Sonntag, 27. September 2009

Die Suche nach dem Schlüsselbund lehrte mich etwas

Als ich am späten Abend die Wohnungstür abschliessen wollte, fehlten die Schlüssel. Wo und wann hatte ich sie das letzte Mal gebraucht? Vor ungefähr 3 Stunden, als ich mein Velo aus dem Rechen beim Bahnhof Altstetten auslöste.
 
Sicherheitshalber durchforstete ich meine Umhängetasche mit ihren diversen Fächern. Kontrolle in den Jeans, Kontrolle in der Jacke. Der Schlüsselbund war unauffindbar. Ich schaute zurück. Wie bin ich ohne Schlüssel ins Haus gekommen, wie in die Wohnung? Die Haustür stand offen. Im Veloraum traf ich auf Primos Rad. Er war zuerst heimgekommen. Ich konnte nur eintreten.
 
Schlussfolgerung: Ich muss zum Bahnhof hinunter pedalen und dort suchen.
 
Ich nahm eine Taschenlampe mit. Es war schon dunkel geworden, eigentlich Zeit zum Schlafengehen. Ich meinte, ich hätte schon viel wertvolle Zeit verloren. Wenn mir der Schlüsselbund entglitten sei, hätte ihn in der Zwischenzeit wohl jemand aufgelesen.
 
Ich wusste, dass ich mein Rad ungefähr in der Mitte der Anlage festgezurrt hatte. In der Zwischenzeit hatte sich die Reihe aber gelichtet. Ich konnte meinen Platz nicht mehr mit Sicherheit ausmachen. Also starrte ich auf den Boden, beleuchtete ihn, schritt den ganzen Veloparkplatz ab. Ich wollte mich durch nichts ablenken lassen, wollte keinen Menschen sehen, obwohl ich Stimmen vernahm. Es unterhielten sich Männer, vielleicht wartende Taxi-Chauffeure. Sonst war es ruhig. Etwas diffus, wie in einem Traum.
 
Erfolglos meine Suche. Ich kehrte um und fuhr nach Hause. Und dort lagen dann die Schlüssel, zusammen mit der Briefpost von heute, auf meinem Arbeitstisch.
 
Bis dahin wäre meine Geschichte nicht besonders erwähnenswert. Solche Erlebnisse sind allgegenwärtig. Ich berichte aber weiter, weil mir plötzlich aufgegangen ist, wie ich des Rätsels Lösung fand.
 
Auf der Heimfahrt gab ich mich geschlagen, liess alle Gedanken los, nahm mir nur vor, morgen mit dem Hausvermieter zu sprechen. Und wie ich da so gleichmässig in die Pedalen trat, die Steigung locker meisterte, fühlte ich mich beruhigt. Die Suche war abgeschlossen. Erfolglos aus meiner Sicht, nicht aber für mein Gedächtnis. Endlich gelang es ihm, meine nervösen Gedankenstränge abzustreifen und mir zu melden, ich sei von falscher Annahme ausgegangen. Um ins Haus und in die Wohnung zu gelangen, hätte ich heute keine Schlüssel gebraucht, das sei richtig. Aber ich hätte doch den Briefkasten noch geöffnet und dafür den Schlüsselbund ausgepackt. Hier müsse ich ansetzen und weitersuchen. Und so wurde ich dann auch fündig, wie oben beschrieben.
 
Diesen erleuchteten Augenblick möchte ich als etwas Kostbares behalten. Also in ähnlichen Situationen Ruhe bewahren. Erlebtes soll sich setzen können. Erst danach kann es wieder abgerufen werden. Sich von fixen Ideen lösen und warten, was aus dem Gedächtnis auftaucht. Gedanken kommen und ziehen lassen. Nicht daran haften bleiben.
 
„Nur die Ruhe kann es bringen“, sagt ein schweizerisches Sprichwort. Dieses ist mir gerade jetzt eingefallen, nachdem ich noch auf ein gutes Schlusswort wartete.

