie sind und dass wir ein Glied in einer unvorstellbar langen Kette sind. „Leben heisst Ahnen haben“ steht über dem Dossier „Die Grosseltern“ in der erwähnten Zeitung.
 
Und vom 3. September bis 10. Oktober 2010 zeigt nun das Museum für Kommunikation in Bern die von mir gesuchte und wohl erweiterte Ausstellung „Meine Grosseltern – Alte Geschichten in Bild und Ton“. Da sie vor 2 Jahren ausserordentlich viele Menschen anzog, dürfte sie auch jetzt wieder ein Magnet sein.
 
Das Thema Grosseltern wird gegenwärtig so positiv behandelt, weil die „Alten“ heute viel Betreuungsarbeit leisten. Es wird von jährlich 100 Millionen Betreuungsstunden gesprochen. Ohne Grosseltern könnten heute viele jungen Mütter ihre Berufsarbeit nicht ausüben.
 
Auch meine Mutter war auf ihre Mutter angewiesen, damit sie Geld verdienen konnte. Wenige Wochen alt, kam ich zu ihr, als der 2. Weltkrieg ausgebrochen war. Von einem Tag auf den anderen hatten meine Eltern ihre Existenz verloren. Die Mobilmachung zog den Vater aus der Familie fort. Er musste Aktivdienst leisten. 9 Monate dauerte sein erster Einsatz. Eine Lohnentschädigung stand ihm nicht zu, weil er Selbständigerwerbender war.
 
Bis zu Grosis Tod fühlte ich immer eine grosse Geborgenheit, wenn ich sie besuchte. Die positive Kraft, die sie für mich ausströmte, blieb ihr Leben lang erhalten. Ich führe es darauf zurück, dass erste Lebenserfahrungen in ihrem Umfeld stattfanden. Sie kümmerte sich um mich. Sie half mir auf die Beine. In ihrem Haus lernte ich laufen. Im Winter zog sie mich auf dem Schlitten ins Dorf. Sie war für mich der ruhige Pol, eine ausgeglichene und geduldige Frau und in diesem Sinn eine starke Persönlichkeit. Sie brachte 9 Kinder lebend zur Welt. Zwillinge starben vermutlich noch im Mutterleib. An ihrem Arbeitsplatz in der Weberei liefen die Webstühle noch an einer Transmission und waren mit Lederriemen verbunden. Ein mit einer kleinen Reparatur beschäftigter Webermeister kam einem Transportriemen zu nahe, dieser riss ihn in die Höhe und verklemmte ihn in der Transmission. Dieses Unglück erlebte mein Grosi als schwangere Frau hautnah mit. Wahrscheinlich tötete der Schock die im Mutterleib heranwachsenden Kinder. Es stellten sich Blutungen ein. Tage später dann Wehen. Unter schlimmsten Schmerzen kamen 2 Knaben tot zur Welt.
 
Grosis älteste Tochter hat diese Geschichte für die Familie aufgeschrieben. Es heisst da: Heute würde eine so verunglückte Frau sofort ins Spital gebracht. Damals gab ihr der Hausarzt ein blutstillendes Mittel und überliess sie dem Schicksal. In diesem Bericht wird auch noch davon erzählt, wie der Arzt dann nach der Geburt auf sie gekniet sei, um die Nachgeburt auszukratzen. Eine fürchterliche Prozedur, natürlich ohne Narkose.
 
Was haben die Frauen von damals alles aushalten müssen!

Samstag, 21. August 2010

Kunstschaffende beleben das Zeughaus Gelterkinden BL

Radio DRS 2 informierte über die Ausstellung. Das Gespräch mit der Projektleiterin Ursula Pfister weckte sofort mein Interesse. Sie erzählte von ihren Eindrücken, als sie das Zeughaus erstmals besuchen durfte und dass sofort der Wunsch entstand, dieses Gebäude mit seiner Geschichte auf neue Art zu beleben.
 
Sie erzählte vom fettigen Raumgeruch, der ihr da entgegenkam, und da war ich diesem Ort sofort nahe, obwohl ich bis dahin nie einen militärischen Raum betreten habe.
 
Die Militärwelt war für mich in den 60er- und 70er-Jahren, als mein Ehemann die befohlenen WKs (Wiederholungskurse) absolvierte, eine Parallelwelt. Hatte ich mich von ihm verabschiedet, verschwand er in mir unbekannte Gefilde. Noch heute sehe ich eine Art Nebel vor mir, wenn ich zurückdenke. Bekam ich Post von ihm, trugen die Umschläge immer nur denselben Stempel seiner Kompanie. Die Militärpost nannte sich Feldpost. Und da gab es keine Hinweise auf Ortschaften, die ich auf einer Karte hätte ausfindig machen können. Selbst wenn im Brief dann die Region genannt wurde, wo er sich befand, fehlte mir der offizielle Ortsstempel.
 
Und jetzt durfte ich ein zweckentfremdetes Militärgebäude betreten.
 
