Freitag, 27. November 2009

Heute gab mir der Herbst 2009 seine Abschiedsvorstellung

Carpe diem. Diese lateinische Redewendung, deutsch: „Nütze den Tag“, bewegte sich am Morgen des 23.11.2009 auf meinem Bildschirmschoner, als der Computer eine Weile ruhte. Die Botschaft kam an, bewegte mich. Ich war angesprochen und überlegte mir, wie ich sie an jenem Tag umsetzen könnte.
 
Wie nütze ich diesen neuen Tag? Bis anhin verstand ich diesen Rat immer dahingehend, dass die anstehende Aufgabe ohne Trödeln angegangen werden soll. Gründlich, zuverlässig. Die Lebenszeit nicht verschwenden. Zum ersten Mal kam ich vor einigen Jahrzehnten im Tessin mit diesem Text in Berührung. Ein befreundeter Architekt hatte uns zu sich eingeladen. Er baute ein Rustico zu einem behaglichen Wohnhaus um und wollte seine Freude an diesem Ort und seiner Arbeit mit uns teilen. Er holte uns an der Postautostation ab und führte uns zu seinem Haus. Bevor wir eintreten durften, blieb er stehen und machte auf die Tafel neben der Haustür aufmerksam. „Carpe diem“ lasen wir. Das war sein Programm zur Auferstehung dieses alten Steinhauses, einer Art Ruine. Und er folgte ihm und hatte auch Erfolg. Ich sah, wie fleissig und gründlich er arbeitete. Jede Woche vertauschte er die Schreibtisch- mit der körperlichen Arbeit. Er bestätigte damals, dass ich das Wort recht erfasst hatte.
 
Aber heute Morgen war es anders. Beim Frühstück war es noch Nacht. Während wir die Zeitung lasen, wich das Dunkel langsam. Ich öffnete das Fenster, schnupperte die Luft und sah einen freundlichen Himmel, hellblau, aber mit weichen Wolkenfetzen überzogen. Von den Bäumen strahlten mich noch bräunliche Blätter an. Viele waren schon abgefallen. Ein kühler Wind rüttelte an den Ästen und schüttelte verbliebene Blätter und noch viele Samenflügel ab. Diesen natürlichen Propellern zuzuschauen, macht mir immer wieder Spass. Noch ist es mir aber nicht gelungen, sie zu fotografieren. Sie sind schneller als ich und mein Apparat.
 
Plötzlich wusste ich, wie ich die nächste Stunde dieses Tages sinnvoll nützen könnte: Nochmals nach dem Herbst ausschauen, bevor er sich endgültig verabschiedet. Also: Windjacke anziehen und auslaufen. Meine Zellen mit Licht füllen. Den Herbst nochmals einfangen und die Bilder als einen immateriellen Wert als Winterproviant in mir einlagern.
 
Im Schulhaus Loogarten war gerade Pause. Die Kinder tummelten sich draussen. Sie lachten und schrien. Sie verströmten Energie. So auch der Wind, der nebenan die Hängebirke mit ihren langen Haaren übermütig schüttelte. Es beflügelten mich beide. Kinder und Wind erfassten mich mit ihrem Temperament.
 
Auf dem Römerhügel hatte der Wind sein Werk schon getan. Die beiden Linden sind jetzt entlaubt, zeigen ihre wohlgeformte Statur. Jetzt ist gut auszumachen, dass sie nicht derselben Familie angehören. Ein schönes Paar. Vielleicht Mann und Frau.
 

Auf dem weiteren Weg knipste ich Bilder von der Berberitze. Hier dominierte Rot und Grün auf himmelblauem Hintergrund. Farben sprühten auch die japanischen Zierkirschenbäumchen vor der blauen Schulhauswand.
 
Auf Schlierenberg war der Wind so stark, dass er mich hindern wollte, voranzukommen. Es gefällt mir, wenn ich mich gegen ihn stemmen muss. Vielleicht gefällt es ihm auch, uns anzufahren und Staub aufzuwirbeln. Hier scheuchte er die Blätter auf. Einige schwebten eine Weile und fielen dann hin. Andere wurden zu Rädern, obwohl sie nicht rund gewachsen sind. Sie folgen den ihnen innewohnenden Gesetzen, und diese haben mit mir persönlich nichts zu tun. Und doch lasse ich mich ganz gerne auf ihre scheinbaren Spiele ein.
 
Hier oben schien die Sonne und warf ihr Licht auf ein grünes Feld, auf eine Wintersaat. Obwohl diese weder verregnet war, noch Tau trug, fingen die Sprösslinge das Licht als goldene Flecken auf. Am Waldrand grüssten die Lärchen mit fahlem Gelb, sehr geheimnisvoll.
 
Auf dem Heimweg schien mir die Sonne ins Gesicht. Es war schwierig, die Alpen zu fotografieren. Weisse Wolken deckten Teile des Alpenkranzes ab. Dieses Gegenlicht verzauberte noch einige Büsche und Bäume, an denen nur noch wenige Blätter hingen.
 
Mit jedem Jahr betrachte ich die Farben der Natur mit offeneren Augen. Jede Blume ist noch schöner als ich sie schon gekannt habe. Das muss eine Alterserscheinung sein. Und mit denselben Augen will ich auch durch den Winter gehen.

