Vergangene Woche holte ich am Empfang einer grossen Unternehmung
eine Arbeit für unsere Werkstatt ab. Während ich wartete, bis sie mir
ausgehändigt wurde, schaute ich mich im gepflegten Eingangsbereich etwas
um. Es war halb 9 Uhr am Morgen. Noch bevor die Angestellten nach und
nach eintrafen, erschien ein Chef, den ich vage kannte. Er kontrollierte
diesen Ort. Ein Paket, an die Seitenwand der Theke angelehnt, störte
ihn. „Was steht hier herum?" fragte er ungeduldig. Es werde in einer Stunde abgeholt, informierte die Telefonistin.
Nur wegen der gereizten Stimme schaute ich diesen offensichtlich
pedantischen Mann näher an. Er war fein und gleichzeitig originell
gekleidet. Und doch störte etwas an ihm. Er trug ungeschnürte, hellgelbe
Turnschuhe.
Gerne hätte ich zu ihm gesagt, bevor er eine freundliche
Angestellte barsch anfahre, sollte er doch zuerst seine Schuhe binden.
Wer Perfektion fordere, sollte sie auch vorleben. Da wäre ich aber schön
in eine Falle getappt.
Tags darauf bin ich in einem Modemagazin auf einen ähnlichen
Turnschuh gestossen. Wieder ohne Schuhbändel. Die Zunge vermutlich fest
verleimt. Später klärte mich unsere Tochter Letizia darüber auf,
es handle sich um den beliebten Turnschuh aus den 1980er-Jahren, der nur
leicht verändert ein Revival erfahren habe. Und jetzt ein „Must-have“
geworden sei.
Eine Woche später schlendere ich mit Primo durch die
Altstadt. Im Oberdorf ziehen mich wieder Turnschuhe in ihren Bann. In
einem Schuhgeschäft sind sie so variantenreich und in vielen Farben
vorhanden, dass sie 2 grosse Schaufenster füllen. Später wundere ich
mich selbst, dass ich mit diesem „absoluten Schuhtrend“ in Berührung
gekommen bin. So erzähle ich meinem Ehemann, vor den Auslagen stehend,
die oben beschriebene Geschichte. Hier konnte ich ihm drei Modelle
zeigen, die ohne Schnürsenkel auskommen.
In dieser Zeit beobachteten uns 2 Männer, die vom Alter her unsere
Söhne sein könnten. Plötzlich standen sie neben uns und erkundigten
sich, was der Grund unseres Interesses sei? Der zum Schlupfschuh
gewordene Turnschuh. Keine Ahnung. Sie kannten die Neuauflage des
beliebten Turnschuhs aus den 80er-Jahren nicht. Obwohl jetzt absoluter
Schuhtrend. Als ich davon redete, war ich von dieser Mutation schon so
begeistert, dass mein Hinweis wie Reklame wirkte. Meiner Natur
entspricht eben ein Schuh, der keine besondere Zuwendung verlangt, also
schnell angezogen ist. Damit erkläre ich den Männern mein Interesse.
Sie lachten verschmitzt über sich, weil sie uns falsch eingeschätzt
hatten und nicht glauben konnten, dass Männer oder Frauen aus ihrer
Elterngeneration auch noch Interesse an Mode, Veränderungen und
Neuerungen hätten. Sie waren verblüfft, dass wir auf einen Modetrend
hinweisen konnten. (Letizia sei Dank.) Sie erwarteten, dass wir
Turnschuhe ablehnten, allem Neuen gegenüber skeptisch seien und wollten
uns belehren. Unsere Antworten machten sie eine Weile sprachlos.
Einer der Männer hat in einem Call-Center gearbeitet und stellt
offensichtlich immer noch gerne Fragen. Er wollte unser Alter wissen, ob
wir ein Paar seien und wie lange wir schon zusammen lebten. 47 Jahre.
Oh! ... Nach dieser Antwort wollte er auch noch wissen, wie man eine
gute Partnerschaft gestalte. Ihm sei es noch nicht gelungen. Dann wurde
auch noch gefragt, ob wir einen Computer hätten, und als ich auf unsere
Homepage www.lorenzetti.ch hinwies, war die Verblüffung komplett.
Vermutlich standen wir mit diesen Männern eine halbe Stunde
zusammen und fühlten uns danach fröhlicher als vordem, auf eine Art
erfrischt. Ihnen mag es ähnlich ergangen sein. Wir gaben einander unsere
www-Adressen und werden vielleicht wieder einmal voneinander hören.
Uns beiden ist gemeinsam, dass wir eine Situation zuerst komplett
falsch einschätzten und die Korrektur lachend annehmen konnten.