Ich fand nicht die leiseste Geruchsspur von Gewehrfett, die ich sofort erkannt hätte. Sie war jeweils Hauptbestandteil der Aura, die Primo um sich trug, wenn er heimkehrte. Sie war gemischt mit Schweiss und der unverkennbaren Note der Wundsalbe Unguentolan, die auch heute noch mit naturbelassenem Lebertran hergestellt wird.
 
Primo war anfänglich nicht begeistert, jetzt einer Einladung zum Besuch eines Militärtempels zu folgen; aber er kam mit, und es lohnte sich. Die Vergangenheit ist das Eine, das heutige Leben und Schaffen das Andere. Ursula Pfister sagte schon im Radio-Interview, dass sie den ursprünglich miefigen Geruch jetzt nicht mehr wahrnehme. Ja, er hat sich davongemacht. Die Räume wurden seit dem Frühjahr 2010 begangen, belebt, mit neuer Energie aufgeladen und sie wurden belüftet. Hier arbeiteten in den letzten Monaten jene Künstlerinnen und Künstler, die ihre Arbeiten jetzt zeigen.
 
23 Kunstschaffende haben sich mit diesem Haus auseinandergesetzt und Werke geschaffen, die mit seiner ursprünglichen Bestimmung etwas zu tun haben. Und die Bevölkerung wurde eingeladen, ihnen beim Arbeiten über die Schulter zu schauen und mitzuerleben, wie sich das Zeughaus zum offenen Atelier wandelte.
 
Und die Militärmusik der Rekrutenschule 16-1 aus Aarau beehrte Gelterkinden im Juni 2010 mit einem Konzert.

Die aus Holzlatten geschaffenen Räume und Abteilungen, einst für die Lagerung von Waffen, Ausrüstung und Werkzeugen bestimmt, ergaben geeignete Ateliers und Ausstellungsbezirke. Begrenzte Abteile mit Durchsicht zum Nachbarn, wie wir sie als Winde (im Estrich) in den Mehrfamilienhäusern auch kennen.
 
Um all die Zeughaus-Gegenstände zu lagern, verfügte dieses Haus über viele Lattenroste, die jetzt mit anderer Bestimmung wieder eingesetzt worden sind. Sie befinden sich zuoberst im Dachraum z. B., schräg angeordnet an die Wand platziert, zu einem begehbaren Korridor gestaltet, der die Ausstellungsbesucher zu einer Art Heiligtum hinführt. Zu einem Tor mit innerem Licht. Verherrlichung von wem oder was?
 
Ebenfalls auf der obersten Etage zogen mich farbige Oberlichter an. Glasfenster mit Gedanken zum Thema Krieg. Da las ich:
 
Man hofft, solange man atmet.
 
Fast jeder Überlebende hat einen Zufall gehabt, der ihn überleben liess.
 
Man sieht immer nur, was man sehen will.
 
Es war geistig eine tote Zeit.
 
Die Zeit dehnt sich in Unendlichkeit.
 
In der mittleren Etage konnten Räume, die allein mit durchsichtigen Klebebändern umgestaltet worden sind, durchschritten werden. Auch da war der Weg diktiert, jedoch mit der Möglichkeit, ihn zu verlassen. Und in der Ansicht von vorn vermittelte diese Installation das Dahinterliegende in vielfältigen Schichten.
 
Ganz unten, im Erdgeschoss nochmals viel Holz, knorriges Holz, aufgepflanzte Äste und Stöcke, denen der Wildwuchs gelassen, ihnen aber auch schöne Motive eingeschnitzt worden sind. Es gab da auch die gängigen Gehstöcke des Bergsteigers von einst.
 
Sinnbild all der knorrigen Soldaten und Originale und jenen, die es zu besonderem Ansehen und begehrten Dekorationen schafften?
 
Auch die Soldatensprache wurde thematisiert. 71 Begriffe werden in der Ausstellung genannt, von denen ich einige kannte.
 
Beispiele, die gut verständlich sind:
 
bürsten = schikanieren, z. B. die Rekruten bürsten.
 
Bundesziegel = Biskuits. Solche brachte mir Primo jeweils nach Hause.
                              
Fahnentürgg = Prozedere rund um die Fahnenübernahme und –abgabe; Vorbeimarsch, Aufmarsch, Ansprache, Abspielen der Nationalhymne.
 
Grabstein = Erkennungsmarke, die der Soldat auf sich trug.
 
Mami = Feldweibel.
 
Seeletürgg = Feldgottesdienst.
 
Wolf = Hautreizung im Beinbereich (Oberschenkel) aufgrund langer Märsche.
 
Und das uns ansprechendste Wort fanden wir auf einem Stempel, der als Kunstobjekt angeboten wird. Verstanden lautet seine Botschaft. (Den Befehl verstanden.) Humorvoll. Die Idee hat uns gefallen. Ja, wir haben verstanden.
 
Zuerst dachte ich, die Rauminstallationen hätten mich am meisten beeindruckt. Jetzt aber, 2 Tage später, erscheint mir der ca. 2 x 3 m grosse Papier-Scherenschnitt vor den inneren Augen, und ich weiss, dass es für mich und nach Rückfrage auch für Primo das wertvollste Stück der ganzen Ausstellung ist.
 
