Mittwoch, 29. Juli 2009

Manchmal werden Altstadt-Spaziergänge zu Begegnungen

Vergangene Woche holte ich am Empfang einer grossen Unternehmung eine Arbeit für unsere Werkstatt ab. Während ich wartete, bis sie mir ausgehändigt wurde, schaute ich mich im gepflegten Eingangsbereich etwas um. Es war halb 9 Uhr am Morgen. Noch bevor die Angestellten nach und nach eintrafen, erschien ein Chef, den ich vage kannte. Er kontrollierte diesen Ort. Ein Paket, an die Seitenwand der Theke angelehnt, störte ihn. „Was steht hier herum?" fragte er ungeduldig. Es werde in einer Stunde abgeholt, informierte die Telefonistin.
 
Nur wegen der gereizten Stimme schaute ich diesen offensichtlich pedantischen Mann näher an. Er war fein und gleichzeitig originell gekleidet. Und doch störte etwas an ihm. Er trug ungeschnürte, hellgelbe Turnschuhe.
 
Gerne hätte ich zu ihm gesagt, bevor er eine freundliche Angestellte barsch anfahre, sollte er doch zuerst seine Schuhe binden. Wer Perfektion fordere, sollte sie auch vorleben. Da wäre ich aber schön in eine Falle getappt.
 
Tags darauf bin ich in einem Modemagazin auf einen ähnlichen Turnschuh gestossen. Wieder ohne Schuhbändel. Die Zunge vermutlich fest verleimt. Später klärte mich unsere Tochter Letizia darüber auf, es handle sich um den beliebten Turnschuh aus den 1980er-Jahren, der nur leicht verändert ein Revival erfahren habe. Und jetzt ein „Must-have“ geworden sei.
 
Eine Woche später schlendere ich mit Primo durch die Altstadt. Im Oberdorf ziehen mich wieder Turnschuhe in ihren Bann. In einem Schuhgeschäft sind sie so variantenreich und in vielen Farben vorhanden, dass sie 2 grosse Schaufenster füllen. Später wundere ich mich selbst, dass ich mit diesem „absoluten Schuhtrend“ in Berührung gekommen bin. So erzähle ich meinem Ehemann, vor den Auslagen stehend, die oben beschriebene Geschichte. Hier konnte ich ihm drei Modelle zeigen, die ohne Schnürsenkel auskommen.
 
In dieser Zeit beobachteten uns 2 Männer, die vom Alter her unsere Söhne sein könnten. Plötzlich standen sie neben uns und erkundigten sich, was der Grund unseres Interesses sei? Der zum Schlupfschuh gewordene Turnschuh. Keine Ahnung. Sie kannten die Neuauflage des beliebten Turnschuhs aus den 80er-Jahren nicht. Obwohl jetzt absoluter Schuhtrend. Als ich davon redete, war ich von dieser Mutation schon so begeistert, dass mein Hinweis wie Reklame wirkte. Meiner Natur entspricht eben ein Schuh, der keine besondere Zuwendung verlangt, also schnell angezogen ist. Damit erkläre ich den Männern mein Interesse.
 
Sie lachten verschmitzt über sich, weil sie uns falsch eingeschätzt hatten und nicht glauben konnten, dass Männer oder Frauen aus ihrer Elterngeneration auch noch Interesse an Mode, Veränderungen und Neuerungen hätten. Sie waren verblüfft, dass wir auf einen Modetrend hinweisen konnten. (Letizia sei Dank.) Sie erwarteten, dass wir Turnschuhe ablehnten, allem Neuen gegenüber skeptisch seien und wollten uns belehren. Unsere Antworten machten sie eine Weile sprachlos.
 
Einer der Männer hat in einem Call-Center gearbeitet und stellt offensichtlich immer noch gerne Fragen. Er wollte unser Alter wissen, ob wir ein Paar seien und wie lange wir schon zusammen lebten. 47 Jahre. Oh! ... Nach dieser Antwort wollte er auch noch wissen, wie man eine gute Partnerschaft gestalte. Ihm sei es noch nicht gelungen. Dann wurde auch noch gefragt, ob wir einen Computer hätten, und als ich auf unsere Homepage www.lorenzetti.ch hinwies, war die Verblüffung komplett.
 
Vermutlich standen wir mit diesen Männern eine halbe Stunde zusammen und fühlten uns danach fröhlicher als vordem, auf eine Art erfrischt. Ihnen mag es ähnlich ergangen sein. Wir gaben einander unsere www-Adressen und werden vielleicht wieder einmal voneinander hören.
 
