Ferien. Hinter dieses Wort setzte Walter Hess kürzlich die
französischen, sehr ähnlich klingenden Worte „fait rien“. Sinngemäss
übersetzt : „mach nichts“. Ein origineller Sprachwitz. Ob die Aussage
aber stimmt? Machen wir in den Ferien nichts?
Nach meiner Erfahrung ruhen jeweils nur die alltäglichen Pflichten,
und diese tauschen wir gegen andere Anstrengungen und manchmal sogar
Strapazen ein. Wirklich nichts tun ist ebenfalls anstrengend, vielleicht
sogar unmöglich.
Ich bin von einer Italienreise zurückgekehrt und noch immer am
Verdauen des Geschauten und Gehörten. Ich erlebte sie frei von
persönlichen Verpflichtungen, aber mit grossem Anspruch an die eigene
Aufnahmefähigkeit. Meine/unsere Reise führte als Gruppe mit 27 Personen
in die Maremma (südliche Toscana) zu den Etruskern. Ich
masse mir jetzt nicht an, kunsthistorisch oder geschichtlich darüber zu
berichten. Aber erzählen möchte ich, wie die Zeugen der etruskischen
Kultur auf mich gewirkt haben.
Sie haben meinen Blick auf die Römer verändert. Jetzt weiss ich,
dass sie die etruskische Kultur aufgesogen und nur weitergeführt haben.
Vieles von dem, was ich in jungen Jahren als römische Kunst bezeichnet
vermittelt bekam, schufen die Etrusker. Dieses Volk, von dem die Römer
schon vor ihrer Eingemeindung Jahrhunderte lang profitiert hatten, wurde
ab dem Jahr 40 vor unserer Zeitrechnung endgültig romanisiert.
Gegenwärtig wird das kulturelle Erbe in jenen Menschen weiterleben,
die dem Volk der Etrusker entstammen. Ihre Handwerker waren virtuose
Künstler. Die Darstellung von Schönheit und Anmut drückten sie
lebensfreudig aus. Sie waren Ästheten zu einer Zeit, als in der Schweiz
Pfahlbauer noch in grobem Leinen oder in Pelzbekleidung daherkamen. Ihre
Adeligen stellten die Etrusker auf Fresken oder als Statuen aus Marmor
dar. Bewundernswert die Fähigkeit, die leicht fallende, edle Bekleidung
im Marmor darzustellen.
In Beschreibungen werden die Etrusker manchmal als zügelloses Volk
beschrieben. Aus welcher Perspektive wurde das gedacht? Kann ein Volk so
vollendete Schönheit darstellen, Mann und Frau einander ebenbürtig
behandeln und intensiven Kontakt zu seinen Göttern pflegen, wenn es
sittenlos ist? Das glaube ich nicht. Die Etrusker bebauten das Land,
sorgten für die Ernährung, hielten Tiere und kannten die normale
Fruchtbarkeitsfolge allen Lebens. In diesem Sinn mögen sie auch die
Sexualität verstanden und Lebensfreude gelebt haben. Moral und Ethik,
Leben nach dem Tod, also auch Verantwortung, müssen meines Erachtens zu
ihren Lebensthemen gehört haben.
In Vulci fand ich die Darstellung eines Engels, vermutlich
einer weiblichen Gottheit, die mich in dieser Ansicht bestätigt. Auf
einer simplen Holzplatte war eines der verwitterten Fresken aus der „Tomba François“
reproduziert und ergänzt dargestellt. Das Bild packte mich. Da steht
neben einem Krieger, dem offenbar im nächsten Augenblick der Kopf
abgeschlagen werden soll, diese Schutzgottheit. Ihr Antlitz ist
unglaublich mild und ebenso unglaublich stark und sicher für die
Entscheidung, die sie sogleich fällen wird. Ihre Macht ist Hilfe. Sie
ist befähigt, gewissen Situationen im Leben oder im Kampf eine neue
Richtung zu geben. Sie tritt hinter dem Peiniger hervor. Sie verhilft
dem Mitgefühl und der Menschenliebe zum Durchbruch. Da wo sie hintritt,
wird alles anders. Der vordem Mächtige wird machtlos.