Mittwoch, 11. November 2009

Nochmals Glück gefunden, auch wenn es Lebensherbst ist

Die Geschichte ist wahr. Namen und Orte sind aber verändert.
 
Es fiel mir schon auf dem Friedhof auf, dass Gregory religiös-philosophische Gedanken äusserte, als wir vor dem Grab seiner geliebten Henriette standen. Ungewohnt für mich. In meiner Erinnerung war er der nüchterne und kritische Mann, der immer darauf achtete, dass Gedanken realitätsbezogen blieben und die Wortwahl präzise war. Nur keine Höhenflüge, nur keine Phantasien. Und religiöse Themen wies er stets von sich. Hatte ihm der frühe Tod seiner Frau nun neue Gedankenräume erschlossen?
 
5 Jahre war er nun Witwer, bereiste in dieser Zeit viele Länder, forschte an einem Thema, schrieb ein Buch. Briefe von ihm berichteten von seinen Reisen. Die Trauer wurde nie erwähnt. Eines Tages wurde vereinbart, sich wieder einmal zu treffen. Und wie früher führte uns er uns auch diesmal an einen Ort, den wir alleine kaum gefunden hätten. Auch als Henriette noch lebte, festigten unsere Zusammenkünfte nicht nur unsere Freundschaft. Wir zeigten einander immer auch Orte mit besonderem Charakter aus dem eigenen Lebensumfeld. So vermittelten wir einander Geographie und die Mentalität des jeweils anderen Kantons.
 
Diesmal führte der Weg zu einem beliebten Gasthaus über eine Lichtung und einem Waldrand entlang. Von weither leuchtete ein Kirschbaum in rotem Herbstlaub. Da sprach ich aus, was ich in jenem Augenblick gerade dachte: Hoffentlich sind auch wir erst in jener Herbstphase unseres Lebens, in der unsere Farben noch leuchten. Gregory war augenblicklich elektrisiert. Er fühle sich sogar 30 Jahre jünger. Über die Gründe würde er uns gerne erzählen. – Wenn er uns damit nicht langweile, fügte er dann noch hinzu.
 
Während des Essens erfuhren wir seine spannende Geschichte: Wie er eines Tages alle seine Bedenken wegschob und sich plötzlich getraute, sich im Internet auszustellen und nach einer Partnerin zu suchen. Und wie er sofort Antwort bekam. In einem anderen Land ertrugen nämlich die erwachsenen Söhne und Töchter die Tränen ihrer Mutter nicht mehr. 2 Jahre täglich um den verstorbenen Mann zu weinen, seien genug. Sie meldeten die Mutter auf derselben Partnerschafts-Plattform an, wie Gregory es auch getan hatte.
 
Die Profile der beiden Persönlichkeiten zogen sich an. Der Computer erfasste und verband sie. Es machte klick. Grosse Überraschung, als er mitteilte, dass das Glücksspiel nun ernst geworden sei.
 
Gregory verhehlte nicht, dass er anfänglich skeptisch war. Die Berufsbezeichnung der ermittelten Frau irritierte ihn. Das lasse sich leicht schreiben, sinnierte er. Ob es aber wahr sei? Das Internet gab ihm Antwort. Ja. Mehr noch als da geschrieben stand. Die Frau entpuppte sich als eine bekannte schreibende und malende Künstlerin.
 
Nun ist Gregory ein Vielflieger geworden, reist oft zu ihr in die südliche Stadt, wo sie arbeitet und lehrt. Und sie kommt, so oft es möglich ist, zu ihm in sein grosses Haus in die Schweiz. Abschied und Wiedersehen gehören nun zum neuen Leben und beflügeln beide. Gregory schätzt das kulturelle Umfeld dieser Frau, den Kontakt zu Kunstschaffenden. Sie öffnen ihm neue Sichtweisen. Das Leben hat jetzt mehr Fülle, mehr spielerischer Raum. Die vordem zu ihm gehörende Strenge ist aufgebrochen. Und an diesem Sonntag sah ich um diesen Mann ein mildes Licht. Sein Glück.
 
Dann trat der Kellner an unseren Tisch und fragte nach den Wünschen für den Nachtisch. Es war schwierig für uns, aus den vielen Angeboten spontan zu wählen. Gregory, der für die Hauptspeise noch darauf geachtet hatte, dass wir uns für ein gemeinsames Menu entschieden, schlug jetzt vor, 3 verschiedene Desserts zu wählen. Nach jedem Bissen könnten wir den Teller im Uhrzeigersinn weiterreichen, wir befänden uns schliesslich im Uhrmacherkanton. Ob das hier üblich sei? Nein. Diese Idee sei ihm jetzt gerade zugefallen.
 
Die Teller rotierten. Niemand musste befürchten, eine falsche Wahl getroffen zu haben. Die Köstlichkeiten standen allen zur Verfügung. Es war ein beinahe kindliches Spiel, das uns fröhlich stimmte und unsere Freundschaft erneut festigte.
 
Und was mich am meisten freute: Gregory ist glücklich und selbst ein Kreativer geworden.