Freitag, 4. September 2009

Das Reka-Freibad Albanago: Ideal für alle Generationen

Nach der Heimkehr, wieder in Paris, haben Mutter und Töchter über die Ferien nachgedacht. „Was war das Schönste?" wollte die Mutter wissen. Mena habe viele glückliche Momente aufgezählt. Das „absolut top super liebste Erlebnis“ sei aber das gemeinsame Schwimmen im Freibad gewesen, als sich die ganze Familie, also 3 Generationen, im Wasser tummelte und vor allem auch, weil ihre geliebte Khale (Tante) auch dabei war.
 
Nachdem meine persönliche Schwimmunterricht-Geschichte im zweiten Albonago-Blog bereits erzählt worden ist, knüpfe ich nun dort an, wo ich mich beklagte, man hätte früher nichts getan, um den Schülern das Vertrauen ins Wasser zu vermitteln.
In Albonago (Tessin) organisierte der Schwiegersohn für seine 7-jährige Mena Taucherbrille und Schnorchel und zeigte ihr, wie sie unter Wasser vorwärts kommen kann. Selber ein lustvoller Schwimmer, gelang ihm auf Anhieb, die Angst vor dem Absinken zu vertreiben und das Wasser als Spielplatz erfahrbar zu machen. Ein Glücksfall. Sie begriff sofort, schwamm nun unermüdlich Längen um Längen. Eins mit sich selber und eins mit dem Wasser. Wir applaudierten. Sie hörte kaum hin, wusste nun selber, was sie vollbracht hatte. Ich freute mich für sie. Solche Momente stärken das Selbstbewusstsein. Schön, dass die Familie den Rahmen bilden durfte, in dem sie aufgehoben war.
 
Noras Lieblingsplatz war anfänglich das Bassin für die Kleinkinder. Da sprang sie hinein, als ob das ein Trampolin sei. Ebenfalls unersättlich. Voller Lebensfreude. Später nahm ich sie auf die Treppenstufen ins grosse Bassin mit, die nach und nach ins tiefe Wasser führen. Langsam stieg sie an meiner Hand von Absatz zu Absatz, bis ihr das Wasser am Hals stand. „Tüüf, tüüf!“ (tief, tief!) rief sie glückselig, während Mena und Bappa um die Wette schwammen. Bappa spielte Krokodil, tauchte unter, schwamm vor oder hinter der Tochter her, zielte zu Nora, rief, das Krokodil komme und löste erschrocken-belustigte Schreie aus.
 
Später wurde Nora von Mama im grossen Bassin spazieren geführt. Sie hing im aufgeblasenen Schwimmring und schaute, wie Mena und Bappa unter Wasser verschwanden und wieder auftauchten. Zur gleichen Zeit begann jemand von der Familie, den Wasserball ins Spiel zu bringen. Das elektrisierte sie. Sie wollte ihn fangen, ihm nachspringen und war doch im Wasser. Intuitiv begannen ihre Füsse zu paddeln. Mama spürte, was da vorging und liess die Kleine, die jetzt komfortabel in der aufgeblasenen Schwimmhilfe lag, sachte los, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Und plötzlich merkten wir, dass sie „erlickt“ (entdeckt, erfasst) hatte, wie man schwimmt.
 
Als wir Ende Juli Noras Geburtstag feierten, gab es unter den Geschenken einen ungewöhnlichen Spielball mit einem Gruseleffekt, der vom schlabbernden Material (eine Art Slime, vermutlich ein Silikonprodukt) ausging. Der rosafarbene Ball war ein Kopf, Haare flatterten, wenn man ihn bewegte, und ein freundliches Gesicht machte ihn sympathisch. Nora war zuerst erschrocken. So etwas hatte sie noch nie gesehen, erkannte aber sofort, dass hier etwas Lustiges aufgetaucht war. Sie sagte mehrmals hintereinander vor sich her: „Pas peur! pas peur!“ (Keine Angst, keine Angst!).
 
Faszinierend zu erleben, wie sie die Angst erkannte und ihr Paroli bot. Dieser Schlabberball war für die 3-Jährige hochinteressant. Sie wollte ihn haben, darum wies sie die Angst zurück.
 
