Dienstag, 30. Mai 2006

Philosophie im Alltag: Sinnfragen selber beantworten

Meine Mutter legte jeweils ein frisches Tischtuch auf unseren Esstisch, wenn sie unsere Küche am Freitagnachmittag gründlich geputzt hatte. Zwar gehörten Tischtücher nicht in unsere Alltagskultur. Sie waren den Festtagen vorbehalten. Doch Mutter gönnte sich für 2 oder 3 Stunden einen frischen Anblick, für sich ganz allein. Noch vor dem Nachtessen zog sie das Tuch dann wieder ein, denn eines ihrer lebhaften 5 Kinder hätte es sicher während des Nachtessens schon wieder verschmutzt. Waschen war damals eine aufwändige und mühselige Arbeit. Ich verstehe sie und bewundere auch heute noch ihre Fähigkeit, den immer gleichen und immer wiederkehrenden Arbeiten eine Freude abzugewinnen.

Der Sinn dieser Aufgaben war ihr klar. Sie sorgte für uns, weil sie für ein sauberes und gemütliches Haus, für Hygiene und Gesundheit sorgte. Diese Aufgabe wurde unbewusst bejaht und nie in Frage gestellt. Sie hatte den Sinn in sich.

Wenn ich heute meinen Küchenboden fege, denke ich oft an sie und an das Vorbild, das sie mir gab. Auch ich störe mich nicht an den einfachen Arbeiten, denn ich erlebe immer wieder, dass sie nicht nur unverzichtbar sind, sondern auch mir gut tun. Kleinere Rückenprobleme z. B. lösen sich auf, wenn ich den Boden auf den Knien schrubbe. Die Wirbelsäule kann sich entspannen und locker hin- und her schwingen. Auch im Kopf findet dann eine Reinigung statt. Gedanken ordnen sich und oft erreichen mich Antworten auf offene Fragen. Oder ich finde den Inhalt eines Texts für das Blog-Atelier.

Von den Strassenwischern, die einst ohne mechanische Putzmaschinen für Ordnung auf den Strassen sorgten, wurde früher mit Achtung und Respekt gesprochen. Es hiess, sie seien Philosophen. Ihre Arbeit ging ihnen leicht von der Hand und weil es immer die gleichen oder ähnliche Bewegungen waren, die sie vollführen mussten, waren diese eingeschliffen und sie selbst offen und frei für Gedanken, für Zusammenhänge und Sinnfragen. Auch Schreiner von einst, als sie noch Handwerker waren, wurden in diese Kategorie eingereiht. Wenn sie stundenlang Holzflächen schliffen, waren auch sie zum Philosophieren frei. Ihre Arbeit für andere beschenkte sie selbst.

Jede Arbeit, auch wenn sie eine Sisyphusarbeit ist, also immer wieder zerstört wird und von neuem erbracht werden muss, ist wertvoll. (Wert voll.) Sinn und Wert müssen wir aber unseren Aufgaben immer selber geben. Das können andere nicht für uns tun.

Montag, 22. Mai 2006

Ein Beitrag zur Lesekultur: 10 Jahre KrimiTHEK in Zürich

Am 19. Mai 1996 legten Renate Bösch Hess und Verena Jacot ihre eigenen Krimis zusammen und gründeten mit ihren 830 Büchern die KrimiTHEK, eine Bibliothek für Kriminalromane. Das geeignete Lokal fanden sie im Gemeinschaftszentrum Schindlergut an der Kronenstrasse in Zürich. 240 Mitglieder, mehrheitlich Frauen, sind heute eingeschriebene Mitglieder. Davon zählen gut 100 zu den aktiven Benützerinnen, die sich durchschnittlich ein- bis zweimal im Monat mit Neuerscheinungen oder Krimis ihrer Lieblingsautoren eindecken. Heute engagieren sich neben den Gründerinnen weitere vier Frauen und ein Mann in dieser Bibliothek.

Wie aus ihrer Homepage ersichtlich, ist die Begeisterung aller Beteiligten ungebrochen. Die Mitarbeit ist Bedürfnis und Ehrensache. Das erklärt, dass diese völlig unabhängige Klein-Bibliothek gross dasteht und sich feiern lassen kann.

