Sonntag, 22. Juni 2008

Velomechaniker und Coiffeur: Unverzichtbare Dienstleister

Vorgestern habe ich mein Velo zur Revision zu „meinem“ Velomechaniker nach Zürich-Wipkingen gefahren und mich dabei gefragt, wo ich es einmal flicken lasse, wenn es nicht mehr fahrtüchtig sei. Von der Bernoulli-Siedlung in Zürich-West aus konnte ich das Rad problemlos in seinen Herstellungs-Stall bringen. Zu Fuss. Von Zürich-Altstetten her wäre das anstrengender. Der Weg würde gewiss eine Stunde beanspruchen. Im Notfall nähme ich ihn selbstverständlich in Kauf. Ich wurde immer sehr gut bedient. Solche Beziehungen sind viel Wert, können aber nach einem Wohnungswechsel plötzlich unerreichbar werden.
 
Besser sind die Aussichten, dem Coiffeur treu zu bleiben. Auch auf diese langjährigen Dienste möchte ich nicht verzichten. Im beinahe spartanisch eingerichteten Geschäft von Herrn S. fühle ich mich wohl. Hier ist alles echt. Es wird keine Glamourwelt vorgetäuscht. Und der Mann, der Haare schneidet oder solche färbt, ist ein Künstler. Trotzdem kann er gut auf Wünsche eingehen, will nicht nur seine Vorstellungen umsetzen. Bewundert wird er auch, wie er sich kleidet. Farben und Formen sind ihm wichtig, und er setzt voraus, dass sie es auch für die Kunden sind. Bevor er zu schneiden beginnt, hält er einem eine Beige verschieden farbige Umhänge hin. Die Kunden dürfen wählen, wie sie sich 3/4 Stunden lang im Spiegel anschauen wollen.
 
Gestern habe ich einen cremefarbenen Stoff mit einem eingewobenen Streifenmuster gewünscht. S. kommentiert die Wahl manchmal. Diesmal nicht. Er schien mir aussergewöhnlich schweigsam, schon als er mich begrüsste. Da beschloss ich, auch stille zu sein. Sonst lachen wir gerne miteinander. Er hatte gerade 2 Schnitte in mein Haar gemacht, als sich die Tür öffnete und eine Frau eintrat. S. ging zum Kalender, kehrte zurück, schnitt weiter. Ich fragte sofort, ob etwas nicht in Ordnung sei. Er schien irritiert. Ja! Stimmen die Termine nicht? Ja! Der meine vielleicht? Ja! War er darum schon bei meinem Eintritt beunruhigt, weil er eine andere Person erwartete?
 
Hoppla. Ich sei auf 16 h eingetragen. Ich könne den Sessel sofort räumen und in einer Stunde wieder kommen, offerierte ich. Da war er erleichtert und die eben erschienene Kundin auch. Ich erinnerte mich, dass es schwierig war, einen Termin zu bekommen. Aber wo der Fehler lag, war jetzt nicht wichtig. Wir vergeudeten keine Zeit, um das herauszufinden. Ich wusste schon, wie ich diese Zwischenstunde verbringen konnte und räumte den Platz. Herr S. versicherte mir noch, dass die paar Schnitte im Haar nicht ersichtlich seien.
 
Punkt 16 h war ich zurück und erlebte gerade mit, wie sich die Kundin erhob und die Dienste bezahlte. Als sie mich sah, fischte sie aus der Tiefe ihrer Einkaufstasche ein Stück Lavendel-Seife „Saponet Natura“ aus Indemini im Tessin und dankte mir, dass ihr Coiffeur-Termin eingehalten werden konnte. Damit bewies sie mir, dass sich in Herr S. Geschäft vornehmlich Kunden einfinden, die wie er alles Naturbelassene lieben. Da gehöre ich ja auch dazu.
 
Dann konnte ich mich setzen. Erstaunlicherweise wurden mir die Stoffumhänge jetzt nicht zur Auswahl präsentiert. Er wählte. Rot! Galt es ihm oder mir? Ich vermute: Uns beiden!
 
Informationen über die Seifen-Herstellung in Indemini: www.seifen-handwerk.ch

Montag, 16. Juni 2008

Zufallsgeschichten vom Stadtrand Altstetten-Schlieren ZH

Samstagmorgen. Ich verlasse das Haus etwas nach 8 Uhr. Es ist erstaunlich still. Wohltuend. Wieder einmal fühle ich mich in Zürich-Altstetten in den Ferien. Heute ist es besonders ruhig. Die Festfreudigen der Fussball-Euro2008 können ausschlafen. An vielen Häusern hängen locker verstreut Flaggen europäischer Nationen. Es ist windstill. Es bewegt sich nichts. Auch die Bäume stehen stoisch da. Am Himmel hängen flockige Wolken, die sich noch auflösen werden. Ein Flugzeug überfliegt, angenehm hoch, unser Wohngebiet. Ich bin allein unterwegs.
 
