Heute fehlte der „Tages-Anzeiger“ in unserem Briefkasten. An seiner
Stelle lag die „Neue Zürcher Zeitung“. Eine Verwechslung, die ich gut
nachvollziehen kann. Abonnierte Zeitungen und neu auch abonnierte
Wochenblätter ohne aufgedruckte Adresse zuzustellen, ist eine
anspruchsvolle Arbeit.
Meine mehrjährigen Erfahrungen als „Postaushelferin“ (Zustellung der Briefpost am Samstag) spiegeln sich in diesem Verständnis.
Für einen Rückblick habe ich mein Tagebuch von 1983 hervorgeholt.
Dort ist meine erste, noch von der Vorgängerin begleitete Tour
beschrieben. Damals brauchten wir noch Schlüssel, um die Briefkästen
innerhalb eines Hauseingangs zu bedienen. Neu waren aber die als Code
verschlüsselten Namen auf dem Tableau der Hausglocken. Ein Druck auf das
richtige Wort – und die Haustür öffnete sich. Heute müssen die
Briefkästen aussen angebracht sein, was die Arbeit wesentlich
vereinfacht.
Frau K., die mich einführte, beeindruckte mich. Sie verteilte die
Briefe in einem erschreckenden Tempo. Da, dort, hier, unten, oben,
rechts. Ein kurzer Blick auf eine Anschrift und schon hob sich der Arm
in die richtige Richtung. Ihre Arbeit pulsierte und die Briefkästen
schepperten in ihrem persönlichen Takt. Schon im 2. Haus übergab sie mir
den entsprechenden Bund. Was Frau K. verinnerlicht hatte, fehlte mir
aber noch. Zwar gründlich, aber noch zu langsam, versuchte ich, die
Adressaten zu finden und die Bürde loszuwerden. Im 3. Haus übernahm sie
dann selbst wieder das Zepter, und ich ging neben ihr her. Ihre
vielfältigen Hinweise, worauf ich ganz speziell achten müsse, kamen
locker daher. Konnte ich das alles behalten? Würde ich überhaupt den Weg
mit seinen vielen Abzweigungen wieder erkennen? Ob ich dann noch daran
denke, dass der Zugang zu den Briefkästen einmal sogar durch eine
Metzgerei und an einem andern Ort durch ein Restaurant führe? Auf
unserem gemeinsamen Weg grüsste Frau K. einige unserer Postkunden und
stellte mich als Nachfolgerin vor. Mich machte sie auch auf schwierige
Kunden aufmerksam. Die hagere Frau dort, höre das Gras wachsen und jener
Mann telefoniere regelmässig dem Chef, weil er immer etwas auszusetzen
habe.
Auf halber Tour war dann unser Handwagen leer, unsere Arbeit aber
noch nicht beendet. Es wartete ein deponierter Postsack, dessen Inhalt
wir umladen und auch noch verteilen mussten. Wichtig war, dass die
einzelnen, nummerierten Pakete in richtiger Reihenfolge verstaut wurden.
Nur so können die Pakete selber den weiteren Weg der Tour vorgeben.
Nach nur einmaliger Begleitung und doch in kurzer Zeit hatte ich
die Aufgabe dann verinnerlicht, und meine Arme reagierten ebenso
roboterhaft wie jene von Frau K., wenn ich eine Anschrift las. Und
jedesmal, wenn ich den leeren Wagen in die Sihlpost zurückbrachte,
freute ich mich, dass jetzt wieder viele wichtige Papiere an ihren
Zielen angekommen waren.
Gastarbeiter warteten immer schon vor ihrer Haustür auf die Post
aus der Heimat. Manchmal musste ich ihnen etwas Amtliches vorlesen, was
sie nicht verstanden hatten und nach Möglichkeit erklären. Da leuchtete
dann ein sonst verschlossenes Gesicht, wenn eine erwartete Mitteilung
endlich angekommen war.
