Dienstag, 16. Juni 2009

Wie nennt man es: Glück, Fügung oder sogar Wunder?

Primo hat im letzten Augenblick einen Ersatz-Werkstattplatz gefunden. Es gab mir schon zu denken. Ausgerechnet das Umfeld, das ich im Blog über die Fahrt nach Fluntern abwertend beschrieb, gehört nun zur Umgebung der neuen Werkstatt. Zuerst dachte ich ans Sprichwort vom Teufel, der auch Fliegen fresse, wenn er nichts Besseres finde. Dann aber stellte es sich heraus, dass der neue Arbeitsplatz nicht von der Hardbrücke erschüttert wird und dass uns die Pfingstweidstrasse nicht zu nahe kommt.
 
Kurz bevor wir die Hoffnung auf eine Ersatz-Werkstatt wohl aufgegeben hätten, verstand Ueli Schenk von der Schreinerei Schenk GmbH unser Anliegen und lud Primo ein, sich einen Arbeitsplatz bei ihm einzurichten. Er arbeitet in den ehemaligen Stallungen von Welti-Furrer, als dieser noch eine Fuhrhalterei betrieb. So kommen wir jetzt wieder auf den Boden des Stadtkreises 5 zurück, auf dem wir aufgewachsen sind.
 
Noch diese Woche werden wir uns vom Atelier an der Müllerstrasse verabschieden. Dann können die Bagger auffahren und das alte Haus mit seiner über 100-jährigen Handwerksgeschichte abbrechen.
 
Mit grossem Interesse wende ich mich jetzt dem neuen Ort zu, schleiche wie ein Hund um die Gebäude, schnuppere, fotografiere, suche Übersicht innerhalb der verschachtelten Bauten. Ich freunde mich mit diesen alten Gebäuden an, suche nach Spuren ihrer Geschichte.
 
An einem fix verschlossenen Stalltor fand ich einen Hinweis auf Welti-Furrer, der mich berührte:
 
„Gegründet 18381988, 150 Jahre Welti Furrer, Stallungen 19251963.“
 
Welti Furrer war und ist für Zürich und auch international ein Begriff. Der Firmengründer Jakob Furrer figuriert denn auch auf der Liste „Persönlichkeiten der Schweiz“ in der Rubrik „Berühmte Schweizer Unternehmer und Firmengründer seit 1150“. Die Fuhrhalterei entstand schon 1838.
 
 
 
Ich kann mich gut an die Plakate dieses Unternehmens erinnern. Auf dem Schulweg gab es eine niedrig angebrachte Plakatwand beim Tramdepot Escher Wyss. Da sahen wir die Bilder auf Augenhöhe, und diese prägten sich ein. Ganz besonders in Erinnerung ist jenes virtuos gemalte Bild mit 2 trabenden Fuhrwerkpferden. Dass es nach Jahrzehnten nochmals aufgehängt wurde, war vielleicht ein Abschiedsgeschenk an die Bevölkerung von Zürich, als das Unternehmen 1993 in andere Hände überging.
 
Jetzt haben wir noch eine grosse Aufgabe vor uns. Die Gestaltung der Umzugsanzeige mit den Anfahrtswegen aus allen Himmelsrichtungen inkl. öffentlichem Verkehr.
 
Für unsere neue Adresse sind die Beschilderungen dürftig. Es fehlt mir das offizielle Haus-Nummernschild. Dann habe ich erfolglos nach dem Strassenschild „Pfingstweidstrasse“ gesucht. Nach meiner Auffassung sollten an jeder grösseren Kreuzung die wegführenden Strassen beschriftet sein. Das ist hier nicht der Fall. Wohl ist das Parkhaus mit „Pfingstweid“ beschriftet, aber der Fussgänger kann sich nirgends orientieren. Seit dem 9. Juni 2009 herrscht zudem Baustellen-Verkehr. Die Pfingstweidstrasse, eine städtische Expressstrasse, wird um- und eine neue Tramlinie eingebaut. Entfernt wurde eine schützende Insel in der Mitte des Fussgängerstreifens. Und mit ihr verschwand die auf einer Metallstange platzierte offizielle Strassentafel „Pfingstweidstrasse“.
 
Gestern habe ich bei Herrn Schenk am Fenster seiner Werkstatt die Nummer „23“ entdeckt. In grossen Lettern, sauber und frisch. Sie sprach mich von weit her an. Er muss beobachtet haben, wie ich nach Orientierungsmöglichkeiten suchte. Ich hatte ihn auch darauf angesprochen. So ist das in den Industriebrachen. Die vorherige Ordnung zerfällt. Da heisst es für uns: Hilf dir selbst.
 
Die Pfingstweidstrasse als solche ist für Autofahrer gut bekannt. Auch das Parkhaus trägt, wie erwähnt, diesen Namen. Und von Johann Buob (geb. 1893), dem letzten Bauern im Stadtkreis 5 unterhalb des Escher-Wyss-Platzes, weiss ich, woher sich dieser Name ableitet. Man nannte die Wiese so, weil die Kühe zu Pfingsten dorthin auf die Weide getrieben wurden.
 