Ich fahre mit dem Velo zum Bauernhof am Pestalozziweg und hole Milch. Wenn ich die Stadtgrenze erreicht habe, denke ich jedesmal an Lisbeth. Sie wohnt in Schlieren, unten im Limmattal. Sie spricht vom „erlösenden Moment“, wenn sie hier oben angekommen ist und die Hektik der Stadt zurücklassen kann. Hier atmet das Leben anders. Die Luft ist frisch. Und das Land gehört der Landwirtschaft. Keine Architektur stört das Landschaftsbild. Hier darf die Erde Lebensnotwendiges hervorbringen.
 
Kurz bevor ich zum Pestalozzi-Hof abbiege, werde ich auf einen Mann aufmerksam. Er schläft am Rand des Kornfelds auf jener Bank, die schon manche Wanderer ausruhen liess. Zusammengekauert liegt er da, atmet ruhig, wird vom Erlebten träumen und die Emotionen verarbeiten. Auch er war mit dem Rad unterwegs. Dieses ist gesichert, an der Bank gut angebunden. Die um die aufrechte Sattelstange am Velorahmen befestigte Flagge weist ihn als Franzosen oder Fan der französischen Nationalmannschaft aus.
 
Tief versunken schläft er. Daunenjacke, Sonnenbrille und Filzhut und seine Eigenwärme schützen ihn. Und doch ist er in meinen Augen schutzlos und ausgeliefert, solange er schläft. Woher kam er? Wohin muss er noch zurückkehren? Hatte er den Match Frankreich gegen Holland miterleben wollen, der im Stade de Suisse Wankdorf Bern ausgetragen worden ist? Meine Fragen bleiben unbeantwortet. Ich fahre heim, mache mir keine Sorgen um ihn.
 
Auf dem Rückweg erledige ich noch Einkäufe bei Coop am Suteracher. Als ich diese nach der Kasse einpacke, bemerke ich eine Frau meines Alters, die meldet, seit sie hier gewesen sei, fehle ihr das Portemonnaie. Sie zeigt 2 Tafeln Schokoladen, die sie vor wenigen Minuten hier bezahlt habe. Die kleine Tasche für den Hausschlüssel und das Portemonnaie hält sie in Händen. Der Geldbeutel fehlt.
 
Das Personal kann ihr nicht helfen. Das Fach, wo die Funde aufbewahrt werden, ist leer. Diebstahl? In solchen Augenblicken ist das immer die nächstliegende Frage.
 
Zusammen verlassen wir den Laden. Plötzlich fällt mir auf, wie sich der Stoff im Umfeld ihrer Manteltasche wölbt, und ich frage sie, ob das Portemonnaie vielleicht da drinnen sei. Oh ja! Nun ist die Ordnung wieder hergestellt. Alle Verdächtigten sind entlastet. Und das Personal ist über den Fund erfreut.
 
Ich bin über mich selbst erstaunt, dass ich so etwas bemerkt habe, weiss aber, dass die Frau auch ohne mich, spätestens dann zu Hause, ihr Portemonnaie wieder gefunden hätte.
 
Und jetzt hoffe ich noch, dass der Franzose ausgeruht aufgewacht ist, alle seine Habseligkeiten vorgefunden, und die Heimreise frisch gestärkt angetreten hat und hoffentlich unversehrt bei sich zu Hause angekommen ist.
 
Dann sind wir alle wieder an unseren Plätzen. Die Dinge und die Menschen auch.

Montag, 9. Juni 2008

Woher kommen die Inspirationen die Blogatelier-Beiträge?

Was inspiriert zu Blogs? So werde ich öfters gefragt. Eine einheitliche Antwort gibt es selbstverständlich nicht. Am 5. Juni 2008 verlief das so: Ich verabschiedete mich für eine kleine Reise nach St. Gallen. Da wünschte mir Letizia lustige Erlebnisse in der Bahn, damit ich darüber schreiben könne.
 