Ebenfalls in Vulci trafen wir im Archäologischen Museum
im ehemaligen Zisterzienserkloster auf verschiedene Sarkophage, auf
deren Deckeln der oder die Verstorbene in Stein gehauen verewigt sind.
In dieser Ausstellung stehen diese Steinsärge ungeschützt im Raum,
und die dargestellten Menschen sind den Besuchern nahe. Da stand ich und
wartete, dass sich die Nasenflügel eines Mannes bewegen würden und dass
er mit uns ins Gespräch käme. So lebendig sind hier die
Persönlichkeiten dargestellt. In diesem Museum wurde auch ein Lichtbild
einer Gruppe Sarkophage gezeigt, wie sie in einer Nekropole aufgefunden
worden sind. Eine grosse Familie, alle in der gewohnt vornehm liegenden
Haltung. Sie schauten aufeinander, schienen zu feiern und sich über die
neue Heimat in der jenseitigen Welt zu freuen. Ein ergreifendes Bild.
Von den Etruskern ist ihr gutes Verhältnis zu zahlreichen Göttern
bekannt. Die Priester pflegten die Lehre von der Interpretation
göttlicher Signale wie die Formen von Blitzen, der Leberschau und des
Vogelflugs. Diese Priester standen in hohem Ansehen, auch bei den
Römern, die ihre Dienste für die eigenen wichtigen Entscheidungen gerne
in Anspruch nahmen.
Nach etruskischer Lehre stand jeder Kultur eine eigene, ähnliche
Lebenszeit zu, wie es zu uns Menschen gehört (Geburt, Wachstum,
Entfaltung, Tod). Nach einer alten Weissagung wussten sie, dass die ihre
ungefähr 800 Jahre alt würde. Ihre Herrschaftszeit von zirka 800 bis
100 Jahre v. u.Z. kommt der Voraussage nahe.
Noch schlafen viele Schätze in Gräbern unter der Erde. Bis heute
seien die Ausgrabungen erst zu einem Drittel ausgeführt, erfuhren wir.
Unsere täglichen Ausflüge führten uns durch das dünn besiedelte
Land der südlichen Toscana. Lange Fahrten zu Ausgrabungsstätten wurden
nie langweilig. Die spannend aufgefaltete Landschaft mit ihren berühmten
Erdfarben Umbra und Ocker, den locker verstreuten Bäumen, den
Olivenhainen und den auf den Kreten platzierten Zypressen sog ich in
mich auf. Ihre Lieblichkeit muss man einfach gern haben. Manchmal, auf
dem Heimweg auf der Via Aurelia, sahen wir einen Streifen Meer golden
aufscheinen. Begeistert hat uns auch der langgezogene Pinienwald, der
den Strand begleitet und uns bei jeder Heimkehr unter sein pelziges Dach
nahm.
Immer kehrten wir nach Grosseto-Maritima zurück. Im
Hotel Ariston waren wir bestens aufgehoben und wurden ebenso bewirtet.
Unsere Ausflugsziele
Nekropole Roselle und Museo Archeologico e d 'Arte Grosseto:
In Roselle gingen wir auf einer Etruskerstrasse, die gut wahrnehmbar in eine römische Strasse überführte.
In Grosseto habe ich erstmals einen Granatapfelbaum mit reifenden Früchten gesehen.
Vulci:
Ruinenstadt. Grossräumiges Ausgrabungsgebiet, wo man sich verlaufen könnte.
Sowohl in Roselle wie hier in Vulci zeigten uns die noch erhaltenen
Mosaikböden, dass die Römer diese Kunst von den Etruskern übernommen
haben.
Kellergrab François.
Berühmt ist die imposante Bogenbrücke, die den Fluss Fiona überquert. Beliebtes Fotosujet.
Pittigliano:
Die allerschönste Stadt der Maremma. Auf einem mächtigen Felsen aus Tuffstein erbaut.
