Die Vorweihnachtszeit breitet sich aus. An den Adventskalendern
werden ab 1. Dezember die Türen geöffnet. Heute sind es manchmal auch
Fächer, die zum Vorschein kommen, denen ein kleines Geschenk entnommen
werden kann.
Anders früher. Da war alles viel bescheidener und die geheimnisvolle Adventszeit noch ganz unter dem Thema Warten und Vorbereiten
zu erleben. Heute, in einer Zeit grosser Beschleunigung, wird der
Advent mit intensiver Lichterfülle und vielen verlockenden
Veranstaltungen eingefahren, als wären wir schon am Ziel.
Es gibt wieder viel zu bewundern. Die Kreativität schlägt
Purzelbäume. Manche umgesetzte Idee fasziniert mich. So auch die
Schaufenster des Modehauses Grieder Les Boutiques (früher
Seidengrieder) an der Zürcher Bahnhofstrasse. Wo normalerweise vornehme
Kleider ausgestellt sind, türmen sich jetzt in allen Fenstern nur rosa
und hellbau angestrahlte Glas- oder Plexiglaskugeln, die aus einem
Märchenbuch vom Himmel gefallen sind. Aus diesem Kugelberg bewegen sich
Symbole aus der Märchenwelt auf und ab. Das wird den Kindern gefallen.
Das Spinnrad, der grosse Ring mit funkelndem Stein, die
Siebenmeilenstiefel, das Königsschloss usw. Diese Traumwelt ist packend
dargestellt. Träume und Schäume, dachte ich sofort, als ich das sah.
Können sich Menschen, die von grosser Armut betroffen sind, an
solchen Darstellungen auch freuen? Diese sind ja eine Art Geschenk an
die Passanten, eine Art Theater, eine kurze Entführung in die
Märchenwelt. Oder macht ihnen das grosse Weihnachtsgeschäft noch
schmerzlicher bewusst, wie sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter
ausbreitet? Darüber sinniere ich jetzt, nachdem ich die Bild-Ausstellung
im Sozialzentrum Albisriederhaus* angeschaut habe. Da ist die Armut das
Thema. Die ausgestellten Linol- und Holzschnitte gehören später in eine
Wanderausstellung der Bewegung „ATD Vierte Welt“ mit dem Titel „Armut – Leben in Würde, ein Menschenrecht.“
Die Bilder sind sehr ausdrucksstark und offensichtlich unter
künstlerischer Anleitung entstanden. Sie liessen mich etwas schauen, das
ich als tief weihnachtlich empfinde. Es ist ein Wissen um die wahre
Mitmenschlichkeit, auf die die Betroffenen warten und hoffen. Zu einem
Familienbild z. B. heisst es: „15 verschiedene Spezialisten wollten
unsere Probleme regeln, obwohl sie uns kaum kennen. Jedesmal, wenn es
läutet, hoffe ich, dass ein Freund vor der Tür steht.“ Die Familie,
die hier gesprochen hat, ist im Bild in einem fahlen, gelben Licht
gedruckt. Rund um diese Mitte sind richtungsweisende, also befehlende
und farblich kontrastierende Hände eingekerbt.
Oder zu einem anderen Bild steht geschrieben: „Meine Nachbarin
suchte einen Platz für einen hilfsbedürftigen Menschen. Ich schlug vor,
dass er bei uns wohnen könne. Wir haben ja ein freies Zimmer. Aber da
sagte man uns: Sie haben ja selber nicht genug Geld. Ich sagte, ich habe
genug zum Leben. Es reicht. Man versteht nicht, dass auch jene, die
wenig haben, helfen können.“
Zu den prägenden Eindrücken meiner Kinderzeit gehörten im Advent die Engel mit den Spruchbändern, auf denen vom „Frieden den Menschen auf Erden“
zu lesen war. Darum hat mich wohl die Definition des „Friedens“,
aufgeschrieben von einer von Armut betroffenen Person, sofort
angesprochen:
„Frieden bedeutet, dass die Familie trotz Armut zusammen bleibt,
dass unsere Kinder zu essen haben und nicht bei den Nachbarn betteln
müssen;
dass wir keinen Hass und keine Bitterkeit in unserem Herzen haben;
dass ich andern helfen kann;
und dass wir mit unseren Nachbarn und anderen Leuten gut auskommen.“
*Die Ausstellung im Sozialzentrum Albisriederhaus, Albisriederstrasse 330, 8047 Zürich
war bis zum 13. Dezember 2006 offen.