„Abschiedlich leben“. Diesen Begriff hat mir Karl
vermittelt, ein Verwandter aus der Elterngeneration. Er war Chronist,
lebte im Sihltal. Nach seinem 70. Geburtstag begann er, seine
umfangreiche Dia-Sammlung zu durchforsten und jenen Menschen oder
Institutionen Bilder zu verschenken, die in einem Zusammenhang mit ihnen
standen. Es konnte vorkommen, dass er plötzlich vor unserer Haustür
stand und ganz selbstverständlich annahm, dass ich Zeit hätte für eine
Dia-Schau. Ich musste ihm dann das cremefarbene Rouleau vor dem
Küchenfenster herunterlassen, damit er mir Bilder zeigen konnte, bevor
er sie weggab. Aufnahmen aus dem Zürcher Oberland, Stimmungsbilder der
Jahreszeiten, historische Gebäude usw. Ja, er wusste genau, dass wir
ähnlich schauten und von Gleichem fasziniert waren und dass mir seine
Aufnahmen gefielen.
Als er starb, sagte der Pfarrer nach der Abdankung, es sei noch
nicht bekannt, ob Karl seine Kamera ins Jenseits mitgenommen habe.
Wenn er seine Dias zum Verschenken bereit machte, erlebte er einen
Teil seines Lebens rückwärts. Gab er sie dann weg, hatte er einen für
ihn wichtigen Abschied vollzogen. Er fühlte, dass er leichter wurde. Und
als der Tod kam, waren da keine Fesseln mehr, die ihn zurückhielten.
Nachdem er sich vergewissert hatte, wie seine Arbeiten geschätzt wurden,
konnte er alles loslassen.
Nun steht dieser Titel „Abschiedlich leben“ auch über meiner
Familie. Der Besitzer unseres gemieteten Bernoulli-Reihenhauses fordert
es für die eigene Familie zurück. Er gibt uns viel Zeit für die Suche
einer neuen Behausung. Wir werden alle Jahreszeiten nochmals bewusst
erleben dürfen.
Seit 1971 leben wir hier. Wir konnten dieses Reiheneinfamilienhaus
mit seinem Garten mieten, weil der Besitzer der Meinung war, es gehöre
einer Familie. Viele Jahre redeten wir nur vom „Glückscht“, nach der
damals 7-jährigen Felicitas, die das Haus sofort als das „glückschtä“ (das glücklichste) erkannt hatte.
Nun habe ich gerade jenen Begleitbrief wieder gelesen, den der Hausmeister dem Vertrag damals beigelegt hatte. Es heisst da: „Die
Mietverträge sind, wie Sie sehen, vom Zürcher Hauseigentümerverband
ausgestellt und beinhalten verschiedene komplizierte Artikel, die
automatisch übernommen werden müssen. Ich bin jedoch überzeugt, dass wir
bei eventuellen Unstimmigkeiten bestimmt einig werden. Ich wünsche mir
verträgliche und saubere Mieter, die ich in Ihnen bestimmt ausgewählt
habe. Meine Mieter müssen sich jedoch auch wohl und zufrieden fühlen in
ihrem neuen Heim.“
Das waren beste Voraussetzungen, die sich auch erfüllt haben. Ich
erwähne diese Haltung für Aussenstehende, die vielleicht von
Klischeevorstellungen beeinflusst sind und viele Zürcher
Liegenschaftenbesitzer generell als harte Verhandlungspartner und nur
auf den eigenen Vorteil ausgerichtet einschätzen.
Nun trägt der Sohn unseres Hausmeisters die Haltung seiner Eltern
weiter. Und wir nehmen Abschied. Karl gab seine Fotos damals aus den
Händen. Und ich fotografiere jetzt erst recht. Vor allem aber nicht mit
einer Kamera, sondern mit dem Herzen.