Manchmal möchte ich wissen, wie viele Hände eine eben erhaltene Sendung weitergegeben haben.
Das wattierte Couvert aus Paris sollte seine Geschichte erzählen
können. Es ist zerknittert, aber nicht beschädigt. Seine Rückseite arg
verschmutzt, vermutlich in den Schneematsch gefallen. Seine Dekoration,
die Briefmarken aus der Serie „Bonnes Fêtes“, aber farbenfroh.
Abgestempelt in Paris-La-Vilette. Der blaue Prioritaire-Kleber beteiligt
an der speditiven Reise. In nur 4 Tagen kam die Sendung bei uns an. Ein
Strichcode, grün umrahmt und mit Vermerk „abgabefrei“ versehen,
wird mitgeholfen haben. Wichtig auch der in der Mitte angebrachte
Strichcode aus Zürich-Mülligen, dem Ankunftsort am Stadtrand von Zürich.
Rot gedruckt heisst es da „International“ und Post Pac Priority.
Alles Worte, Bezeichnungen. Doch welche Drücke musste der Umschlag
aushalten? Zuerst einmal die Last weiterer Sendungen im Briefkasten im
17. Arrondissement, wo meine Enkelkinder wohnen. Hatte er kalt, und ist
es ihm vielleicht übel geworden, als die Postsäcke in rasender Fahrt
nach La Villette gebracht wurden? Und erst beim Ausladen und Ausschütten
auf die Fliessbänder, wie fühlte sich das an? Gab es auch freundliche
Hände, die einzelne Sendungen aufhoben, wenn sie herunterfielen und
ihnen den Weg zum Ziel sicherten?
Lebten meine Grosseltern noch, sie würden staunen, wie schnell und
effizient uns die internationale Post heute bedient. Damals war es wie
ein Wunder, wenn Nachrichten von ausgewanderten Söhnen oder Töchtern auf
den Weihnachtsabend in der Heimat eintrafen. Es gab da viele
Geschichten, die dieses Thema bearbeiteten. Ich weiss nicht, ob sie
reines Wunschdenken waren.
Dem Umschlag habe ich ein festlich verpacktes Geschenk entnommen
und für Weihnachten zur Seite gelegt. Gelesen habe ich die Glückwünsche
von den Kindern. Die zweijährige Nora schenkte uns energiegeladene Filzstiftschwünge und Mena
gestaltete eine Karte. Auf ein feines Baumwollflies platzierte sie
kleinste Blätter und feinste Gräser und fixierte das Arrangement mit
einer transparenten Folie auf einer roten Karte. Was sie vielleicht gar
nicht bemerkte: Unter der durchsichtigen Haut befindet sich auch ein
kleines, gelocktes Haar. Dieses erinnert mich an den alten Brauch,
Schmuckstücke aus Haar anzufertigen. Mussten die Mütter früherer
Jahrhunderte ihre Kinder früh ziehen lassen, wünschten sie, dass etwas
Lebendiges von ihnen zurückbliebe. In der Familie von Primo habe ich ein aus Haaren hergestelltes Armband gesehen, das die in Gold gefasste Foto einer verstorbenen Tochter umfing.
Heute berühren wir mehrheitlich nur noch eine Tastatur, um mit
unseren Kindern, Enkeln und Freunden, die weit ab von uns im Ausland
leben, verbunden zu bleiben. Der Internetanschluss ist zur
Selbstverständlichkeit geworden. Ihm verdanken wir den schnellen
Transport von Worten, Bildern und kleinen Filmen. Wir sind einander
nahe, ohne aber die persönliche Ausstrahlung zu spüren und ohne
Spannungen ertragen zu müssen.
Der Computer ist überall. Auch schon in der Liste des
Existenzminimums? Was machen eigentlich Familien, die sich keinen
Computer leisten können? Es ist Primo und mir bis jetzt noch gelungen,
ohne Fernsehen zu leben. Den Computer abzulehnen, wäre weit schwieriger.
Wir können heute gar nicht mehr bescheiden leben. Die Zwänge sind
gross. Hat sich eine technische Errungenschaft durchgesetzt, will sie
benützt werden.
Ich selber habe mich unter einem gewissen Zwang für den Computer
entschieden und bereue es nicht. Und doch stört es mich, wenn ich
erkenne, dass wir im Grunde keine freien Menschen sind. Wir reden es uns
nur ein. Der Zeitgeist mischt immer mit.
Aber ganz hat er uns noch nicht unter Kontrolle. Sonst würde mir
der Postbote nicht täglich ein paar handschriftliche Weihnachtsgrüsse
bringen.
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