Ähnlich geschah es im Wasser. Sie vergass ihre Unsicherheit, als sich das Interesse am grossen Wasserball meldete. Auch ihn wollte sie haben, berühren, fortwerfen, wie sie es gesehen hatte. Und vergass dabei die vorherige Unsicherheit.
 
Diese Beobachtung freute vielleicht mich am meisten. Es war ein Entwicklungsschritt, den ich in Zeitlupe verfolgen durfte. Sich vergessen und vorher noch Angst zurückweisen, scheint ein Erfolgsrezept zu sein. Hätte ich diese Einsicht schon vor rund 60 Jahren gehabt, wäre ich vielleicht eine gute Schwimmerin geworden.
 
Angaben zum Schwimmbad in Albanago: Es ist 9 x 22 m gross und steht für alle Reka-Gäste von Mai bis Oktober täglich von 8 Uhr bis 22 offen.
 
Erwachsene können an der tiefsten Stelle – das Wasser am Hals – noch stehen. Ideal für Jung und Alt. Wir waren nicht die einzigen Grosseltern.
 
Wir schätzten dieses Bad auch, weil es sich innerhalb des Reka-Dorfs befindet, also keinen weiten Anmarschweg verlangt. Viele Familien erfrischten sich nach Ausflügen am Abend noch mit einem wohltemperierten Bad. Auch wir.
 
In diesem Reka-Dorf stehen auch Minigolf/Tischtennis/Streetball/Tischfussball und eine Bocciabahn zur Verfügung.

Und es ist ein Ort mit südlichem Lebensgefühl. In vielen Farben blühte gerade der Oleander. Zur Silhouette dieses Feriendorfes gehören Palmen, Zypressen, Pinien und Feigenbäume. Hier ist der Himmel offen und weit zu erfahren. Der Blick über Lugano. Abgehoben waren wir, wie das zu Ferien gehört.
Reka Albonago ist übrigens vom Schweizer Tourismusverband mit dem Gütesiegel ausgezeichnet worden. Dieses wird ausschliesslich an Betriebe vergeben, die besonders hohe Qualitätsanforderungen erfüllen.



Und zum Schluss verrate ich noch, was Nora antwortete, als auch sie nach dem schönsten Ferienerlebnis gefragt wurde. Sie habe keinen Moment gezögert und sofort gerufen: „Spaghetti!“
 
Ja, im Gasthaus „Miralago“ in Gandria fütterte sie der Grossvater mit Spaghetti con vongole.
 
Nora ist eine Geniesserin. Ihr Denken kreist in erster Linie ums Essen. Es gibt immer wieder lustige Episoden zu diesem Thema mit ihr.

Reka-Ferien Albonago: Freibad weckt alte Erinnerungen

Mena, die siebenjährige Enkelin vertraute mir schon am ersten Ferientag an, dass sie immer noch nicht schwimmen könne. Sie sagte es mit einem gewissen Bedauern und doch bewunderte ich sie. Es war eine Tatsache und sie verschleierte sie nicht. In Paris wird Schwimmen auch unterrichtet, jedoch nur im Hallenbad und so hofften wir zusammen, dass ihr hier in Albonago spielerische Fortschritte gelingen werden. Das grosse Freibad lud geradezu dazu ein.
 
Sagte nicht Mao Tse-tung, jeder Mensch müsse schwimmen können? Ich fühlte mich immer persönlich angesprochen, wenn ich diese Forderung las. Meine Schwimmkünste waren von jeher mager und haben sich bis heute nicht wesentlich entwickelt.
 
Dazu gibt es eine alte Geschichte, die ich Mena erzählen musste. 1950–1951 bekam ich als Primarschülerin in Zürich auch Schwimmunterricht. Dieser fand für die Knaben im See und für die Mädchen in der Limmat statt. Schwimmunterricht im Hallenbad kannten wir noch nicht. Wenn ich mich recht erinnere, war dieser Unterricht bei Temperaturen ab etwa 18 Grad abzuhalten. Die Buben unserer Klasse wurden in die hölzerne Badeanstalt am Bürkliplatz geführt, wir Mädchen ins nahe gelegene Frauenbad am Stadthausquai.
 