Eine unglaublich subtile Arbeit, ein Blättergebilde eines Laubbaums, gigantisch in seiner Grösse. In einem mit textilem Schrägband eingefassten Rahmen und daran aufgehängt. Leicht fallend. Und atmend. Es wird auf die Luftfeuchtigkeit reagieren. Es ist lebendig. Es wird wohl das Leben darstellen. Das verletzliche Leben, das geschützt werden muss. Mit oder ohne Militär. Ein Werk ohne Worte, aber mit grosser Wirkung.
 
Primos Interpretation dazu: Anstoss für diesen Scherenschnitt könnte das militärische Tarnnetz gewesen sein. Auch andere Übersetzungen von eingelagerten Materialien sind ihm aufgefallen. „Kraftvolle Übersetzungen“ nannte er sie.
*
 
Hinweis
Die Ausstellung, die mehr darstellt als von mir beschrieben, dauert bis 17. September 2010. 
Alle Information dazu unter www.mobilmachen.ch

Sonntag, 8. August 2010

Postkarten, Briefe aus den Ferien. Umgang mit der Post

Jetzt trifft wieder Ferienpost ein. Heute aus der Bretagne, gestern aus Stralsund und etwas weiter zurück aus Sidney, Prag und aus Appenzell.
 
Ich freue mich immer über sichtbar gewordene Gedanken. Es heisst da manchmal, dieser Ort würde mir gefallen oder es wäre schön, wenn ich auch mitgereist wäre. Was immer auch das Motiv ist, dass Karten verschickt werden: Diese Tradition gefällt mir.
 
Die eingegangenen Karten sind farbig. Der Himmel meist blau, und wo er bewölkt ist, sind imposante Wolkenformationen dargestellt. Aus Prag erreichten mich letzte Sonnenstrahlen vor dem Sonnenuntergang. Da ist die Stadt in ein goldenes Licht getaucht.
 
Das Blau, von dem ich sprach, muss auch anderen gefallen. Sonst würde es nicht so oft dargestellt. In den meisten Fällen wird es nicht exakt den Augenblick eines Himmelbildes darstellen, sondern den Farbentscheid eines Druckers, der den Wunsch einer Tourismusbehörde umsetzt.
 
Der Himmel über Sydney entspricht exakt meiner Wahrnehmung in Norwegen. Ich nenne es Trondheim-Blau. Dort sprach es mich an und nahm mich in seinen Bann. Ich kann es nicht mehr vergessen. Hier gibt es dieses Blau selten, am ehesten nach dem ersten Herbsteinbruch, wenn die Sonne nicht mehr so hoch am Himmel steht. Dieses Blau wirkt kühl, aber nicht kalt. Es strahlt Frische aus, die zur Klarheit gehört.
 
Ich freue mich, dass es diese Post noch gibt, die auch handschriftlich angeschriebene Briefe und Karten zustellt. Aus der eigenen Erfahrung als Aushilfspöstlerin weiss ich, dass gerade diese Post ein emotionales Gewicht hat, die eine Verträgerin spürt. Auch wenn die Grüsse und Texte nicht gelesen wurden, konnte ich ahnen, dass sie Freude bereiten. Und ich trug sie vor allem gern aus.
 
In letzter Zeit hat meine Liebe zur Post gelitten. Die Tarifanpassung für die Auslandbriefe Europa per 01.04.2010 (bis dahin Fr. 1.30, neu Fr. 1.40) ging an mir vorbei, ebenso letztes Jahr die Reduktion für A4-Briefe in der Schweiz. Es ärgerte mich, dass ich mangels Informationen Fehler machen musste. Es sah so aus, dass nur noch die Grosskunden interessant seien. Nun ist das Rätsel aber gelöst. Der Kleber „Stopp! Bitte keine Reklame“, der in unserem Haus an allen Briefkästen angebracht ist, verhinderte die Zustellung eines neuen Tarifblattes. Da ich ihn nicht selbst platzierte – er war schon da, als wir hier einzogen ­– habe ich mich mit diesem Thema gar nicht befasst. Trotzdem, von der Post hätte ich nicht erwartet, dass sie ihre Tarifmitteilungen als simple Reklame einstuft. Gut. Ich bin jetzt informiert und richte mich danach. Ich habe meine Haltung geändert. Ich warte nicht mehr, dass man mich informiere. Ich will mich von Zeit zu Zeit selber erkundigen, ob sich etwas geändert hat. Und da habe ich gleich eine interessante Beobachtung gemacht. Schon beim nächsten Besuch in der Post fiel mir der Ständer im Eingangsbereich mit vielen Informationen zu allen Dienstleistungen auf. Diese habe ich bisher übergangen, habe alle Schriften als Reklame betrachtet und dort keine Tarifinformation erwartet. Sie wäre aber bereitgelegen.
 
Die ganze Geschichte hat sicher auch mit meinem Alter zu tun. Ich habe ungefähr 55 Jahre lang erfahren, dass mich die Post immer informierte, wenn sie an ihren Tarifen etwas änderte.
 