Wie an vorangegangenen Veranstaltungen mit Lesungen prominenter Krimi-Autoren, empfingen die Feiernden alle Gäste wieder mit einem fürstlichen Apéro unter Linden, bevor die Lesung auf dem Heuboden im ehemaligen Gesindehaus, das zum Gut der Familie Schindler-Escher gehörte, anfing. Villa und dazugehörige Gebäude entstanden 1871 und sind umgeben von einer idyllischen Parklandschaft. Im Sommer können hier Liegestühle gemietet und Bücher aus der KrimiTHEK gleich vor Ort verschlungen werden.

Am Abend der Jubiläumsfeier las Petra Ivanov aus ihrem Roman „Tote Träume“. Diese Autorin thematisiert aktuelle Tagespolitik, unter anderem die Verschärfung im Asylbereich in der Schweiz. Sie arbeitet als Redaktorin bei HEKS, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. In Zürich sind ihre Bücher vermutlich beliebt, weil die Schauplätze bekannt sind und Leserinnen und Leser ganz nahe an der Geschichte mitfiebern können.

Auf die Frage: „Was fasziniert am Kriminalroman?“, sagte eine Mitarbeiterin spontan: Die Spannung. Renate Bösch schätzt diese auch, betont aber, dass sie die Auseinandersetzung von Gut und Böse und dem Graubereich dazwischen fasziniert.

Umrahmt war die Feier von Klängen der Frauen, die das Ensemble „Vocaholics“ ausmachen. „Mörderischer Klangteppich“ nannten sie an diesem Abend ihren Beitrag. Versteckt hinter Mafia-Brillen sangen sie unheimliche Lieder und Töne und bereiteten so das Ambiente für die Lesung vor.

Als etwas Einmaliges erlebe ich jeweils die Atmosphäre auf diesem Heuboden. Der ganze Komplex des Gesindehauses ist eine architektonische Perle. Aus Brettern und mit ornamentalen Öffnungen gestaltet, dürfen Wände und Front nicht nur nützlich, sondern auch ausgesprochen schön sein. Der Anblick erinnert an Scherenschnitte oder an Loch-Strickmuster. Luft und Licht können die Räume durchfluten. Das war wichtig für das Heu, damit es trocken blieb. Jalousien und Lukarnen spielen hier oben zusätzlich mit den Farben der Bäume aus dem Hof. Die Ausschnitte im Holz werden mit ihrem Grün hinterlegt.

Nach den letzten Klängen der Vocaholics-Frauen kehrten wir alle wieder in unsere Alltagswelt zurück, vorbei am runden Mittelpunkt mit den Linden in diesem Hof zwischen Villa und Gesindehaus. Hier lachte und scherzte die Gesellschaft, ass und trank und feierte die 10-jährige KrimiTHEK.

Lindenbäume sind Symbole des Friedens. Unter Linden wurden auch in alter Zeit Feste gefeiert, Versammlungen gehalten und Gerichtsverhandlungen geführt. Von Paul Guggenbühl, dem Baum- und Holzforscher, weiss ich zudem, dass zu Zeiten der Germanen „weithin sichtbare Linden auf Hügelkuppen als Freibäume galten und wer ihr schützendes Laubdach erreichte, durfte nicht gefasst und gerichtet werden.“

Ganz im Sinne von Renate Böschs Einsichten aus ihrer immensen Kriminalgeschichten-Erfahrung.

Dienstag, 16. Mai 2006

Sommerzeit: In den Höfen von Zürich wird gesungen

Eine bezaubernde Idee. Höfe zum Erklingen bringen. Der grosse Hof, der zu den Gebäuden des Zürcher Bezirksgebäudes gehört, kann normalerweise nicht betreten werden. Schwere Eisentore sorgen dafür. An diesem Freitagabend (12. Mai 2006) aber sind sie weit offen. Offen auch für feine Töne und Schwingungen, auf dass sie durch die Mauern auch zu jenen dringen können, die straffällig geworden sind. Hier befindet sich das Bezirksgefängnis. Hinter der vergitterten Fassade sind einige offene Oblichter auszumachen.