Zuerst gab es für uns nur Trockenübungen. Wir mussten auf einen Faltschemel liegen und die Schwimmbewegungen einüben. Später wurden Aluminiumteller mit Löchern auf den Boden des Bades geworfen. Diese mussten wir heraufholen. Unmöglich für mich und meine Augen. Ich kann mich nicht erinnern, dass von unserer strengen Schwimmlehrerin etwas getan wurde, was das Vertrauen zum Wasser hätte fördern können. Vieles wurde beinahe militärisch vermittelt - zack-zack. Ja, es gab Kinder, die mit den Eltern öfters baden gingen und denen hier alles gelang, was vorgeschrieben wurde. Das war bei mir nicht der Fall. Nach und nach gelang es aber auch mir, die Länge des Bades zu schwimmen. Diese auch heute noch schöne Badeanstalt aus Holz gab mir eine gewisse Sicherheit. Ich konnte im Notfall an den Rand steuern und mich dort festhalten. Im Sommer musste dann eine Prüfung abgelegt werden. War sie erfolgreich, bekamen wir das "S", ein Stoffabzeichen, das an die Badehose genäht wurde.
 
Vor dieser Prüfung graute mir. Wir wussten es nicht im Voraus, wann sie stattfinden würde. Das hing vom Wetter und den Temperaturen ab. Eines Tages war es soweit. Wir wurden zur Bubenbadeanstalt am Bürkliplatz beordert. Ich kann mich gut erinnern, wie wir Mädchen dorthin liefen oder trotteten und dort zum niederen Sprungbrett geführt wurden. In Einerreihe traten wir an und nach kurzem Zögern sprang auch ich ins Wasser. Ich kann das Gefühl, das mich damals begleitete, gut hervorholen. Es war keine Angst dabei und das Auftauchen dann ganz angenehm, eine positive Überraschung.
 
Ich schwamm, wie alle anderen, eine leichte Schleife Richtung Quaibrücke, dorthin wo das Seewasser zur Limmat wird. Aber genau unter dieser Brücke verliess mich das Vertrauen, die Frauenbadeanstalt je zu erreichen. Ich schwamm zum Brückenkopf, klammerte mich an ihn und holte tief Atem. Wenn ich heute mit dem Limmatschiff hier durchfahre, frage ich mich jedes Mal, wo um Himmels Willen ich mich festkrallen konnte. Weit draussen im See sah ich einen Fischer in seinem kleinen Boot. Auf ihn vertraute ich. Er wird mich sehen und retten, das war meine Zuversicht.
 
Inzwischen waren die Mädchen meiner Klasse zum Frauenbad zurückgekommen. Die Schwimmlehrerin begleitete die ganze Schar in einem Weidling, hatte aber nicht bemerkt, dass ich zurückblieb. Es dauerte eine für mich lange Weile, bis sie atemlos angerudert kam, mich fand, mich ins Boot zog und zurückbrachte. Es ging nicht ohne wettern und schimpfen. Das war mir egal. Ich konnte es sogar verstehen. Sie hatte sicher Angst, ich sei ertrunken.
 
Die Mitschülerinnen wurden von unserem Lehrer abgeholt. Man fuhr gemeinsam zum Limmatplatz und kehrte ins Kornhaus-Schulhaus zurück. Ich musste zur Strafe in der Badi bleiben, einfach solange, bis es mir gelang, die vorgeschriebene Strecke dieses Bades in einem Zug zu schwimmen. Es gelang mir bald, denn hier war ich heimisch. Dann durfte ich ebenfalls in Schulhaus zurückfahren. Hat mir da jemand ein Tramabonnement gegeben? Ich weiss es nicht mehr. Oder hat mich jemand begleitet? Wenn ich zurückschaue, bin ich ganz allein. Als ich dann ins Schulzimmer trat, waren alle an der Arbeit. Es gab kein Aufsehen. Ich wurde weder ausgelacht, noch beschimpft, nur ruhig angewiesen, meinen Platz wieder einzunehmen.
 