Ein Bild menschlicher Zusammengehörigkeit. Alle Häuser lehnen
aneinander an. Mit jüdischer Synagoge. Ihre Gemeinde nennt den Ort „La
Piccola Gerusalemme“.
Sovana:
Dies ein Bilderbuchort. Seine Piazza oder Strasse aus gebrannten Ziegelsteinen gestaltet.
Hochkant eingesetzt, zu Fischgrätenmuster gestaltet. Sehr speziell.
Grab l'Ildebranda, monumentale Tempelruine aus Tuffstein.
Tuscana:
Alter, lebhafter Ort mit Burgtürmen gegen Saraszenen.
In Tuscana besuchten wir 2 wunderschöne Kirchenräume San Pietro und Santa Maria Maggiore.
Räume voller Geistigkeit. Es finden in beiden Kirchen subtile
Renovationen auf der Basis von Freiwilligenarbeit statt. Hier finden
sich etruskische Symbole, die in die Christliche Kirche übernommen
worden sind.
Castiglione della Pescaia:
Ort am Hügel und Meer. Mit altem Yachthafen. Sympathischer Ort, vermittelt Ferienstimmung.
Vetulonia:
Grosseto gegenüberliegend. Der Talgrund war zur Zeit der Etrusker
ein See mit Zugang zum Meer. Prachtvolle Aussicht und Übersicht.
Niki Saint Phalles Giardino dei Tarocchi in Capalbio:
Die Werke dieser Künstlerin strahlen weltweit aus. In Zürich kennen
wir sie wegen ihres grossen Schutzengels, der in der Bahnhofhalle über
die Reisenden wacht.
Angaben zu ihrer Biografie und auch zum Thema Tarot finden sich im Internet.
Dass sie einen Garten zum Thema der Tarot-Karten erschaffen hat,
wusste ich aus Filmen. Die Grösse aber überraschte mich enorm. Die
Figuren ragen aus dem Blätterwald heraus und sind von weither sichtbar.
Die Farben der Figuren sind stark. Einige schillern. An ihnen ist nicht
so einfach vorbeizukommen. Sie dominieren den Ort und verlangen, dass
wir nach ihrer Botschaft suchen.
Ich fragte mich, warum sie diesen Garten in Italien gebaut hat.
Nachdem ich mich nun etwas mit der Religion der Etrusker befasst habe,
vermute ich eine Seelenverwandtschaft. Niki de Saint Phalle
kämpfte ein Leben lang für die Anerkennung der weiblichen Kräfte und
deren Spiritualität und in der Etruskischen Religion wurde als höchste
Gottheit „die grosse Mutter“ verehrt.
Ausser dem Eremiten und dem Partner „der Liebenden“ und
einem Fabeltier habe ich an diesem Ort Figuren weiblichen Zuschnitts
getroffen. Die Frau und Mutter, Lebensspenderin, Gebärerin mit
übergrossen Brüsten steht im Zentrum. Die 1930 geborene Künstlerin
kämpfte ein Leben lang mit aller Kraft gegen männliche Überheblichkeit.
Als wir in ihrem Garten ankamen, begleitete uns ein Führer durch die von Mario Botta
gestaltete Schranke, die die Aussen- von der Innenwelt markiert. Dann
begann es zu regnen, zu strömen. Der Mann, der uns begleitete, konnte
gerade noch sagen, dass es für die Besuchenden von grosser Bedeutung
sei, welche der Figuren wir zuerst betreten. Das Tarot ist ja
bekanntlich auch ein Orakel und antwortet auf unsere unbewussten
Entscheidungen. Und schon stand ich, eben wegen des Regens, gerade
zuerst im Körper der „Kaiserin“. Es war Niki de Saint Phalles
Lieblingsort. Hier sassen die Handwerker mit ihr zusammen, hier sei
gegessen und um Lösungen vieler Arbeitsprobleme gerungen worden.
Da ich Niki de Saint Phalles Anliegen, ihre Arbeitsperioden und
Arbeiten schon einigermassen gut kannte, schaute ich nicht nach ihrer
Botschaft aus. Ich liess die Figuren fürs erste einmal einfach vom
handwerklichen Standpunkt aus wirken. Und dieser ist grandios.
