Auf dem Heimweg, von Lohn (Graubünden) herkommend, begann es zu
regnen. In der Rinne am Strassenrand sammelte sich das Wasser. Es
bildeten sich Luftblasen, die uns begleiteten. Es gab da ganze
Blasen-Familien, die sich zusammenfanden, grosse und kleine Gruppen und
auch Einzelgänger. Manche lösten sich schnell wieder auf, andere waren
langlebig. Neben ihnen hergehend, wurde unser Heimweg zum Spiel.
So sehe ich heute die Ferientage an mir vorüberziehen und
entschwinden. Letzte Gelegenheit also, wenn ich nochmals vom Erlebten
erzählen will.
Thema Wasser: Das Bachdelta auf halbem Weg nach Wergenstein
Primo nannte den Zusammenfluss zweier Bäche so: Bachdelta.
Ihre Namen kennen wir nicht. Es schien uns nur, dass sie sich auf ihrem
allerersten Wegstück in die Welt hinaus befänden und sich noch mit
vielen Bächen und Flüssen vereinigen werden.
In diesem archaischen Gerölldelta gefiel es uns ausnehmend gut. Wir
schauten den Sturzfluten zu, wie sie über den Felsabbruch hinab
donnerten und an den Gesteinsbrocken schliffen. Es zeigte sich manches
Gesicht im Stein, als wir die Strukturen betrachteten. Viele Formen,
viele Farben. Auch eine weinrote war dabei. Der eine Bach kam ruhig
daher, locker über die mächtigen Gesteinsbrocken springend. Der andere
zeigte sich wild. Nach ihrem Zusammenfluss verschwindet das Wasser wie
in einem Trichter unter der Strasse und stürmt dann durch das bewaldete,
tiefe Tobel dem Tal zu, wo es dann in den Hinterrhein einfliesst.
Thema Bewegungsfreiheit
Einmal, als Mena zeichnete, sagte sie ganz unvermittelt: „Die Wohnung in Paris interessiert mich nicht.“ Es
war, als ob sie ihren Gedanken einen Riegel schieben wollte. Sie war
jetzt in Mathon, und nichts sollte sie von hier ablenken. Als ich sie
verwundert anschaute, sprach sie gar noch abschätzig über ihr Zuhause.
Das hat seinen Grund: In Paris muss sie einen Code eingeben, wenn
sie die Haustür öffnen will. Und sie darf nie alleine das Haus
verlassen. Ganz anders in Mathon. Hier war sie frei, sprang durch die
Haustür hinaus und kam über 2 Ecken und den Sitzplatz wieder zurück. Der
Ort ist von seiner Lage her geschützt. Die Grenzen, die ihr in Paris
gesetzt sind, gab es hier nicht. Und auch in der modern eingerichteten
Wohnung stand den Kindern ausreichend Raum zur Verfügung.
Post und Zeitung
Die Post von Mathon ist von Montag bis Freitag von 7.45 h bis 8.45 h
offen. Und der aus Zürich umgeleitete „Tages-Anzeiger“ wurde uns schon
um 9 Uhr vor die Haustür gelegt. Ein Service, der vielleicht nur in der
Schweiz so perfekt funktioniert. Mena rannte dann hinaus und holte das
Blatt für den Grossvater. Die papierene Zeitung war eine Entdeckung für
sie. Ihre Eltern lesen ihre Zeitung nur im Internet. Jedesmal schauten
wir zusammen die Wetterprognosen an. Die mit Sonne, Wolken, Regen und in
entsprechenden Farben dargestellte Wetterentwicklung ist auch für ein
5-jähriges Kind verständlich und spannend. Vorlesen musste ich nur, was
zu Paris geschrieben stand.
Das Postauto brachte auch die Lebensmittel aus dem Tal hinauf.
Einmal pro Woche war eine grosse Anlieferung. Da konnten dem Bauch
dieses Gefährts alle bestellten Waren, auch Gemüse und Früchte,
entnommen werden. Es traf sich, dass ich diese Ankunft einmal
miterlebte. Primo packte gleich zu und half beim Ausladen. In solchen
Momenten fühlte ich mich den Menschen aus Mathon sehr nahe. Ich
bewundere ihre innovative Art. Sie kennen den Wert ihrer Region und
verstehen es, ihrer Jugend tragfähige Perspektiven zu vermitteln, ohne
die Seele dieser einmaligen Region zu verkaufen. Ihr Internet-Auftritt
www.muntsulej.ch ist in diesem Sinne beeindruckend.
Restaurant „muntsulej“
Für die Enkelkinder gehörten die Pommes frites, Glacékugeln und der
Wirt, der für uns Musik auflegte, zu den Höhepunkten der Ferien. Mena
sprach es in dieser Reihenfolge aus und ihre 1-jährige Schwester wippte
seither jedesmal, wenn sie das Wort „Musik“ hörte. Ganz nach dem Motto
von Franz Schweighofer „Kein Gast zu gross, kein Gast zu klein, um herzlich willkommen zu sein.“
Auch die Wirtin vom Gasthaus Orta in Lohn sei noch erwähnt.
Einfühlsam gelang es ihr, Mena die Angst vor dem grossen Hund
wegzunehmen.
Schlussbild
Noch immer rätsle ich, ob das, was ich gesehen habe, Wirklichkeit war oder ob ich ein inneres Bild geschaut habe.
An einem der letzten Ferientage hörte ich auf der Höhe der Post das
Gebimmel einer Kuhglocke näherkommen. Ich wartete. Aus dem toten Winkel
an der Strasse gegen Wergenstein sah ich einen Sennenhund daherkommen,
gleich hinter ihm eine grosse, drahtige Frau mit gebändigtem Kraushaar,
einen Stecken in der Hand, neben ihr die Kuh, die den Umzug eingeläutet
hatte. Hinter ihnen kam ein Pferd, auf ihm sitzend eine schöne, junge
Frau. Und dahinter trotteten, gleichmässig ausgerichtet, 2 Wollschweine
nebeneinander her.
Ich starrte auf diesen Umzug. Die vorangehende Frau schaute auch mich an, und ich sagte: „Isch das ä schööns Bild!“ (Ist das ein schönes Bild.) Und sie stimmte mir zu: „Gälled Sie!“ (Schweizer Redensart, die Zustimmung bedeutet).
War es eine Sennerin, und sah ich hier einen kleinen Alpabzug?
Diese Episode ist ein wundersamer Abschluss meiner Mathon-Ferien. Ich
bedauere nur, dass ich dieser Gruppe nicht länger nachgeschaut habe.
Jetzt weiss ich nicht, wohin sie ging, und darum bin ich unsicher, wie
ich sie einordnen muss. Vergessen werde ich sie sicher nicht.