Samstag, 16. Mai 2009

Ständig wechselnde Szenen mit Patienten im Wartezimmer

Im Wartezimmer entspann sich sofort eine heitere Atmosphäre, als jene Frau eintraf, die ihr Eintrittsformular auf einer festen Unterlage so in den Raum trug, als würde sie einen Imbiss servieren. Als ich meine Beobachtung schilderte, lachte sie verschmitzt. Ja, sie sei die Tochter eines Wirtepaars und in einem Gasthaus aufgewachsen.
 
Über eine halbe Stunde war sie umhergeirrt, bevor sie diese Praxis endlich gefunden hatte. Als ich dafür Verständnis signalisierte, freute sie sich. „Das hat mir heute noch niemand gesagt.“ Sie erholte sich rasch, und unser lockeres Gespräch bewegte sich rasch zum Humor hin. Erst recht, als sie aus dem Fragebogen laut vorlas: „Wer ist erziehungsberechtigt?“ Später getraute ich mich zu fragen, wie sie geantwortet habe. Mit keinem Wort. Doch dann erwachte ihr Schalk und sie schrieb, laut sprechend, ihr Ich sei dafür zuständig.
 
Dann wurde ich zum Hörtest gerufen. Als ich zurückkam, war sie verschwunden. Schade! Es wäre gewiss noch viel lustiger geworden.
 
Jetzt aber stand ein weiterer Hörtest an. Wie aussagekräftig sind eigentlich solche Tests? Ich war froh, dass ich mein Gehör nochmals prüfen und meine Erfahrungen vom ersten Mal einfliessen lassen konnte. Das Wichtigste ist die Fähigkeit zur vollkommenen Konzentration. Keine Gedanken, keine Ängste, keine Ablenkung. Wie in der Meditation: Nur da sein und atmen. Aber, als ich die Kopfhörer aufsetzte, aufrecht dasass, mich erdete, wie man so schön sagt, und dann meinen Atem, einem Fluss gleich, dahinströmen hörte, war ich sofort abgelenkt. Dieses Rauschen, was ist da los? Glücklicherweise wurde jene Person, die den Test durchführen musste, noch kurz weggerufen. Als sie zurückgekommen war, konnte ich die Frage stellen. Ich hätte meinen Atem gehört, weil die Kopfhörer meine Ohren dicht abschliessen, hiess es.
 
Solche Fragen müssen beantwortet werden. Besser noch fände ich, dass generell auf sie aufmerksam gemacht würde. Ich bin überzeugt, dass ich wegen meiner Erfahrung diesmal ein viel besseres Resultat liefern konnte. Das wünsche ich auch andern.
 
Zurück ins Wartezimmer. Szenenwechsel. Ein älterer Herr, eine ausstrahlende Persönlichkeit, war eingetreten. Die Ärztin sprach in sein Ohr: „In 5 Minuten.“ Er nickte und befahl: „Er soll zweimal läuten!“ Frau Doktor riet ihm, nach 5 Minuten vor die Tür zu gehen. Er schaute auf die Uhr und nickte erneut. Dann betrat eine weitere Patientin den Raum.
 
Da hatte ihn vielleicht sein Kurzzeitgedächtnis schon verlassen. Er fragte sie: „Ist das Taxi bestellt?“ Sie konnte es nicht wissen, huschte sofort an die Réception zurück und fragte danach. „Nein, kein Taxi bestellt." Die Telefonistin griff zum Hörer und verlangte das Auto für Herrn X. Offenbar ein wichtiger Kunde. Man kannte seinen Namen. Das Auto sei bereits unterwegs. Die Ärztin selber hatte es bestellt.
 
An einem Ort wie diesem, wo Hören das wichtige Thema ist, nahm ich alle Gespräche wie ein Hörspiel wahr. Obwohl ich die Szene beobachtet hatte, griff ich selbst nicht ein.
 
Dann ertönte die Hausglocke. Zweimal, wie gewünscht. Niemand reagierte. Nur ich hatte sie wahrgenommen und konnte informieren. Ein gutes Zeichen für mich, das sich wenig später mit dem neuen Hörtest-Ergebnis deckte.

Samstag, 9. Mai 2009

Ab Hardturm über Züri-West nach Höngg und Altstetten

Den vorgesehenen Limmat-Spaziergang liess ich sofort fallen, als Vreni wissen wollte, wo sich das Zentrum von Züri-West befinde, von dem sie in der Zeitung immer wieder lese. Wir hatten uns beim Hardturm getroffen, wollten Limmat-abwärts gehen, um unsere einstige Heimat „Am Wasser“ zu besuchen. Dort lernten wir uns kennen, als unsere Kinder den Kindergarten besuchten.
 
