Als ich am späten Abend die Wohnungstür abschliessen wollte,
fehlten die Schlüssel. Wo und wann hatte ich sie das letzte Mal
gebraucht? Vor ungefähr 3 Stunden, als ich mein Velo aus dem Rechen beim
Bahnhof Altstetten auslöste.
Sicherheitshalber durchforstete ich meine Umhängetasche mit ihren
diversen Fächern. Kontrolle in den Jeans, Kontrolle in der Jacke. Der
Schlüsselbund war unauffindbar. Ich schaute zurück. Wie bin ich ohne
Schlüssel ins Haus gekommen, wie in die Wohnung? Die Haustür stand
offen. Im Veloraum traf ich auf Primos Rad. Er war zuerst heimgekommen.
Ich konnte nur eintreten.
Schlussfolgerung: Ich muss zum Bahnhof hinunter pedalen und dort suchen.
Ich nahm eine Taschenlampe mit. Es war schon dunkel geworden,
eigentlich Zeit zum Schlafengehen. Ich meinte, ich hätte schon viel
wertvolle Zeit verloren. Wenn mir der Schlüsselbund entglitten sei,
hätte ihn in der Zwischenzeit wohl jemand aufgelesen.
Ich wusste, dass ich mein Rad ungefähr in der Mitte der Anlage
festgezurrt hatte. In der Zwischenzeit hatte sich die Reihe aber
gelichtet. Ich konnte meinen Platz nicht mehr mit Sicherheit ausmachen.
Also starrte ich auf den Boden, beleuchtete ihn, schritt den ganzen
Veloparkplatz ab. Ich wollte mich durch nichts ablenken lassen, wollte
keinen Menschen sehen, obwohl ich Stimmen vernahm. Es unterhielten sich
Männer, vielleicht wartende Taxi-Chauffeure. Sonst war es ruhig. Etwas
diffus, wie in einem Traum.
Erfolglos meine Suche. Ich kehrte um und fuhr nach Hause. Und dort
lagen dann die Schlüssel, zusammen mit der Briefpost von heute, auf
meinem Arbeitstisch.
Bis dahin wäre meine Geschichte nicht besonders erwähnenswert.
Solche Erlebnisse sind allgegenwärtig. Ich berichte aber weiter, weil
mir plötzlich aufgegangen ist, wie ich des Rätsels Lösung fand.
Auf der Heimfahrt gab ich mich geschlagen, liess alle Gedanken los,
nahm mir nur vor, morgen mit dem Hausvermieter zu sprechen. Und wie ich
da so gleichmässig in die Pedalen trat, die Steigung locker meisterte,
fühlte ich mich beruhigt. Die Suche war abgeschlossen. Erfolglos aus
meiner Sicht, nicht aber für mein Gedächtnis. Endlich gelang es ihm,
meine nervösen Gedankenstränge abzustreifen und mir zu melden, ich sei
von falscher Annahme ausgegangen. Um ins Haus und in die Wohnung zu
gelangen, hätte ich heute keine Schlüssel gebraucht, das sei richtig.
Aber ich hätte doch den Briefkasten noch geöffnet und dafür den
Schlüsselbund ausgepackt. Hier müsse ich ansetzen und weitersuchen. Und
so wurde ich dann auch fündig, wie oben beschrieben.
Diesen erleuchteten Augenblick möchte ich als etwas Kostbares
behalten. Also in ähnlichen Situationen Ruhe bewahren. Erlebtes soll
sich setzen können. Erst danach kann es wieder abgerufen werden. Sich
von fixen Ideen lösen und warten, was aus dem Gedächtnis auftaucht.
Gedanken kommen und ziehen lassen. Nicht daran haften bleiben.
„Nur die Ruhe kann es bringen“, sagt ein schweizerisches
Sprichwort. Dieses ist mir gerade jetzt eingefallen, nachdem ich noch
auf ein gutes Schlusswort wartete.