Wer über 60 Jahre alt ist, muss sich mehr und mehr nicht nur von Menschen, sondern immer auch von Institutionen, Organisationsformen, Gewohnheiten, Sicherheiten usw. verabschieden. Ob es uns passt oder nicht.

Montag, 26. Juli 2010

„Poisson rouge“: Der rote Fisch ist Liebling vieler Kinder

Die handschriftliche doppelte RUF-Buchhaltung, wie ich sie vor mehr als 50 Jahren in der Handelsschule des Kaufmännischen Vereins Zürich erlernte, führe ich immer noch im gleichen Stil für unseren Handwerksbetrieb. Der Computer konnte sie offensichtlich auch andernorts noch nicht vollkommen verdrängen. Bis jetzt habe ich jedenfalls die dafür erforderlichen Formulare immer noch kaufen können. Und die Art der Buchhaltung entspricht mir sehr.
 
Als die 4-jährige Nora bei uns in den Sommerferien weilte, zeigte ich ihr die Grundplatte dieser Einrichtung und den Mechanismus dazu. Und wie mir ihre Mama (Felicitas), als sie selbst noch ein kleines Kind war, beim Buchen half. Ich spannte das Journal ein, legte das Pauspapier darüber und fixierte dieses gemeinsam mit der dafür vorhandenen Klemmvorrichtung. Die darüber eingerichtete bewegliche Leiste wird für die Konti gebraucht. Sie hält dieses für die einzelnen Buchungen fest. Nach jeder gebuchten Zeile wird der Zeiger, der auf die nächste freie Zeile verweisen muss, um 1 Schaltung verschoben. Das war damals Felicitas Aufgabe. So arbeiteten wir. Ich erfasste Eingänge und Ausgänge unseres Geschäftes handschriftlich, und Felicitas sorgte dafür, dass ich immer auf der nächstfreien Linie weiterarbeiten konnte. Sie stand neben mir. Wenn der Zeiger geschoben wurde, ertönte leise ein mechanisches Geräusch. Dieses wollte Felicitas jetzt gerne wieder einmal hören. Ich sah es ihr an, dass es sie berührte und dass wir zusammen in eine längst vergangene Zeit zurückschauten. Wir beide konnten uns an dieses stille und konzentrierte Arbeiten erinnern. Wir fanden unsere Zusammenarbeit immer noch schön.
 
Nora war aber besonders darüber erstaunt, dass das, was wir soeben auf dem oben aufliegenden Kontoblatt geschrieben und gezeichnet hatten, unten auf dem Journal exakt abgebildet wieder zum Vorschein kam. Das Pauspapier ist eben aus der Mode gekommen und Kindern von heute gar nicht bekannt.
 
Noch am selben Tag schaltete mir Felicitas die Webseite www.poissonrouge.com auf, damit mir Nora eines ihrer Lieblingsspiele am Computer zeigen konnte. Was für ein Unterschied zur stillen Handhabung der RUF-Buchhaltung mit seinen bescheidenen Manövrierungsmöglichkeiten!
 
Die Kinder von heute sind in ganz anderer Position am Drücker. Sie sausen durch die vielen Schichten der Angebote, tauschen Farben aus, komponieren kleine Sequenzen von Musik, fangen herumschwirrende Käfer und Bienen, klicken an einem Apfel, der gegessen und immer kleiner wird und hören, wie der Magen mit einem Rülpser reagiert. Sie schauen in ein Liederheft, wo sich Bilder bewegen und rechts davon die Texte zu lesen sind. Und sie hören, wie Kinder, die offenbar im Computer wohnen, diese singen.
 
Fantastisch!
 
In einem anderen Bereich können Gegenstände angetippt werden. Ihre Namen erscheinen dann auf einer schwarzen Wandtafel. Vögel singen und die Kinder am Drücker können diese nach eigenem Willen anders einfärben. Dann gibt es da einen Bereich jener Illusionsbilder, die das Auge kippen kann. Oder geometrische Körper, die sich bewegen. Und vieles, vieles mehr.
 
Ich sah, wie Nora ein Bild bearbeitete, auf dem ein papierener Kreis zerrissen dalag. 3 Teile. Sie konnte diese wieder zu einem Ganzen zusammenfügen. Und sie ist doch erst 4-jährig.
 
Es scheint alles möglich. Die Kinder gestalten die Welt. Vieles, was ich hier gefunden habe, hat mir gefallen. Es fehlt mir aber die Darstellung der Ehrfurcht vor dem Leben. Was ist da zu erwarten, wenn die Kinder, einmal erwachsen geworden, ganz selbstverständlich daraufhin arbeiten, den Wald blau einzufärben, singenden Kindern die Hautfarbe zu ändern und alles was kreucht und fleucht wegzusperren?
 
Trotzdem: Diese Webseite hat etwas Faszinierendes.

Donnerstag, 22. Juli 2010

Sommerschwüle, Gewitter, Überraschung im Gästebett

Unsere Gäste aus Paris sind heimgereist. Die Wohnung ist wieder in ihren Urzustand zurückgeführt. Die Bettwäsche ist gewaschen. Der Bettüberwurf aus Manchesterstoff liegt da wie immer. Es ist ihm nicht mehr anzusehen, dass er in jenes Gewitter hineingezogen worden ist, das viele Orte überschwemmt hat.
 