Zu Hause getraute ich mich nicht, von diesem einschneidenden Erlebnis zu berichten. Wer scheitert  schon gern? Wir mussten immer alles rasch begreifen und anwenden können, waren oft überfordert, im Stress, auch wenn wir dieses Wort noch gar nicht kannten. Anfänglich plagten mich Bauchschmerzen. Ich konnte den Darm ein paar Tage nicht mehr entleeren. Aber irgendwann renkte sich alles wieder ein. Ich schwieg darüber, schloss das Erlebte als Geheimnis in mich ein.
 
Das ist meine Geschichte. Die hölzerne Männer- und Knabenbadeanstalt am Bürkliplatz gibt es schon lange nicht mehr. Eines Tages sackte sie ab. Die metallenen Schwimmtanks waren durchgerostet und trugen das Gebäude nicht mehr. Der ganze Komplex wurde entsorgt. Und ganz allgemein freute man sich dann an der freien Sicht auf den See.
 
Es war ganz still, als ich dieses Erlebnis zu Ende geschildert hatte. Das Mitgefühl von Mena, aber auch von unseren Töchtern Felicitas und Letizia war spürbar und wohltuend.
 
Wie sich Mena und Nora im Freibad entfalteten, erzähle ich in einem nachfolgenden Blog.

Donnerstag, 3. September 2009

Tonen: Unverhofft zeigte sich der Geist von Albonago TI

Er zeigte sich mir in einer Figur aus Lehm, die ich spielerisch geschaffen hatte. Im Reka-Dorf Albonago im Tessin, wo wir unsere diesjährigen Familienferien verbrachten, wurde nebst den Rekalino-Programmen für Kinder auch eines für Erwachsene angeboten. „Tonen im Freien“. Tonen heisst mit Ton (Lehm) arbeiten.
 
Die Sozialpädagogin und Maltherapeutin Jasmine Them Schmid leitete unsere Gruppe (10 Personen) an, eine Kugel zu formen. Sie zeigte den handwerklich richtigen Weg. Aufbauend, wie sich alles in der Natur entwickle. Schichten um Schichten wurden so zusammengefügt und zusammengeknetet, dass nach und nach die Kugelform entstehen konnte. Wichtig sei diese Bearbeitung, damit die Luft aus dem Material verdrängt werde. So wird Brüchigkeit verhindert. Auf keinen Fall soll ein Stück Lehm nur vom grossen Klumpen abgetrennt und sofort zu einer Kugel gerollt werden. Zu einfach. Der Lehm brauche unsere Hände, unsere Berührung, das Kneten, Formen, Spielen.
 
Auf halbem Weg zur Kugel hatten wir unser Werkstück in die rechte Hand und eine zweite von der Nachbarperson in die andere entgegenzunehmen, um sie zu fühlen und zu vergleichen. Gewicht und Form in der Hand zu erspüren, zu vergleichen. Erstaunlich. Wir begannen alle mit einem ungefähr gleich grossen Stück Ton. Die Gewichte fühlten sich dann aber ganz verschieden an. Es gab Kugeln, die leicht geworden waren, andere empfand ich schwer und dumpf.
 
Ich selbst war da erst auf dem Weg zur Kugelform, liess meine Hände ohne Befehle aus dem Kopf etwas machen. Es entstand ein Vielflächner, weil ich die Tonmasse gerne auf den Tisch klatschte. Die Kursleiterin bemerkte diese Abart und sie gefiel ihr. So blieb ich ihr einigermassen treu und wollte die Kugelform gar nicht mehr erreichen.
 
Neben mir werkte Nora in Zusammenarbeit mit dem Grossvater. Das 3-jährige Kind liebt Knetmassen über alles, kann sich damit verweilen, weil sie wandelbar sind und der Fantasie folgen können. Was da entstand, war einzig das Produkt der sinnlichen Erfahrung, der spielerischen Sprache von Händen und Fingern.
 