Uns beiden ist gemeinsam, dass wir eine Situation zuerst komplett falsch einschätzten und die Korrektur lachend annehmen konnten.

Freitag, 17. Juli 2009

Ferienzeit: Die Kinder können nun ihre Träume ausleben

Schulferienzeit. Es ist still geworden in meiner Umgebung. Das Kinderlachen verstummt. Die Schaukel im Umfeld des Nachbarhauses verwaist. Die Schulhäuser geschlossen. Aus unserem Quartier mit seinem hohen Ausländeranteil werden viele Familien in ihre Heimatländer gereist sein. Hier fühlt es sich momentan wie in einem Bergdorf an.
 
Und es regnet. Die Temperaturen sind zurückgegangen. Mit dem Gedanken an die Bergdörfer frage ich mich, wie es sich jetzt für Pfadfinder in Zeltlagern anfühle und wie die Schlechtwetter-Programme aussehen.
 
Solche Gedanken führen mich in jene Zeiten zurück, als die Töchter noch zur Primarschule gingen und wir Eltern für sinnvolle Ferien verantwortlich waren. Und ihre eigenen Initiativen unterstützten.
 
In einem trockenen Sommer, als die Limmat wenig Wasser führte, bauten sie, zusammen mit befreundeten Kindern, eine Ruinenstadt. Sie schichteten am ausgetrockneten Flussrand Grundrisse von Häusern auf. Jedes Kind nahm sich seinen Bereich und grenzte ihn mit Steinen aus dem Flussbett ab. Darin wurde gewohnt, gespielt, gegessen und einander besucht. Und draussen dienten Rindenstücke, Teile von Ästen und Blättern als Schiffe, die die Limmat mit auf ihre Reise nahm. Es war ungefährlich. Die Kinder vergnügten sich tagelang. Viele Jahre, auch nachdem der Fluss zeitweise zu einem reissenden Strom geworden war, suchten wir nach Zeugen jener Zeit. Erstaunlich lange konnten wir sie noch finden. Das war auch ein Ziel. Die Kinder hofften, dass Archäologen diesen Ort einmal fänden und ihn als Römersiedlung interpretierten.
 
Erstaunlich auch, dass unser zukünftiger Schwiegersohn dieses Thema schon beim ersten Besuch bei uns im Bernoulli ansprach und sich wünschte, den Ort (am Fischerweg in Zürich) zu sehen.
 
Die Schulkameradin Jasmin und ihr kleiner Bruder kamen auch einmal zu Besuch in diese Ruinenstadt. Dem Kleinen gefiel es nicht. Es störte ihn vermutlich, dass sich seine Schwester nicht mehr nur ihm widmete. So deutete ich seine Reaktion. Unmutig riss er in Felicitas Wohnung einen „Zoccolo" (Holzschuh aus der Südschweiz) an sich und warf ihn ins Wasser. Dort schwamm das Raubstück wie ein kleinens Dampfschiff davon. Als Jasmins Mutter davon erfuhr, meldete sie sich und bot Ersatz an. Felicitas durfte mit ihr in die Stadt fahren und bekam dort das neueste Holzschuhmodell aus Schweden. Wunderschön, grün, noch nie gesehen. Die 6 Jahre jüngere Letizia staunte und sagte freimütig: „Hoffentlich wirft mir Robert meine Zoccoli auch noch ins Wasser."
 
Ein andermal wurde in unserem Garten ein Zirkuszelt eingerichtet. Leintücher wurden aufgespannt. Es wurde ein Programm ausgedacht, ein Programmheft gestaltet und Kunst- und Zauberstücke trainiert. Unglaublich, wie Kinder sich vielen Details widmen, wenn sie sich selbst ein Ziel gesetzt haben. Das Programmheft gibt es heute noch. Ich hatte es aufbewahrt und konnte es nun zurückgeben. All die Vorarbeiten waren vermutlich viel intensiver als die Aufführung selbst.
 
