Zu den Themen 1. August und Heimat fällt mir
allerhand ein. Zuerst aus der Kindheit: Da waren die Abende unseres
Nationalfeiertags etwas aussergewöhnlich Schönes. Damals war der 1.
August noch ein normaler Arbeitstag, aber am Abend stieg man auf eine
Anhöhe, hielt sich um ein grosses Feuer auf und schaute in die Ferne
nach andern Feuern auf anderen Hügeln aus. Wir Kinder trugen ein Lampion
und erhellten so den Weg durch den dunklen Wald. So schlicht zu feiern,
blieb mir bis heute massgebend. Ich brauche keine Raketen. Sie sind mir
zu laut, erschrecken die Tiere, verschmutzen die Luft. Sie stören mich
und sie zerstören die stillen Gefühle der Heimat gegenüber. Denn an
diesem Abend möchte ich besonders über mein Leben hier in der Schweiz
sinnieren.
Ja, ich gebrauche das Wort Heimat immer noch, auch wenn es
schon Politiker gegeben hat, die es gern abgeschafft hätten. Heimat ist
ein Begriff wie tausend andere, der positiv oder negativ eingesetzt oder
missbraucht werden kann, je nach persönlichen Erfahrungen und den
Einflüssen von Eltern und Umwelt. Für mich ist der Begriff wohlwollend
besetzt. Heimat ist der Ort, wo ich meine Wurzeln habe, wo ich auf die
Welt gekommen bin, meine Augen erstmals geöffnet und meine ersten
Entdeckungen gemacht habe. Heimat ist mir seit langem das Leben mit
meinem Ehemann Primo. Zur Heimat gehört meine Sprache. Der Ort
auch, wo ich verstanden werde. Und Heimat im grösseren Sinn ist das Land
und das Volk, dem ich angehöre. Ich liebe die Landschaft und die Berge
und die Eigenheiten und Sprachen in allen Kantonen der Schweiz. Ich
schätze Werte, die mir hier vermittelt wurden. Je älter ich werde, desto
öfter fühle ich aber Heimweh im eigenen Land. Viele Werte sind uns
abhanden gekommen, ohne dass sich neue etablierten. Dass heute alles nur
materiell bewertet wird, der Wirtschaft dienen muss und von ihr
gesteuert ist, das gehört nicht mehr zu meinem Menschsein in der
Schweiz. Ich distanziere mich auch vom Rassismus, der sich hier
eingenistet hat. Ich spüre einfach, dass ich ein Auslaufmodell geworden
bin.
Am diesjährigen 1. August werden die Enkelkinder den Abend beleben, und auf sie soll er zugeschnitten sein. Mena
hat dem Grossvater bereits das Schweizer-Fahnentuch übergeben, dass er
es an einem passenden Stecken befestige. Dieses Tuch hat sie von ihrer
Tante zur Geburt erhalten. Und es hiess dazu, Mama solle sie darin
einwickeln, damit sie eine rechte Schweizerin werde.
Mena ist in Kanada zur Welt gekommen, geht in Paris zur Schule, hat
einen Schweizer Pass und einen Vater, der aus dem mittleren Osten
stammt. Es wachsen da verschiedene Einflüsse in ihr, die alle am
Heimatgefühl mitgestalten. Sie wird den Begriff einmal anders definieren
als ich. Und das ist auch gut so.
Müsste ich Heimat fotografieren, wäre es ein altes Dampfschiff auf
dem türkisfarbenen Urnersee, an dessen Heck die Schweizerfahne flattert.
Mein Erstlingseindruck von der Schulreise 1951 aufs Rütli. Dieses Bild
trage ich als kostbaren Schatz in mir.
Ich selbst habe erst begriffen, was Heimat ist, als ich in die
Fremde ging. Da stürmte so viel Unbekanntes und Unverständliches auf
mich ein und ich konnte mich nicht präzise ausdrücken. Vor allem gab es
anfänglich keine Sprache, die mein Befinden oder meine Gefühle hätten
beschreiben können. Das ging damals Vielen so. Wir hatten keine
Reiseerfahrung, kannten andere Völker höchstens aus Büchern, vielleicht
noch von Radio-Reportagen.
Wenn ich jetzt erzähle, dass mich meine Freundin Pia, auch
eine Schweizerin, jeden Sonntag in meinem Zimmer an der Rue St-Placide
in Paris besuchte und dass wir dann meistens die damals gebräuchliche
Schweizer Vaterlandshymne sangen, um unser Heimweh noch ein bisschen zu
steigern, dann werden viele, die das lesen, den Kopf schütteln. Ich
jetzt auch. Nicht deswegen, weil wir ein wichtiges Lied, das unserem
Herkunftsland gewidmet war, anstimmten, sondern über dessen Inhalt. Ich
entnehme den Text dem Liederbuch „S Liedergärtli“ mit Untertitel „Was
wir Mädchen singen“.
Ist es da verwunderlich, dass wir damals anders dachten und dass
die Frauenrolle eine andere war? Wir sangen dieses Lied, ohne den Text
wirklich zu verstehen. Es war für uns einfach etwas Vertrautes, das wir
von feierlichen Momenten her kannten.
Meine Schlummermutter, eine vornehme Französin, fragte mich einmal,
warum wir auch die englische Nationalhymne sängen, wir seien doch
Schweizerinnen. Die Melodie war für beide Länder die gleiche. Der Text
aber verschieden.
Vaterlandshymne
1. Rufst du, mein Vaterland, sieh‘ uns mit Herz und Hand all‘
dir geweiht. Heil dir, Helvetia, hast noch der Söhne ja, wie sie Sankt
Jakob sah, freudvoll zum Streit!
2. Da, wo der Alpenkreis nicht dich zu schützen weiss, Wall dir
von Gott, steh’n wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich, froh
noch im Todesstreich, Schmerz uns ein Spott.
3. Frei und auf ewig frei, ruf‘ unser Feldgeschrei, hall‘ unser
Herz! Frei lebt, wer sterben kann, frei, wer die Heldenbahn, steigt als
ein Held hinan, nie hinterwärts.
4. Doch wo der Friede lacht, nach der empörten Schlacht,
drangvollem Spiel, o da viel schöner, traun, fern von der Waffen Graun’,
Heimat, dein Glück zu baun’n, winkt uns das Ziel.
Dieses Lied verkörperte die wehrhafte Schweiz und lehnte sich
sicher an die söldnerische Vergangenheit an. Die Frauen sind verborgen
in der Heimat und im Glück, die die Männer fern von der Waffen Graun
bauen wollen.
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