Vorausgegangen war ein Tag voller Sommerschwüle. Am Abend entschlossen wir uns, noch einen Spaziergang zu machen. Unsere Tochter Felicitas, die Enkelin Nora, Primo und ich. Wie üblich nach Schlierenberg. Dort oben treffen wir mehrheitlich auf angenehmere Temperaturen und erfrischenden Wind. So auch diesmal.
 
Aber vorher hatten wir noch eine überraschende Begegnung. Seit ein paar Monaten beobachten wir im Umfeld des Dunkelhölzlis ein ungefähr 30 Aren grosses neu eingerichtetes Gartenareal. Es ist die Gemüse-Anbaugemeinschaft Pflanzplatz Dunkelhölzli", die hier gemeinschaftlich unter fachkundiger Anleitung und nach biologischen Richtlinien gärtnert.
 
An dieser Stelle beginnt die letzte Steigung für Schlierenberg. Hier tritt man aus den Wohnbaugebieten heraus. Für mich immer ein befreiender Moment, wenn sich nur noch Felder und Waldrand präsentieren und noch weiter oben dann die Sicht aufs Limmattal frei wird.
 
Diesmal blieb mein Blick an einer wunderschönen Frauenfigur hängen. Als Vogelscheuche wachte sie über den neu angelegten Pflanzplatz. Allgemein sind Vogelscheuchen simple Holzgestelle, bekleidet mit alten Hemden oder Blusen und Hüten. Ihr Kleid aber war ein mit orientalischen Ornamenten bestickter Mantel. Ihr langes, rotes Haar flatterte. Sie gab den Eindruck einer lebenden Person.
 
Ich stellte mich neben sie, streckte die Arme auch seitlich aus. Als Vogelscheuche Modell Nummer 2. Meine Familie konnte sich aber nicht für mich begeistern. Die geheimnisvolle Schönheit neben mir war einmalig. Wir bedauerten, dass wir keinen Fotoapparat bei uns hatten.
 
Wir gingen weiter. Keine 10 Minuten später überraschte uns ein giftiger Wind. Hier oben ist es immer kälter als im Tal, aber an diesem Abend war der Unterschied markant. Wir entschlossen uns, die Wanderung sofort abzubrechen und schnurstracks heimzugehen. In kurzer Zeit hatte der Himmel seine Farbe gewechselt. Er grollte und das schwere Grau erschreckte uns. Dass es hier nichts mehr zu spassen gab, zeigte uns auf dem Rückweg ein schwarzes, wirr zusammengedrücktes Stoffbündel am Querbalken des Vogelscheuche-Skeletts. Der Wind hatte die Schönheit umgebracht. Das, was von ihr übrig blieb, erinnerte vage an den Kadaver eines grossen, schwarzen Vogels. Jetzt wirbelte der Wind viel Staub aus den durchsonnten Kornfeldern über unseren Weg und auch in unsere Augen.
 
Dann eilte ich voraus, hatte Bedenken, die offenen Fenster unserer Wohnung seien vielleicht zu wenig gesichert. Das traf dann nicht zu. Tochter, Enkelin und Ehemann kamen hinterher, aber auch noch rechtzeitig, ohne nass zu werden.
 
Den Durchzug hob ich auf, öffnete aber in jedem Zimmer das Hauptfenster, um die frische Luft einzulassen und schloss jede Tür.
 
Dann setzte der Regen ein. In der Ferne zuckten Blitze. Und es donnerte. In unserem behaglichen Zuhause fühlten wir uns geschützt. Den Wetterverlauf verfolgten wir nicht weiter. Wir waren rechtzeitig heimgekehrt. Bald wurde es Zeit für Nora, schlafen zu gehen. Sie wünschte sich aber noch eine Geschichte. In aller Seelenruhe setzten wir uns in der Stube aufs Sofa und schauten zusammen ein altes Album an.
 
Und dann die Überraschung: Auf dem Gästebett lag ein See. Auf der Wetterseite schoss der Regen horizontal durchs offene Fenster ins Zimmer hinein. Das Bett in seiner Nähe bot sich als Auffangbecken an. Da Nora hier gerne herumturnte, war die Bettdecke in der Mitte eingedrückt. Auf sie liess sich das Wasser fallen. „Das ist ja der Seealpsee!“ rief ich, um meiner Unachtsamkeit etwas Humor hinterher zu schicken. Das Wasser durchdrang den festen Manchesterstoff und auch die Federdecke. Es dauerte 3 Tage – und diese waren sehr sonnig –, bis sich ihr Inhalt erholt hatte und der üble, modernde Geruch verschwand.
 
Während dieser Zeit wunderte ich mich öfters, wie es die Natur immer wieder versteht, uns ein Schnippchen zu schlagen und aufzuzeigen, dass wir unfähig sind, für totale Ordnung und Sicherheit zu sorgen.
 