Einmal, zu Beginn der Ferienzeit, schlug ich vor, dass wir in unserem Garten ein kleines Restaurant führen könnten. Sofort waren die Mädchen begeistert. Wir brauchten ein Restaurant-Schild mit der Aufschrift „Gasthaus zur Sonne" und eine vornehme Speisekarte mit dem Tagesmenu. Es gab viel zu schreiben, zu malen und zu dekorieren. Und ein schönes Tischtuch war auch gefragt. Der Erfolg war viel grösser als erwartet. Ausgelöst auch durch das italienisch temperierte Hallo von Primo, als er zum Essen nach Hause kam. Sofort liess er die Rolle als Familienvater fallen und liess sich als Gast in einem guten Haus beraten und bedienen. Nachbarn hatten uns schon lange beobachtet und klopften nach dem Mittagessen an unser Gartentor. Das markierte Gasthaus wirkte einladend. Sie kamen, wünschten Kaffee, plauderten, hatten Zeit und genossen diese Abwechslung. Das Servierpersonal aber war müde. Als dann alle Gäste weggegangen waren, atmeten die Mädchen auf. Aber gerade als sie die Wirtshaustafel abhängen wollten, kam noch Johann Buob daher. Der letzte Bauer vom Förrlibuck. Auch er ein willkommener Gast, vor allen für mich. Noch heute freue ich mich, dass er uns besucht hat. Bedächtig gehend, kam er an unseren Tisch und bestellte, augenzwinkernd, ein geistiges Wasser. Den Kirsch füllte ich für ihn in das kleine chinesische Trinkgefäss, das zu trillern anfängt, sobald getrunken wird. Das kannte er noch nicht. Es gefiel ihm, uns mit diesem Vogelgesang zu unterhalten und liess sich gerne mehrmals einschenken.
 
Die Kinder waren in der Zwischenzeit verschwunden, überliessen mir das Geschäft. Es sei sehr anstrengend gewesen.
 
In der Erinnerung sehe ich Herrn Buob auf seinen Stock gestützt, langsam heimwärts gehen und dann entschwinden. Gerade so, wie es meine Geschichten jetzt auch tun. Sie gehen dorthin zurück, wo sie gut aufgehoben sind.

Dienstag, 7. Juli 2009

Ausflug mit Frauen: Die Wallfahrt zu Orten am Jakobsweg

Die Jakobsmuschel ist überall gut bekannt. Feinschmecker lieben diese Meeresfrucht, und Wallfahrer schätzen ihr Symbol als Wegweiser auf dem Weg nach Santiago de Compostela (wikipedia.org/wiki/Jakobus_der_Ältere).
 
Ich freue mich immer, wenn ich dieses Zeichen an Wegkreuzungen erblicke. Dieser Pilgerweg, der vielen Menschen hilft, zu sich selbst zu finden, ist mir sympathisch. Einzelne Wegstücke innerhalb der Schweiz habe ich selber auch begangen, nach Santiago de Compostela bin ich allerdings noch nicht gekommen.
 
Auch unsere rutschfeste Plastikmatte im Badezimmer trägt die Jakobsmuschel. Wenn ich auf dieses plastische Symbol stehe, drücke ich es auf den Boden und verhindere, dass ich ausrutsche. Warum diese Matte mit der Jakobsmuschel geschmückt ist, weiss ich nicht. Vielleicht wegen des Bezugs zum Wasser, in dem sich die Muschel entwickelt. Vielleicht war sie als Mitbringsel von Santiago geschaffen. Gekauft habe ich sie in einem Ramschwarengeschäft. Sie hat mir gefallen, weil sie farblich keine dominante Rolle spielen will und mir dienen kann. Seit letztem Donnerstag spricht sie mich jetzt anders an. Sie erinnert mich an eine schöne Ausfahrt nach Beuron und Bärenthal-Gnadenweiler. Auch Orte am Jakobsweg.
 
Eingeladen von meiner Freundin und im Gefolge einer Frauengruppe führte die Reise ins deutsche Bundesland Baden-Württemberg. Mütter und vermutlich auch Grossmütter schenkten sich einen freien Tag. Auch ich schob für diesen alle Aufgaben und Arbeiten zur Seite und genoss es, dass andere Weg und Ziel schon definiert hatten. Auf mir lastete diesmal keine Verantwortung. Tapetenwechsel. So nannten wir früher einen Ausflug. Das eigene Umfeld wurde zugunsten von unbekannten Orten, Räumen und fremder Architektur einfach für eine Weile ausgeklinkt.
 
Die Fahrt im Bus wurde am Rheinfall in Neuhausen (Kanton Schaffhausen) unterbrochen. Wir trafen am frühen Morgen ein. Es war noch ruhig. Touristenströme kamen später an. Die Morgensonne leuchtete gerade in die schäumenden und tosenden Wasser hinein und verpassten dem grössten Wasserfall von Europa eine glitzernde Aura. Von meinem Sitzplatz auf der Terrasse konnte ich beobachten, wie der breite Strom aus seinem Bett heraus- und herunterstürzte. Von einem Menschen würde ich sagen, dass er ahnungslos dahergekommen sei. Die Wassermassen schienen ihren Spass zu haben. Das träge Dahinfliessen wurde, einem Spektakel gleich, für eine Weile unterbrochen.
 