Das Zusammenfügen von farbigem Glas, von reiner Keramik, Spiegeln,
verspiegeltem blauem und grünem Glas. Ich kann mich erinnern, dass es
rosafarbene Spiegel gab und vielleicht noch gibt, damit die Haut
pfirsichhaft erscheint. Blaues, grünes, gelbes Spiegelglas habe ich noch
nie gesehen und bin doch im Haus einer Spiegelmanufaktur aufgewachsen.
Das Material wurde offensichtlich von ihr noch erfunden. Das ist das
Geheimnis der Figuren, dass ihre Flächen verschiedenartig ausstrahlen,
schillern, aber auch Farben und Abbildungen von Pflanzen, Bäumen und
Menschen brillant reflektieren.
Ich blieb lange im Haus dieser Kaiserin, wo die Spiegel
mehrheitlich das sind, was wir Spiegel nennen. Aber zerstückelte und
wieder zusammengefügte, um zu einem Körper zu werden, weg von der
Fläche. Wie ich so stand, die Arbeit bewunderte und mich wunderte über
die Ausdauer, die für solch gigantische Werke erforderlich sind, sah ich
in den Spiegelspickeln Teile meiner roten Windjacke. Auf einer gewissen
Bandbreite erschien mehrfach die gleiche Jackenpartie, oben und unten
jedoch abgeschnitten und von anderen Spiegelungen verdrängt. Mein
Gesicht sah ich nicht, weil die Wölbung des Raumes in eine Richtung
gebogen wurde, die mich nicht mehr auffangen konnte.
Schön fand ich ein kreisrundes Fenster aus normalem Fensterglas,
das dem total verspiegelten Innenraum einen Blick nach dem Garten
gestattet. Das Grün eines Baumes kann durch diese Lukarne wahrgenommen
werden.
Noch immer faszinierten mich die einzelnen Spiegelspickel, weil sie
scheinbar ganz eigenwillig abbildeten, was ihnen so passte. Mir fiel
ein, wie gut geeignet diese Schau sei, um einander zu erklären, dass wir
uns nur als Teile eines Ganzen wahrnehmen können. Hier drinnen liegt es
an den Spiegeln und an den Formen, an denen sie befestigt wurden, dass
wir uns nicht als ganze Persönlichkeit sehen und darstellen können.
Draussen aber ist es nicht anders. Da sind wir auch nur Spickel zum
Beispiel von universellem Wissen, von Talenten, die nicht nur einem
Menschen allein gehören. Wir sind verschieden gross, sehen die Umwelt
von unserem persönlichen Standpunkt aus. Wir verkörpern nur eine
Spiegelart oder nur eine nicht reflektierende Glasart mit einer satten
Farbe. Zusammen aber sind wir das Ganze. Jedermann kann meine Erfahrung
im Tarotgarten auch selber machen.
In der Nacht vor unserer Rückreise in die Schweiz befanden wir uns
noch direkt im Auge eines ungewöhnlichen Gewitters. Blitz und Donner
folgten sich Schlag auf Schlag. Ich fragte mich, ob vielleicht mein
Leben in wenigen Sekunden beendet sei. Was kommt jetzt? fragte ich. Es
wurde ruhiger und stiller.
Nach der Heimkehr schrieb ich als letzten Text ins Ferientagebuch:
Voll Vertrauen, aber ohne zu wissen, dass ich mich dem Vertrauen
hingab, muss ich ins Meer gestiegen sein. Es hat mich aufgefangen,
gepackt und herumgetrieben, mich in seinen Wellen sachte, aber auch wild
herumgeschleudert, mich in die Tiefe mitgenommen, um mich nach Tagen
lachend dem Land wieder zurückzugeben. Da lag ich dann am Boden im Sand,
unversehrt rieb ich mir die Augen und sah, dass sich das Wasser längst
zurückgezogen hatte. Ohne Gruss, ohne Abschied.
Das ist ein Bild, nicht die verbürgte Wahrheit, und doch habe ich die Tage in der Maremma so erlebt.