Von Weiden sehe ich hier keine Spuren mehr. Auch das Schrebergartenareal, das an die Geroldstrasse anlehnte, ist zur Baustelle geworden.
 
Uns gegenüber, im Maag-Areal, befindet sich die mittlerweile berühmte Fabrikhalle, die als Music- und Eventhall benützt wird und vielleicht stehen bleibt. Andere Gebäude auf diesem Terrain wurden schon abgebrochen, damit der Prime Tower heranwachsen kann. Hier befindet sich vermutlich die verrückteste Baustelle von Zürich.
 
Sterbe- und Werdeprozesse auch im Toni-Areal (vormals: Milchverarbeitungszentrale) im Förrlibuck. Dort soll ein Hochschul-Campus für ungefähr 5000 Studierende entstehen.
 
Und wir in den alten Stallungen, was blüht uns noch? Wird das Welti-Furrer-Areal eines Tages vielleicht in den Bereich der schützenswerten Bauten aufgenommen? Das könnte ich mir vorstellen. Was würde das für uns wohl heissen? Das grosse Hauptgebäude, eine Art vornehmer Fabrikbau, und die im rechten Winkel zurückversetzten Stallungen sind eine Einheit, haben Stil und erzählen Geschichte. Auch das Logo an der Fassade von Welti-Furrer, das geflügelte „W“ ist ein Unikat und steht für Qualität.
 
Mein Bruder Georg, einiges jünger als ich und mit einem Zukunftsblick ausgestattet, der ihm meist Recht gibt, hat begeistert reagiert, als er von unserem Glück erfuhr. Das sei ja total „Metropolitan aera“. Dieser neue Platz müsse man definitiv in die Kategorie „Smarter West End Schreinerei Lifestyle“ einordnen. Primo werde wohl in Kürze nach China und Russland liefern, wenn die Touristen bei der Lorenzetti-Schenk(e) landeten ...
 
Das sind Aussichten ... In erster Linie aber geteilte Freude. Noch ist es nicht so weit, dass Zürich mit seinen Towers grossstädtisch brillieren kann. Wir freuen uns im Moment hauptsächlich darüber, dass uns ein neuer Werkplatz zugefallen ist. Alles Weitere nehmen wir „vorzuä“ (eins nach dem andern).
 

Montag, 1. Juni 2009

Leben mit dem Abreisskalender, der auf mich wartete

Schon am Neujahrsabend nahm ich mir vor, die Geschichte vom Weisheitskalender aus dem Diderichs-Verlag eines Tages zu erzählen.
 
Ich fand ihn am 01.01.2009 in einer der Bücherkisten vor der Buchhandlung Barth im Zürcher Hauptbahnhof. Er war abgegriffen, die ersten Blätter wellten sich schon. Das Deckblatt schmuddelig. Ich erinnerte mich aber, dass auch ich dieses Ansichtsexemplar schon einmal in Händen hatte. Mangels grösserer Auswahl legte ich es Anfang Dezember wieder zurück und vergass dieses Thema.
 
Jetzt sah der Kalender erbärmlich und unappetitlich aus. Ich sah aber sofort, dass die schmutzigen Blätter nach etwa 3 Wochen abgezogen seien und dass ich seinen Rücken mit einem frischen Deckpapier renovieren könne. Es war höchste Zeit, einen Kalender zu kaufen. Eine Frau beobachtete mich und riet mir, im Laden um einen guten Preis zu feilschen.
 
Das war nicht nötig. Es genügte zu fragen, was dieser noch koste. Die Buchhändlerin offerierte ihn für drei Franken. Es sei das letzte verfügbare Exemplar. Ihr sichtbares Mitgefühl diesem strapazierten Stück gegenüber gefiel mir. Das war ja ein Geschenk.
 
Es bewahrheitete sich wieder einmal, dass das Äussere nicht auf das Innere schliessen muss. Auch die verschmutzten Blätter von Anfang Januar trugen wertvolle Gedanken vom Dalai Lama auf sich. Viele der Blätter mit seinen Weisheiten bewahre ich in einer schönen Schachtel auf. Vorher liegen sie gewisse Zeit auf meinem Schreibtisch. Solange, bis ich die Essenz verinnerlicht habe.
 
Vielleicht gelingt es mir eines Tages selbst, Aussagen aus meiner Lebenserfahrung auf einen Punkt zu bringen. Ich könnte versuchen, jeden Abend einen Satz zu notieren, der eine ganz persönliche Einsicht zusammenfasst. Die Idee schliesst an eine Kurserfahrung an. Während der Ausbildung im Seminar für Freiwillige im sozialen Bereich standen uns in der letzten Kursstunde immer die letzten 10 Minuten zur Verfügung, um Notizen zu machen. In diesem schmalen Zeitraum entstanden gute Zusammenfassungen, kurze, dichte Texte. Das Wichtigste des Tages hatte sich noch nicht mit früherem Wissen verschmolzen. Es lag obenauf und konnte leicht benannt werden.
 
Weil ich heute noch keinen „Eigenbrand“ vorsetzen kann, zitiere ich zum Abschluss den Dalai-Lama-Kalendertext von gestern: „Das Leben zwingt uns dazu, uns so kennen zu lernen, wie wir wirklich sind.“