Von Mathon im Schweizer Kanton Graubünden ist bekannt, dass es einst als „Dorf der schönen Glocken“
bezeichnet wurde. Der ansehnliche Kirchturm steht noch da, doch haben
wir nur noch eine Glocke sehen und hören können. Glocken sind für uns
immer eine Attraktion, auch deshalb, weil Primo gelegentlich ein Glockenlied aus seiner Jugend anstimmt, in dem gefragt wird „Sind die Glocken all‘ da?“ Ein Kanon, vierstimmig, der den Kindern erklären kann, wie verschiedene Glocken zu einem Geläut zusammenfinden.
Mena hörte jeweils sofort, wenn in Mathon geläutet wurde.
Sie rannte dann, wie von einer Tarantel gestochen, vors Haus. Ich musste
nachkommen. Hier sahen wir die Bewegungen der Glocke, und wir ahmten
mit unseren Armen den Klöppel nach, der die Glocke anschlägt. Am Mittag
und am Abend spielten wir dieses 5 Minuten dauernde Spiel und achteten
besonders auf das Ausklingen und die Klangwellen, die lange noch zu uns
hinüber schwangen, auch als es schon zu läuten aufgehört hatte. Mehrmals
zitierte Mena dann Grossvaters Erfahrung, wie er als kleiner Bub und
Leichtgewicht den Glockenstrick in der Bergkirche von Hallau SH ziehen
durfte und überraschend von der Glocke emporgezogen wurde. Zum Gaudi
seiner grösseren und standfesteren Cousins. Und immer wieder fragte sie,
wer hier in Mathon die Glocke schwinge. Vermutlich ein elektrischer
Motor.
Ich weiss nicht, ob uns Nachbarn bei diesem Ritual beobachtet
haben. Vielleicht erinnerten wir sie dann an die Schwarzwalduhr und an
den Kuckuck, der zur festen Stunde aus seinem Verschlag hervorkommt.
Auch die architektonische Ausstrahlung der ungleichen Türme von
Lohn und jene der alten Mathoner Kirche St. Antonius zogen uns an. Schon
bei der Anfahrt, kurz nach Zillis im Schams, als das Postauto auf den
vorgegebenen Serpentinen fuhr, machten sie auf sich aufmerksam.
Selbstbewusst, aber auch einladend, schauten sie auf uns herunter.
Von unserem Ferienhaus in Mathon konnten wir die alten Wege, die
der hügeligen Landschaft angepasst sind, überblicken. Heute dienen sie
der Anfahrt moderner Landmaschinen, um die Felder zu bewirtschaften. Die
Fahrbereiche für die Räder sind betoniert, das Innere des Wegs dem Gras
überlassen. Eine feinfühlige Lösung, die der Landschaft einen
künstlerlischen Anstrich gibt. Man könnte meinen, hier sei ein
Landschaftskalligraph tätig gewesen. Die geschwungenen Linien aller Wege
erinnern auch an Darbietungen an Turnfesten, wenn die Teilnehmenden
Stoffbänder schwingen. Ich schaute immer wieder auf sie hinunter. Und
sie lockten mich, zu ihnen zu kommen.
Die einjährige Nora hatte hier ihren Spass, wenn sie vom
Grossvater im Kinderwagen so dem Abhang entlang chauffiert wurde, dass
sie die Hände ausstrecken und die Grashalme auffangen konnte. Sie lachte
auch, wenn diese ihre Backen kitzelten. Auf diesen Wegen blieben wir
immer wieder stehen, betrachteten die Blumen, ihre Farben, ihre Formen.
Besonders gegen den Abend hin, wenn die Sonne schon etwas von ihrer
Stärke abgegeben hatte, leuchtete das Blau der kleinen Glockenblumen
wundervoll. Hier fand ich wieder einmal meinen Liebling, das Zittergras,
von dem der Dichter Karl Heinrich Waggerl schrieb: Warum am
lichten Sommertag / das Zittergras wohl zittern mag? / Im Erdreich
fühlts den Höllenwurm, / in Lüften Gottes Atemsturm. / Du Mensch, mit
deinem Hirngewicht, du spürst das nicht.
Der Blick auf dem Rückweg gehörte dann jeweils nur noch dem alten
Turm von St. Antonius, diesem standfesten, charaktervollen und sehr
alten Bauwerk. Er steht da, als wolle er alle hinaufziehen, die des
Weges kommen. Eigenartig schön ist dieser Turm auch wegen seines
allseitig offenen Glockenfensters, das die Durchsicht zum Himmelsblau
zulässt. Auf Mathons Homepage ist zu erfahren, dass die Kirche, zu der
der eindrucksvolle Turm gehört, schon im Jahre 831 beschrieben worden
sei. Heute ist sie nur noch eine geschützte Ruine, strahlt aber Würde
aus.
Im VOLG-Laden erkundigte ich mich einmal an der Kasse, wann die Kirche geöffnet sei. Da war zufällig die Organistin, Frau Vögeli,
auch am Einkaufen. Wir wurden einander bekannt gemacht, konnten ein
Treffen vereinbaren. Während sie das Orgelspiel übte, durften Primo,
Mena und ich die Kirche besuchen und ihrem Spiel zuhören.
Mena ist an allem interessiert, aber auch ein Sommervogel, der
gerne herumhüpft. So bat ich die Mama, mir die Ente, Menas Kuscheltier,
mitzugeben. Ich stelle immer wieder fest, dass sie sich für etwas
Unbekanntes, in ihren Augen auch Geheimnisvolles, öffnen kann, wenn ihr
die Ente Sicherheit gibt. Daran kann sie sich halten und sich ohne Scheu
etwas Neuem ausliefern. Während dem Orgelspiel begann sie dann leise zu
singen.
Wichtig war ihr auch der Sitzplatz. Das hölzerne Gestühl ist im
Chor mit Blumen und Ranken geschmückt, und davon war sie angetan. Sie
suchte sich die in ihren Augen schönste Blume, eine geöffnete Tulpe aus.
Hier nahm sie Platz und ich musste mich neben sie setzen. Kaum war das
Spiel aus, wollte sie sofort nach Hause, um mit dem Grossvater zusammen
solche Blumen und Dekorationen zu malen.
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