An der Eröffnungsveranstaltung „zürcher HOF gesang“ treten verschiedene Chöre auf: La Chanson Romande de Zürich, Jugendliche mit ihrem Rägebogechor aus Spreitenbach, Salti Musicali, die Stadtzürcher Jodler-Vereinigung und die Alphornbläservereinigung Zürich-Stadt.

Auf diesem weiten Platz, der heute Abend wie ein Dorfplatz erscheint, können sich Sänger und Alphornbläser an verschiedenen Orten aufstellen und einander ablösen. Ist eine Darbietung beendet, erklingt anderswo bereits die nächste. Es wehen Töne wie Wellen über den Platz hinweg. Ich bemerke, dass auch junge, urbane Menschen fasziniert sind und ihre Körper leicht mitschwingen. Der Hof ist zur Oase geworden. Von alten Melodien getragen, finden wir uns zusammen. Da sind zwar die Sängerinnen und Sänger in ihrer traditionellen Tracht und die Alphornbläser in ihren blauen Kutten. Aber darunter sind alles Menschen, die in Zürich leben und arbeiten oder gearbeitet haben. Was uns an diesem Abend verbindet, das sind die Klänge unserer Urmusik, Töne von weit her, die uns mit unseren Vorfahren verbinden. Und die jungen Sängerinnen und Sänger weisen bereits einen Weg in die Zukunft.

Der Anfang ist gemacht. Bis Ende Mai werden noch viele Höfe ihre Resonanz erleben dürfen und zu Treffpunkten der Anwohner werden. 60 Chöre singen in dieser Zeit in 160 Hinter- und Innenhöfen von Zürich. Es wird gehofft, dass dadurch manchem jetzt noch trostlosen Ort ein neues, schöneres Leben geschenkt wird und dass er zu einem Treffpunkt unter Nachbarn werden darf.

Das ist Kultur. Dem Initianten, Andreas Diethelm, sei Dank.

Dienstag, 9. Mai 2006

Zweitklässler fragten nach Schule und Leben von einst

Ort: Primarschule Limmatschulhaus im Zürcher Industriequartier.

Zweitklässler sitzen dem für sie alten, bärtigen Mann gegenüber. Primo, mein Ehemann, wurde eingeladen, über die Schule von einst zu berichten.

Kinder und Lehrerinnen halten sich die Ohren zu, als er zu Beginn auf einer Schiefertafel kritzelt. So tönte es früher in den Schulstuben. Schreiben lernte man zuerst mit dem Griffel. Je verkrampfter die Versuche gemacht wurden, desto grösser der Lärm. Erst später kam das Heft aus Papier dazu. Und die Tinte, diese Dokumenten sichere Flüssigkeit, die wir wohl alle einmal verflucht haben. Die Kinder staunen. Unsere Probleme kennen sie nicht mehr. Die Füllfeder hat sie alle gelöst. Primo zeigt den Federhalter mit der spitzen Feder und ebenso das Gefäss mit der Tinte. Er erzählt, wie die Schüler von damals auf Schuljahresende hin die Pultflächen mit Schleifpapier von Tintenspritzern befreien und sie neu einwachsen mussten. Er erzählt auch, dass den Kindern zu Hause das Tintengefäss umfallen und nicht mehr weg zu bringende Flecken verursachen konnte. In vielen Familien gab es Schelte wegen Tintenflecken in Tischtüchern und Teppichen. Das waren damals kleinere Katastrophen.

Und er hat Fotos auf Folien von den eigenen Klassenfotos mitgebracht, damit die Kinder sehen können, dass er am gleichen Ort zur Schule ging. Die Gruppe, damals 36 Schülerinnen und Schüler, stehen vor dem mit Steinhauer-Kunst gestalteten Brunnen. Ihn und seine Symbolfiguren erkennen sie sofort. Aber sie staunen über die Grösse der Klasse von einst. Die ihre umfasst nur noch 16 Personen, Kinder aus verschiedensten Kulturen.

Ein Zufall: Auch unsere Zweitgeborene kam seinerzeit in eine Wegmüller-Klasse. Primo wurde im ersten Klassenzug dieser Lehrerin und Letizia im letzten unterrichtet. Da waren es noch 27 Schülerinnen und Schüler und bereits 22 aus ausländischen Familien und nur noch 5 Schweizer Kinder.