Die schöne Vogelscheuche wurde vom unvermittelten Sturm gebodigt. Bis heute ist sie nicht auferstanden.
 
Aber ich habe sie, sehr ähnlich, sehr verwandt, in einem Bekleidungskatalog wieder gefunden. Die Ornamente des samtenen Mantels sind hier schlichter, aber die Erscheinung der ganzen Persönlichkeit erinnert stark an die Figur, die wir auf dem freien Feld bewundert haben.
 
Zu finden im Katalog "hessnatur" auf Seite 133. Diese angesehene Firma, die Produkte aus natürlichen Materialien anbietet und dazu versichert: „Was wir tun, tun wir vor dem Hintergrund höchster ökologischer und sozialer Standards oder gar nicht. Darauf können Sie sich verlassen."
 
hessnatur kleidet selbstverständlich keine Vogelscheuchen ein. Das ist das eine, was ich aus meinem Erlebnis herausfiltere. Das andere ist das Gemeinsame mit den Gemüsebauern. Beide wollen Erzeugnisse aus der Natur anbieten. Die gewachsene Schönheit und die Unversehrtheit ihrer Produkte stehen im Mittelpunkt.
 
Hinweis
Das Textatelier.com hat weder verwandtschaftliche Verbindungen noch irgendewelche geschäftliche Beziehungen zur Firma hessnatur. Grundsätzlich erfolgen alle Produkte- oder Firmennennungen nach freiem Ermessen der Autoren, wenn sie im Interesse der Nutzer und der Detailgenauigkeit sind.

Samstag, 3. Juli 2010

Gestohlene Velotaschen, lustige Kinder, Kurzweil im Bus

Heute liess ich mein Velo zu Hause, im Abstellraum gut geschützt. Es wurde bestohlen. Diebe halfterten in den Abendstunden im Velostand Bahnhof Altstetten die praktischen Seitentaschen ab. Ich erkannte mein Rad kaum mehr. Die Seitentaschen gaben ihm eine gewisse Behäbigkeit. Ohne diese steht es nun mager und nackt da. Immerhin, es ist noch da. Das ist das Wichtigste.
 
Die Reise ohne Velo, am Tag danach, wurde dann zu einer Art kleiner Entschädigung, obwohl nicht von den Dieben organisiert. Auf dem Velo bin ich immer allein. Im Tram und Bus aber unter Mitmenschen und ihren Geschichten.
 
Auf der Busstation traf ich mit einer jungen Frau und 2 Kindern zusammen. Der ältere Bub begann plötzlich herzzerbrechend zu weinen, und obwohl der jüngere nicht wissen konnte, warum, wollte er auch losheulen. Es gelang mir, ihn abzulenken. Ich trommelte ein bisschen an die Plakatwand, wechselte die Stellen, damit sich die Töne veränderten. Das gefiel dem Kleinen im Kinderwagen, und er zeigte mir, ohne zu sprechen, da, dort, oben, unten, auf dem blauen Feld, auf dem grünen usw. solle ich auch noch klopfen. Und er lachte dazu, weil ich ihn verstand. Inzwischen hatte die Mutter erfahren, warum geweint wird. Der grössere Bub hatte sein Spielzeugauto, das er gestern bekommen hatte (Kosten: Fr. 45.–), in den Hort mitnehmen wollen und dieses nun auf der Ablage am Kiosk liegen gelassen, als sie dort noch Proviant einkauften. Und jetzt konnte die Mutter nicht zurückgehen und nach ihm suchen, denn der Bus traf ein. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Die Kinder müssen pünktlich im Hort sein.
 
Noch immer traurig, aber doch schon etwas gefasst, verliessen sie wenig später den Bus, und an ihrer Stelle stieg eine Schulklasse ein. Diese 2. Primarklasse ging auf die Schulreise in den Sihlwald. Eine lustige Schar, Kinder aus aller Welt mit erwartungsvollen Blicken, gut gekleidet und mit dem Proviant am Rücken. Sie ergatterten die letzten freien Sitzplätze. Kurz war die gemeinsame Fahrt mit ihnen. Nach 2 Stationen mussten sie schon umsteigen. Das galt auch für mich. Aber unsere Ziele waren verschieden.


Inzwischen war es 9 Uhr geworden. Die Berufstätigen waren an ihren Arbeitsplätzen. Die Autos in den Garagen und die meisten Sitzplätze im Tram und Bus verwaist. Wenn ich mit dem Velo in die Stadt fahre, richte ich es meist so ein, dass ich diese ruhige Phase nützen kann. Kurze Zeit waren im Bus meiner 2. Wahl nur gerade 3 Plätze besetzt, dann aber stürmte eine Kindergartenschar herein. Als wir über die Hardbrücke fuhren, hörte ich hinter mir eine Bubenstimme, wie diese auf den "Prime Tower" verwies. Das sei das höchste Haus von Zürich und der Schweiz, wusste der 6-Jährige. Stimmt. Die vorgesehene, alles überragende Höhe ist schon erreicht. Der Bau aber noch nicht vollendet. Ein Kollege widersprach, das sei kein Haus. Doch es sei ein Haus. Nein, es sei kein Haus. So ging das hin und her. Ich erwartete immer eine interessante Übersetzung des englischen Namens. Ich habe noch nie eine solche gehört. Einig wurden die beiden nicht. Der eine bestand darauf, dass dies ein Haus sei und der andere verneinte es hartnäckig. Endlich kam es aus ihm heraus. Das sei ein Geschäft!
 