Also gab es einen 180-Grad-Richtungswechsel zu „Puls 5“, dem Ort, wo sich Monumente des Industriezeitalters, oder Teile von ihnen, zu neuem Leben erwecken liessen. Wir besuchten die sympathische Migros-Filiale mit ihren grossen Fenstern und dem Blick in den begrünten Hof und angrenzend die Giessereihalle, in der einige Ladengeschäfte und ein Fitnesscenter eingerichtet sind. Da stiessen wir unverhofft auf „basecamp 09“, das „festival science et cité“.
 
www.basecamp09.ch informiert umfassend über diese spannende und lehrreiche Veranstaltung, die das Leben auf unserer Erde erklärt und an unsere Verantwortung appelliert. Der erwähnte Link führt auch zum „Rap Viedeo Contest“, auf den ich besonders hinweisen möchte. Diese Veranstaltung wird noch in verschiedenen Städten gastieren.
 
Der Turbinenplatz mit seinen vielen Birken und den eigenwilligen, hölzernen Liegen kam nicht zur Geltung. Die aufgestellten Zelte, Schiffscontainer und andere Ausstellungs-Gebilde bestimmten das Bild. Immer wieder fragte Vreni: „Ist das jetzt der Schiffbau?“, wenn sie irgendwo ein altes Gebäude erspähte. Sehr interessant für mich, wie sich Namen und Fetzen von Berichten einprägen, wenn sie sowohl in der Zeitung als auch im Fernsehen erscheinen. Das gibt es also wirklich, mag sie gedacht haben, als ich auf ein kleineres, altes Gebäude hinwies, in dem Kurt Aeschbacher seine Gäste für Fernsehsendungen empfängt.
 
Heute berührt es mich, wenn ich realisiere, wie die Architekten dieses Trendquartiers mit den Zeugen aus alter Zeit umgehen. Sie liessen jene Teile stehen, die alte Baukunst repräsentieren. Markant an der Halle, in der einst Schiffe gebaut wurden, ist die mächtige Eingangsfront mit dem aus rotem Backstein geschaffenen Halbkreis-Sturz. Dann im Innern das Stahlträgergebälk, an dem die Laufkatze (der Laufkran) in alle Richtungen geschickt werden konnte. Hier waren verschiedene Berufsleute an der Arbeit. Die wichtigsten: Kesselschmied, Metallgiesser, Mechaniker, Dreher, Kranführer.
 
Und heute werden in dieser Halle Schauspiele aufgeführt. Der „Schiffbau“ ist die Zweigniederlassung des Zürcher Schauspielhauses geworden.
 
Da ich selber in einer Fabrik, jedoch nicht aus der Metallbranche, aufgewachsen bin (meine Eltern waren als Hauswarte angestellt), sind mir solche Räume bekannt. Auf den ersten Blick fühle ich etwas Heimatliches, aber gleichzeitig erinnere ich mich an einen gewissen Mief, der sie umgab. Viel Grau, viel Lärm und Gestank. Und die Arbeiter mussten um minimale Rechte kämpfen. Ich wünschte mir damals ein menschenfreundlicheres Leben und eine hellere Zukunft.
 
Vreni und ich hatten den Schiffbau betreten. Wir standen in der Eingangshalle, schauten nach den vielen alten Zeugen aus und sahen selbstverständlich auch in das noble Restaurant hinein. Hier verfilzen sich Vergangenheit und Gegenwart.
 
Die jungen Menschen feiern das Abgegriffene und Ausrangierte und auch den gebrauchten, grauen Stein. Ich sehe darin einen beeindruckenden Respekt unseren Vorfahren gegenüber. Auch ich bewundere immer noch die Baukunst von einst, die als vorindustrielles Handwerk entstanden ist. Jedes Produkt war ein unverwechselbares Original.
Wenig wertvolle Originale haben wir an unserem einstigen Wohnort „Am Wasser“ in Zürich-Höngg vorgefunden. Störend sind speziell die überdimensionierten Tankstellen. Da stand Vreni einfach da und schaute. Und mir war es, als ob sich eine Computermaus über diesen Ort bewegte und uns allerlei Stichworte aufscheinen liess. Da hatten wir als junge Mütter viel erlebt. Schon längst verstorbene Menschen standen wieder auf, traten für ein paar Minuten in unser Leben, holten gute und andere Erinnerungen hervor. Und wir versuchten, das Milchgeschäft von Hubers, die Metzgerei Baumann, den Salon Caroline und auf der anderen Strassenseite die Schuhmacherwerkstatt von Turrins an ihre damaligen Orte zu platzieren.
 
Dann entführte ich Vreni noch nach Zürich-Altstetten in mein neues Zuhause. Diese Gegend war ihr völlig fremd. Sie muss ob all dem Geschauten etwas orientierungslos geworden sein. Als ich sie dann zum Farbhof begleitete und sie den Zweier (Tram Nr. 2) erspähte, leuchtete ihr Gesicht. Diese Linie kannte sie. Ihr Heimweg war gesichert. Ab Zürich-Stadelhofen konnte sie mit der Forchbahn heimfahren.