Trotzdem wunderte ich mich, wie Nora mitmachte und zu Beginn sogar sehr aufmerksam auf ihrem Stuhl sass und zuhörte. Für sie wurden 3 Plastikstühle übereinander geschoben. So sass sie mit den Erwachsenen auf gleicher Höhe. Nora erschien mir an diesem Abend älter, erwachsener und zu allen Spielereien, die Grossvater für sie einbaute, bereit. Sie störte niemanden. Tagsüber erlebten wir sie als Wiesel, umtriebig und gerne als Anführerin.
 
Nächster Schritt für uns alle, nachdem die Kugelform erreicht war: Spuren anbringen, Spuren zulassen. Nora und Grossvater rollten ihre Kugeln auf dem Kiesweg vor sich her. Einerseits setzten sich Kiesel fest, andererseits verpassten die Steine Grübchen, Löchlein, Striche usw. Ich drückte meine Masse an die grobe Hauswand mit ihren Steinquadern und rollte sie später einen Abhang hinunter. Und dann zeigte sich der Geist. Es hatten sich 2 markante Augen eingegraben, die Stirne trat hervor, eine Nase war eingezeichnet, nur der Mund fehlte. Den ritzte ich ein. Die Form eines Kopfes war ohne mein Zutun entstanden. Sie gefiel mir. Sofort erkannte ich eine alte, wissende Persönlichkeit. Ihre Gesichtshaut voller Runzeln. Alt und doch auf eine eigene Art lebendig. Der Ausdruck freundlich. So habe ich mein Werk belassen.
 
Es wurde ruhig gearbeitet. Obwohl wir kaum miteinander sprachen, fühlten wir uns verbunden und tags darauf, als wir uns im Reka-Dorf wieder begegneten, waren wir Bekannte.
 
Dieses Reka-Gelände ist ansehnlich. Auf einer Fläche von 33 000 m2 stehen 43 Ferienhäuschen und Ferienhäuser. Es befindet sich am Hang des Monte Brè, ungefähr auf halber Höhe.
 
Später konnte ich Frau Schmid nochmals treffen. Sie erzählte mir von ihren Motiven und Erfahrungen als Sozialpädagogin. In diesem Feriendorf ermöglicht sie den Kindern spielerische Konzentration, spielerisches Zusammenfinden, schöpferisch tätig zu sein. Hier gibt es keine Wertungen wie in der Schule. Alle Werke sind Originale, gehören zur Person, die sie geschaffen hat. Sie sind Ausdruck unserer Verschiedenheit.
 
Das gerade aktuelle Rekalino-Programm für die Kinder war mit dem Thema „Spuren“ überschrieben. Kinder in der Gruppe ab 6 Jahren haben sich darüber Gedanken gemacht. Welche Spuren hinterlassen Menschen, welche Tiere?
 
Abfall auf Strassen, Streifen am Himmel, Schmutz in der Luft, der Kuhfladen auf der Wiese und überall, wo wir nicht aufräumen, nicht sauber sind. Andererseits sind die kleinen Kunstwerke, die Kinder manchmal herstellen, Spuren ihrer Entwicklung, die wir erst später deuten können.
 
Wie ich verstand, wurden auch Steine spielerisch ausgelegt, um den Weg, der gegangen worden ist, später wieder zu finden. Dafür sind Ferien auch da, dass wir Zeit haben, solche Erfahrungen zu machen. Die Hast ablegen und in scheinbar unwichtigem Tun den Sinn zu finden oder sogar dem Geist von Albonago zu begegnen.
 
Frau Schmid sagte mir, sie habe 2 Wege vor sich gesehen, ihren Beruf als Sozialpädagogin auszuüben: In einem Heim, als „Feuerwehrfrau“ oder als Therapeutin, die Erfahrungen und Werte vermitteln und vorbeugen will, dass die „Feuerwehr“ gar nicht gerufen werden muss. Diesen hat sie gewählt.
 
Hinweise