Und ich wurde beschenkt. Am Morgen brachte ich jeweils nicht nur die Post in die Metzgerei Gut.
Ich gab auch meine Bestellung ab. Im Stoffsack befanden sich der Zettel
mit meinen Wünschen und das Portemonnaie mit dem nötigen Geld. Wenn ich
ihn auf dem Rückweg abholte, waren immer auch Zugaben darin. Oft hat
die liebenswürdige Frau Gut eine Flasche warme Fleischbrühe hinein
verpackt, in der ich dann zu Hause die zarten Leberknödel aufwärmen
konnte. Die ganze Familie träumt noch von dieser echten Bouillon. Diese
feine Metzgerei gibt es leider schon lange nicht mehr. Heute müssen wir
in der Stadt an vielen Orten Fleisch in der Plastikfolie kaufen. Das
widerstrebt mir immer noch.
Manchmal spüre ich ein bisschen Heimweh nach diesen Zeiten. Auch
darum, weil mein Wesen gut zu den Postboten passt. Es ist eine
Gemeinschaft eigenständiger Menschen, die sich gerne bewegen,
selbständig arbeiten und nicht darüber jammern, wenn es regnet oder
schneit. Unvergesslich ist mir der Moment, wenn um 8 Uhr die Glocke im
Sortierraum klingelte. Das war das Zeichen, dass wir ausschwärmen
konnten. Auch wer seine Tour schon vorher bereitgestellt hatte, musste
warten, bis die letzten, manchmal verspäteten Zeitungen eingetroffen
waren. Dann stürmten alle zum Lift, zwängten sich mit ihren Ladungen
hinein, und sobald sich die Tür unten öffnete, spurteten sie davon. Viel
schneller als ich es konnte.
Unterwegs durften wir die Einladung eines Wirts zu einem Kaffee
annehmen. So informierte mich der für meine Tour zuständige Chef. Die
Post schätze ein gutes Einvernehmen mit ihren Kunden. Die Gefahr, zu
lange sitzen zu bleiben, kam nicht auf. Meine Tour z. B. wurde mit 3
Stunden à Fr. 16.– entlöhnt. Vertrödelte ich die Zeit aus irgendwelchem
Grund, blieb der Lohn doch der gleiche.
Anfänglich fühlte ich etwas Stress, hatte Angst, die heiligen
Hallen der Sihlpost wären schon verschlossen, wenn ich endlich
zurückkäme. Das passierte aber nie.
Als ich den Dienst kündigte, erinnerte mich der Chef an die
PTT-Brosche, die uns als Aushilfspöstler auszeichnete. Ob ich das Depot
von Fr. 5.– zurückerhalten oder die Brosche behalten wolle. Er lachte,
als ich mich für die Brosche entschied. Das habe er erwartet.
Jetzt habe ich bei den Akten meiner Aufzeichnungen auch noch den Ausweis für Postaushelfer gefunden. Primo beobachtete mich, hatte volles Verständnis für meine Rührung.
Da heisst es: „Der Inhaber dieses Ausweises ist berechtigt, sich
zu postdienstlichen Verrichtungen in den Diensträumen des
nachverzeichneten Amtes aufzuhalten.“
Mit Stempel der Briefausgabe und Telefon-Nummer.
In Zürich-Mülligen ist im November 2007 ein neues, gigantisches
Sortierzentrum entstanden. Da habe ich keinen Zutritt mehr. Im ersten
Quartal 2008 beginnt dann der Abbau der Sihlpost in Zürich. Wie immer
sich jetzt die Verteilung abspielt, ihr letzter Dienstast ist nicht
maschinell besetzt. Es sind Menschen, die uns die Post bringen. Weil
niemand von uns perfekt ist, können sich Verwechslungen oder
Verspätungen einstellen. Gerade auch in der strengen Weihnachtszeit. Für
dieses Verständnis werbe ich, obwohl ich Perfektion grundsätzlich liebe
und sie voraussetze.
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