Beuron D fuhren wir über die Schwäbische Alb an. Eine der Organisatorinnen ist mit diesem reizvollen und unverdorbenen Landstrich familiär verbunden; darum konnte sie den Chauffeur unseres Autocars dazu bewegen, die Route über diese Alb zu benützen. Die Fahrt hinab ins Tal beeindruckte ebenso. Am meisten, als wir der jungen und lieblichen Donau begegneten und mit Abstand die Wucht des Felsgesteins, aus dem wir eben herunter- und herausgekommen waren, sahen. Für mich hat dieser Ort Ähnlichkeit mit der Doubs-Landschaft in der Schweiz, angrenzend an Frankreich. An beiden Orten markieren Juragesteinswände mit bizzaren Formen ein Tal. Und hier stehen auf besonders markanten Felsen wuchtige Burgen und Schlösser.
 
Zur Mittagszeit trafen wir in Beuron ein. Ein geschichtsträchtiger Ort mit imposanter Klosteranlage. Mir war bis anhin nur der Beuroner Kunstverlag, vor allem wegen seiner Kunstkarten und Kunstbücher, bekannt. 
 
Besuch der Wallfahrtskirche. Für uns gab es keine Führung und auch keinen Gottesdienst. Einfach etwas verweilen war angesagt. Jahreszahlen und architektonische Zuordnungen vergesse ich ohnehin schnell wieder. Aber dasein und einen spiritueller Raum auf sich wirken lassen, das ist gut.
 
Ein feines und leichtes Mahl erwartete uns im Gäste- und Tagungshaus „Maria Trost“, das ebenfalls auf eine lange Vergangenheit zurückblicken kann. Herr Peter Zimmermann, der mit seiner Frau zusammen dieses Haus führt, erzählte uns sehr eindrücklich aus deren Geschichte und verriet uns etwas von seinem persönlichen Engagement, dieses zu erhalten und weiterzuführen.
 
Mit fühlbarer Hochachtung und Respekt wies er auf Besuche von Edith Stein hin, die sich in Beuron und explizit auch in diesem Haus wohl fühlte. Die Strasse, an der das Gasthaus steht, trägt ihren Namen. Und eine Gedenktafel hält ihr Andenken wach. (Edith Stein: Philosophin, katholische Nonne jüdischer Herkunft. In Auschwitz ermordet. Wurde von der katholischen Kirche heiliggesprochen.)
 
Das eigentliche Ziel unserer Reise signalisierte uns in Gnadenweiler ein luftiger Fahnenwald in gebührendem Abstand zum Heiligtum „Maria, Mutter Europas“, das vor kurzem erschaffen und 2008 eingeweiht worden ist. Noch jung und doch schon von voller Ausstrahlung. Ein lichtdurchfluteter Bau, der Innen und Aussen verbindet. Ein aus den Schriften des alten und neuen Testaments gültig übersetztes Bauwerk für die Menschen von heute. Ein Zeichen in der Landschaft zu Ehren Europas.
 
Bilder, die im Internet zur Verfügung stehen, vermitteln mir die wahre Ausstrahlung dieses Orts nicht ganz so, wie ich sie gesehen und gefühlt habe. Sie ist grösser. Landschaft, Architektur und Glaube sind an diesem Ort vereint. Und die barocke Marienfigur aus der „alpenländischen Schweiz“ verbindet alle hier anzutreffende Detailtreue theologischer Aussagen und wandelt sie zu einem lebendigen Heiligtum.
 
Mir persönlich sind die weiblichen und mütterlichen Elemente in der Religion wichtig, weil sie sich um das echte Leben sorgen.
 
Dieser Beitrag ist mit vielen Links versehen. Die Reise soll für Leserinnen und Leser nachvollziehbar werden. Mein Bericht soll Unaussprechbares nicht zerreden. In diesem Sinne hat es mir entsprochen, dass alle Orte, die wir besuchten, nicht mit tausend Worten übergossen worden sind.
Ein Buch zum Thema
Hinweis auf einen kleinen, grafisch ansprechenden Bildband, der alle Grundlagen und das Werk selbst beleuchtet. Fotos und Texte: P. Notker Hiegl: „Maria, Mutter Europas“, ISBN 978-3-87071-183-2.