Stimmt. Aus Zeitungen war schon zu erfahren, wie hoch die Mietkosten für Räume in diesem prestigeträchtigen Turmbau angesetzt sind. Es war auch schon die Rede vom Kaufpreis einer ganzen sogenannten Eigentumsetage. Schwindel erregende Zahlen. Obwohl ich mir solche Preise nicht merke – Angebote dieser Art sind jenseits meiner Bedürfnisse – mag es 100-prozentig zutreffen, was der Bub aus dem Kindergarten sagte: Das sei ein Geschäft.
 
Mir gegenüber sassen 2 Mädchen. Sarah und Alessia. Sie zeigten mir ihre Namen auf den orangefarbigen Schutzwesten. Freimütig erzählten sie, ihr Ausflug sei keine Schulreise, sondern eine Chindsgi-Reise (Chindsgi=Kindergarten). Sie würden den Zoo besuchen.
 
Dann widmeten sie sich wieder ihren eigenen Geschichten. Ich hörte die Frage: Wie viele Grossväter hast Du? Ich habe zwei. Ich auch. Eigentlich habe ich nur noch einen Grossvater. Der andere ist gestorben. Ich wollte ihn am Morgen wecken, stupfte ihn. Da war er schon gestorben. Sterben ist nicht schön. Die andere: Mein Grossvater stirbt jetzt dann auch gerade. Er ist im Spital. Er ist ganz weiss im Gesicht.
 
Wie schön ist es, wenn Kinder gleichen Alters alles aussprechen können, was sie gerade beschäftigt. Kürzlich wurde am Radio einer Person die Frage gestellt: Was war das Schönste in ihrer Jugend? Die Antwort, die der Mann gab, ist mir entfallen, aber sofort wusste ich, was für mich das Schönste war: Dass ich eine Schulfreundin hatte und ihr auf dem langen Schulweg alles erzählen konnte, was mich bewegte.
 
Ich konnte mir vorstellen, wo die Klasse aussteigen werde und hoffte, dass keines der Kinder ein anderes von der Traminsel schupfe. Aber alles war gut eingeübt. Die Kindergärtnerin rief die Kinder im Bus zusammen, erinnerte daran, dass jedes das bestimmte Gspäänli (Mitschüler, Mitschülerin) an der Hand halte und alle zusammen warten müssten, bis der Bus weggefahren sei.
 
Ich fühle grossen Respekt den Lehrpersonen gegenüber. In der Stadt einen Haufen Kinder so zu führen, dass sie den Weisungen folgen, ist nicht Nichts. Die Hektik des Strassenverkehrs und die vielen Ablenkungen ganz allgemeiner Art sind beträchtlich. Zusätzlich gibt es immer Kinder, die gerne spassen, andere necken und selbstvergessen reagieren. Die Verantwortung ist riesengross.
 
Lehrer sollten es erleben können, dass ihnen die dann erwachsenen Schüler erzählen, wie spannend die Schulreisen waren und welche Erlebnisse und Erfahrungen ihnen immer noch wichtig sind.

Donnerstag, 24. Juni 2010

Jahreshöhepunkte: Mittsommer, längster Tag, Johannifest

Da lag ein Blatt auf dem Trottoir und verkörperte genau das Thema meines für heute vorgesehenen Blogs. Ich bückte mich, hob es auf und fühlte seine pelzige Rückseite. Es war aber die Oberfläche, die mich angesprochen und beinahe elektrisiert hatte. Linke Seite grün, rechts der Hauptrispe gelb und braun. Den Namen seines Baumes kenne ich nicht. Ich stellte nur fest, dass mehrere dieser Art unsere Strasse säumen. Es wird Zeit, sie noch richtig kennen zu lernen.

Nach unserem Kalender markiert der 21. Juni die Sonnenwende, den Übergang vom Grünen, Blühen und Aufwachsen hin zur Vergänglichkeit. Eindrücklicher könnte mich die Natur heute nicht informieren. Das aufgehobene Blatt zeigt mir nicht nur Grün auf der einen, Gelb und Braun auf der anderen Rispenseite, sondern beidseitig auch schon viele braune Tupfer, die bereits das spätere Absterben ankündigen. Dass dieses Blatt schon abgefallen ist? Extra für mich? Zu meiner Belehrung? Ich freue mich über diesen Fund.

