Es ist gar nicht so einfach, von einem Umzug zu berichten, wenn er
vorbei ist. Sich erinnern, wie alles gelaufen ist, ist im ersten
Augenblick nicht möglich. Ja, wir atmeten auf, fühlten aber noch keine
Last von uns abfallen. Während der vergangenen Wochen konnten wir oft
die Sätze nicht vollenden, wenn wir einander etwas erzählten. Es drang
immer etwas Neues das eben gerade Gedachte zur Seite. Oft lachten wir
nur noch, wenn wir die Worte nicht mehr fanden.
Wir pendelten vom alten Ort an den neuen, verabschiedeten uns beim
Räumen und bauten auf beim Einräumen der Dinge, die wir in verschiedenen
kleinen Etappen in die neue Wohnung trugen.
Wir gingen nach Primos Vorschlag so vor: Alle Ideen sollen
ausgesprochen werden, ohne diese aber sofort zu bewerten, anzunehmen
oder abzulehnen. Sie standen einfach auf Abruf in unseren
Gedankenräumen. Auf einmal wussten wir, welche von ihnen die tauglichste
sei.
Räumen aber wurde zum Marathon. Manchmal kam ich mir vor wie
jemand, der einen ganzen Wald abgeholzt hatte, um Zeitschriften, Bücher,
Briefe und Kartenpapiere herzustellen. Und dann all die Papiere aus der
Administration der Werkstatt, die 10 Jahre aufbewahrt werden müssen.
Ein Riesengewicht. Ich begriff plötzlich die Wohltat im Wort „entsorgen“,
als ich meine Schätze abtransportieren lassen konnte. Einige rare
Druckerzeugnisse übernahmen Freunde, andere gingen in Brockenhäuser und
vieles auch in die Müllcontainer. Bücher sind gar nicht an vielen Orten
willkommen. Aber unsere alte Schreibmaschine, etwa 100 Jahre alt, wurde
als echter Schatz bewertet und gerne mitgenommen. Primo trennte sich
auch von einer Plakat-grossen Intarsie, eine seiner verrücktesten
Arbeiten. Mit verschiedensten farbigen Hölzern komponierte er ein
Gesicht zwischen Zeichen und Dekorationen ungewöhnlicher und sehr
farbiger Art. Auch diese war dem Chauffeur eines Brockenhauses hoch
willkommen. Ich hoffe, dass ich ihr irgendwo wieder begegne. Es würde
mich nicht verwundern, wenn sie plötzlich in einem öffentlichen Raum
oder als Dekoration innerhalb einer Reklame stünde. Das wäre ein Spass
für uns, mit ihr wieder zusammenzutreffen. Wir haben vieles losgelassen,
aber natürlich nicht alles. Als ich jeweils die Umzugs-Kartons öffnete,
staunte ich, was ich da vorfand. Ich dachte mehrmals: Ja, habe ich dies
denn nicht alles fortgeworfen?
Wegen der Labilität meines Rückens entwickelte sich ein
hochsensibles Gefühl für Gewicht. Alle Umzugs-Kartons wurden nicht nur
rational gefüllt. Immer mit Gefühl. Bücher oder Geschirr ergänzte ich
mit leichten Kleidungsstücken, um die Lastenträger nicht zu überfordern.
Waren 6‒8 Kartons gefüllt, wurden sie an den neuen Ort gefahren.
Dort konnte der Inhalt in bereits vorhandene Schränke abgefüllt werden.
So entstand nach und nach das Fundament am neuen Ort. Waren die Kartons
leer, falteten wir sie zusammen. Primo band sie an den Rücken, und mit
den Velos fuhren wir zurück, um sie neu zu füllen. Wenn ich hinter ihm
her fuhr, konnte ich die Reklame auf dem Wellkarton lesen. „Möbeltransporte“
war da vermerkt. Primo als Möbelschreiner mit Möbelkartons auf dem
Rücken. Bei Wind und Wetter fanden diese Fahrten statt. Der Weg
beanspruchte 20 Minuten. Wir mussten 2 × eine Unterführung benützen,
eine unter der Autobahn, die andere unter den Bahngeleisen. Diese
Fahrten und die dazugehörige Anstrengung wirkten auf mich als gutes
Rückentraining. Fast nicht zu glauben: Ich habe mich in den letzten
Wochen dank grosser Anstrengungen im Rücken erholt.
Ich habe früher auch schon von meiner Kartensammlung gesprochen.
Seit 45 Jahren sammelte ich alle Glückwunschkarten, die uns für
Weihnachten oder Neujahr zugekommen waren. Ursprünglich diente eine alte
Wäschetruhe für die Aufbewahrung, eines Tages kam eine zweite dazu, und
auch sie genügte bald nicht mehr. So standen auch einzelne Schachteln
auf der Winde. Als Primo diese in den 1. Stock heruntertrug und sie an
einer Wand aufschichtete, wurde mir beinahe übel. So viel Material! Wie
soll ich dies alles nochmals sichten? Ich hatte vordem Informationen
eingeholt, an welches Museum ich damit gelangen könnte. Das Mass war
übervoll. Ich sah die Lasten, die Transportkosten und vielleicht die
Absage, damit könne man nichts anfangen. Und darum beschloss ich,
innerlich unerschütterlich sicher, diesem vor allem für mich emotionalen
Wert adieu zu sagen. 3 Jahrgänge flogen sofort in einen 60
Liter-Abfallsack, obwohl ich sofort wieder sah, wie viele Kunstwerke da
vorhanden waren. Da kamen dann doch noch Zweifel auf und ich beschloss,
aus jeder Schachtel eines Jahrgangs, die 10 schönsten (die meiner
Ansicht nach schönsten) Karten zu retten. Aber das war Unsinn,
unmöglich.
Mit dieser Sammlung hoffte ich, eines Tages aufzeigen zu können,
wie Kultur ganz unten in den Familien und jenseits von akademischem
Kunstverständnis über Jahrzehnte gepflegt worden ist. Schon als Kind im
ersten Primarschulalter war ich fasziniert von diesen Kunstwerken und
den Ideen, wie Glück gewünscht worden ist.
Nun war also der Abschied gekommen. Anders, als ich es je dachte.
Damit ich die Karten in die Papiersammlung geben konnte, schob ich jeden
Jahrgang in halboffene Zeitungen und verschloss diese mit ebensolchen
zu Paketen. Ein würdiger Abschied, dünkte es mich. Nochmals konnte ich
mich an vielen Bildern und Sujets oder auch an guten Worten, wenn auch
nur flüchtig, freuen.
Und dann wollte meine Schwester Renate plötzlich wissen,
was ich mit der Kartensammlung mache. Fortwerfen. Entsorgen. Ihr
Interesse erwachte. Am Schluss des Gesprächs entschloss sie sich, die
Sammlung an sich zu nehmen. Sie möchte sie kennen lernen. Sie bestellte
ein Taxi, fuhr zu uns, packte alle Pakete in mitgebrachte, grosse
Taschen und fuhr sie zu sich heim. Sie sind gerettet. Renate arbeitet in
einem Gemeinschaftszentrum und hat Kontakte zu Museums-Leuten. Sie
nimmt sich jetzt der Sache an.
Das waren sehr emotionale Momente. Es schien mir, die Karten, die
ich immer in Ehren gehalten hatte, hätten sich gegen die Kremation
gewehrt, den Aufstand geplant und jemanden mobilisiert, der sie retten
konnte. Ihre Geschichte ist also noch lebendig und nicht fertig
geschrieben.
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