Ich fuhr in Zürich weg, als die Pendler schon an ihren Arbeitsplätzen eingetroffen waren. Es war still im Bahnwagen, in dem ich meinem Ziel entgegenfuhr. Es regnete. Die Landschaft trank das frische Wasser, und darum strahlten die Wiesen trotz dunklem Himmel frisch grün. Weder sah ich etwas aufregend Schönes noch ergaben sich Gespräche. Es war „nur“ eine meditative Zeit für mich. Auch das Säntis-Massiv durfte ich heute nicht entdecken.
 
In St. Gallen erwartete mich Rosmarie, die ich in jungen Jahren in Paris kennen gelernt hatte. Wir hatten uns viele Jahre aus den Augen verloren. Nur dank der Zeitschrift „Natürlich“, damals noch von Walter Hess redigiert, fand sie mich wieder. Sie hatte ein Foto von mir entdeckt und meldete sich sofort. Seither ist der Kontakt wieder da, und ich bin dankbar dafür. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass wir einander nach langer Zeit erzählen können, wie gemeinsame Erlebnisse in der Fremde wirkten und bis heute als kostbare Erinnerungen gehütet werden.
 
Rosmarie informierte mich gleich nach der Ankunft, heute sei ein besonderer Tag. Der 5. Juni 2008? Am 05.06.1958 sei sie in Paris eingetroffen. Auch sie fand eine Anstellung in einem kaufmännischen Betrieb, wo sie ebenfalls als Stagiaire angestellt wurde. Der heutige Tag also eine Art Jubiläum. Vor 50 Jahren lernten wir uns im „Schweizerischen Kaufmännischen Verein“ in Paris kennen. Wir besuchten die gleichen Sprachkurse, die dort von französischen Lehrpersonen erteilt wurden.
 
Hier in St. Gallen gab es wieder viel zu erzählen. Auch ihr humorvoller Ehemann beteiligte sich daran. Zum Abschluss entführte mich Rosmarie noch auf die Anhöhe, wo sich die Dreilinden-Weiher befinden, die zu den schönsten Naturbädern der Schweiz gehören. Und von dort aus konnte ich erstmals die Ausmasse der Stadt St. Gallen überblicken. Eine echte Horizonterweiterung.
 
Auf der Rückfahrt, kurz vor Zürich, dachte ich, Letizias Wunsch habe sich nicht erfüllt. Auch auf dieser Fahrt fing ich nichts auf, worüber es sich zu berichten lohnen würde.
 
Dann, in der S-Bahn ab Zürich-Hauptbahnhof nach Zürich-Altstetten, sass mir ein verliebtes junges Paar schräg gegenüber, das ich nicht übersehen konnte. Die beiden strahlten. Es gab nur ihre Welt. Es sah aus, als ob sie von einer einzigen goldenen Aura umgeben wären. Da hörte ich die junge Frau fragen: „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Rabe und Krähe?“ Der Mann überlegte nicht lange und sagte: „Krähe nennen wir den Raben im Dialekt. Rabe heisst der Vogel in der Schriftsprache.“
 
Die Stirn der Frau runzelte sich. Sie fragte weiter, warum wir denn nur von Raben- und nicht auch von Krähenmüttern sprächen. Der Mann fühlte sich ertappt, hatte zu schnell einen Schluss gezogen, aber er lachte und war offensichtlich fasziniert, wie die Frau einer Sache auf den Grund ging. Leider war ich da schon in Altstetten angekommen und konnte ihren Gedanken nicht mehr weiter folgen. Ich nahm mir aber vor, zu Hause in einem dafür zuständigen Lexikon nach einer sanktionierten Antwort zu forschen. Dort wurde ich fündig. Krähen seien „mittelgrosse Raben“ heisst es im „Deutschen Wörterbuch“ von Gerhard Wahrig.
 
Anderntags wartete Primo mit einer Rabengeschichte auf. Er erzählte, dass er früh morgens vom Küchenfenster aus einen Raben beobachtet habe, der ein kleines, seltsames Gefährt auf der Wiese vor unserer Wohnung vor sich herschob. Es war aber ein Igel, den er verscheuchen wollte. Auf ihn einhackend, aber ihn doch nicht berührend, schickte er ihn heim. Primo schaute lange zu und weiss jetzt, wo der Igel wohnt.
 
Und ich möchte jetzt noch wissen, ob es sich bei den Vögeln, die sich täglich vor unseren Augen tummeln, auch wirklich um Raben handelt und nicht um Krähen. Danke der jungen Frau für ihre Anregung, Antworten immer noch zu überprüfen. Auch ich ziehe manchmal zu schnell einen Schluss.