Am 24. Juni wird das Johannifest gefeiert. (Nach kirchlichem Kalender Festtag Geburt Johannes des Täufers). Auch dieses Datum weist auf den Höhepunkt des Sommers hin. Die Johannisbeeren werden reif, das Johanniskraut blüht, und die Glühwürmchen, die an vielen Orten Johanniskäfer heissen, schwirren umher. Von den Silberlinden weiss man, dass sie um diese Zeit ihre Blätter wenden. Die dunkelgrünen Blätter zeigen dann ihre helle Rückseite. Auf dem Hintergrund der dunklen Blätter nehmen wir sie als Silber wahr. Dieser Prozess vollzieht sich geruhsam, eben natürlich. Nicht alle Blätter wenden sich auf einen Knopfdruck am 24. Juni. Die langsamen bilden den dunklen Hintergrund, auf dem die gewendeten silbern zur Geltung kommen.

In Skandinavien überlebte der Brauch des Sonnwendfests. Mit seinen Tänzen um das Feuer fasziniert es neuerdings auch Menschen in unseren Breitengraden. In Norwegen habe ich zu diesem Thema verschiedene Gemälde gesehen, die mein Interesse weckten. Da ich selbst zur Sonnwende geboren wurde, möchte ich noch manches Wissen zu dieser Zeit entdecken.


2008 lud die Ökumenische Tisch-Gemeinschaft Symbolon meines Wissens erstmals zu einem ökumenischen Johannifest nach Gfenn ein. Man traf sich im Umfeld der Lazariterkirche und wanderte dann in dieser schönen Landschaft zu 4 Stationen und hörte dort etwas über die 4 Elemente: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Eine moderne Prozession, vielleicht 80 Leute, nahm teil. Ein Fernsehmoderator war dabei und stellte an den Stationen Fragen. Bei der Erde konnten alle einen Stein aufheben und mitnehmen. Die Veranstalter hatten einen Haufen hierher gekarrt. Es gab eine grosse Auswahl. Mir gefiel ein schweres Exemplar wegen seiner vielen Adern ganz besonders. Er hatte ein grösseres Mass als alle andern. Niemand berührte ihn, und mich sprach er an. Ich sah ihn bereits als Türstopper bei uns zu Hause. Er gefiel mir wegen seiner Wege und regt mich noch heute zu allerlei Gedanken an.

Am Weiher stehend, schöpfte eine Afrikanerin Wasser in einen Eimer und ihr Mann (ein Arzt und Entwicklungshelfer) nannte diese Portion den Tagesbedarf um zu überleben. (Trinkwasser und Wasser, um sich zu waschen). Er sprach über die Problematik unseres enormen Wasserverbrauchs in Europa und Amerika und von der Wasserarmut in Afrika. Und dass es ein Menschenrecht sei, zu Wasser zu kommen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Diese Diskrepanz zu unseren europäischen Wasseransprüchen ist mir damals eingefahren.


Wir standen im Umfeld eines kleinen, natürlichen Biotops und hörten, dass man bei der Gemeindeverwaltung eine Bewilligung erbeten habe, hier einen Eimer Wasser schöpfen zu dürfen. Sie wurde mit der Verpflichtung erteilt, das Wasser dem Sumpf wieder zurückzugeben, weil es Lebewesen enthalte. Das wurde dann getreu gemacht, wieder von der afrikanischen Frau. Sie benützte eine Schöpfkelle, die aus einer Kalebasse hergestellt worden war. Sie gab dem Weiher das geliehene Wasser respektvoll zurück. Solche Erlebnisse graben sich tief ein und beeinflussen das Gewissen.

Es war ein feinsinniges Fest und das sonnige Wetter unterstützte es. Nach einem feierlichen Gottesdienst in der Lazariterkirche Gfenn (einem Wahrzeichen nationaler Bedeutung) setzte man sich an Tische im Freien, ass die mitgebrachten Brote und labte sich an verschiedenen Getränken. Musikalisch umrahmt von jüdischer Musik und der Folk-Gruppe Amix.

Menschen aus verschiedensten religiösen Ausrichtungen wirkten mit. Mich beeindruckten Frauen mit ihren Klangschalen, die die religiöse Feier umrahmten. Es gehörte auch ihr Singen dazu. Ganz unbekannter Art. Vielleicht Keltisch? Orthodoxe Priester trugen eine Johannes-Ikone vor sich her.

In Erinnerung ist mir ein junger, fröhlicher evangelischer Pfarrer geblieben, ebenso eine Pfarrerin und ein Pfarrer aus Schweden. Primo und ich kamen mit einem Vertreter der Herrnhuter-Brüdergemeinschaft ins Gespräch, und wir trafen Dominikanerpatres aus unserem Bekanntenkreis. Solche Feste nähren die Lebensfreude und fördern das Verständnis unter den Kulturen.

Nun liegt eine neue Einladung auf dem Tisch:

Es heisst da:

GFENN BEI DÜBENDORF

Samstag, 26. Juni 2010

17.00 bis 22 Uhr

Interreligiöses Mittsommerfest

zu Johannis in der

romanischen Lazariterkirche

Mystik in Islam und Christentum

17:00: Drehtanz mit Sufi-Scheich Peter H. Cunz
18:00: Mystischer Stationenweg
19.00: Ökumenische Liturgie-Feier
20–22 Uhr: Fest am Johannisfeuer mit Picknick
Veranstalter: Ökumenische-Tisch-Gemeinschaft Symbolon