Die Foto von 1947 zeigt Buben und Mädchen, die heute als „Kids“ bezeichnet würden, wenn die Jahreszahl zur Foto fehlte. Offene, witzige, selbstbewusste Persönlichkeiten schauen einen an. Ein Bub könnte ohne weiteres als Harry Potter durchgehen. 2 Knaben tragen einen Veston (den „Tschope“), weil die Lehrerin informiert hatte, dass der Fotograf kommen werde. Wer es nicht vergass, das bevorstehende Ereignis zu Hause zu melden, kam in den so genannten Sonntagskleidern daher.

Sonntagskleider, äääh, was ist das?

Dann jaulen sie auf, als Primo auf den lustigen Bub hinweist, den er selber war. Und sofort stellen sich Fragen: Warum tragen diese Kinder Bergschuhe? Die Foto entstand im Winter. Fast alle Kinder tragen hier schwere Bergschuhe, das war üblich.

Was sind das für komische Hosen? Knickerbocker. Und die Knaben, die keine Knickerbocker anhaben, was tragen sie? Kurze Hosen durchs ganze Jahr und im Winter darunter wollene Strümpfe. Gab es denn noch keine Jeans? Nein, noch lange nicht.

Warum tragen einige Mädchen eine Schürze? Die Kleider mussten geschont werden. Eine Schürze aus Baumwolle war einfacher zu waschen als ein Kleid aus Wollstoff.

Warum tragen 2 Knaben ein Veston? Früher gab es keine eigentliche Kinderbekleidung. (Diese wurde erst in den 70er-Jahren entworfen und eingeführt.)

Eine 2. Foto von 1946 zeigt die Klasse im Frühjahr. Einige Knaben tragen keine Socken, stecken barfuss in den Schuhen. Das wird auch rasch bemerkt. Warum strickte die Mutter keine Socken? Diese Frage tönt sehr fordernd.

Eine weitere Foto vom einstigen Schulhof verwirrt zuerst. Heute sind dort Sandkasten und Spielgeräte installiert. Früher fanden hier Ballspiele statt. Der Raum sieht jetzt viel kleiner aus und hat doch seine Masse behalten. Eine weitere Aufnahme kann sofort eingeordnet werden. Lautstark kommt jeweils die Zustimmung.

Es entwickeln sich noch andere Fragen. Hatten Sie Schwimmunterricht? Ja, aber nicht im Hallenbad. Nur im See. Wouw! Und zu Hause hatten nicht alle Familien eine Badewanne. Darum ging man am Samstag ins öffentliche Bad im Limmathaus und badete dort in einer Badewanne. (Dieses öffentliche Bad gibt es immer noch.)

Wo schliefen Sie? In der Stube. Die beiden Betten für meinen Bruder und mich waren tagsüber Sofas. Am Abend bedeckte Mutter diese mit Leintuch und Bettzeug. Wenn Besuch da war, mussten wir warten, bis dieser weg ging, damit wir schlafen konnten.

Ein solches Bett haben wir auch, aber im eigenen Zimmer, tönt es aus mehreren Ecken.

Schliefen Sie auch im Pyjama? Nein. Wir kannten nur das Nachthemd. Ein Hemd, das viel länger war, als das gewöhnliche Männerhemd.

Hatten Sie Fernsehen? Es war noch nicht erfunden.

Hatten Sie Elektrizität? Ja. Dafür mussten wir Münzen in einen Apparat werfen. Und dann ging manchmal plötzlich das Licht aus, weil wir vergessen hatten, wieder Geldstücke einzuwerfen.

Ein Mädchen aus dem Balkan sagt dazu, sie kenne das. In ihrem Dorf würde das Licht oft ausgehen. Sie macht dazu eine abfallende Bewegung. Da müsse man warten. Auf einmal komme es zurück.

Was mich erstaunt: Es werden keine Fragen nach Strafen gestellt. Z. B.: Mussten Sie auch Strafaufgaben machen?

Das Interesse an der Kleidung ist sehr gross.

Primo hatte sich noch vorbereitet, den Kindern vom weiteren Umfeld dieses Schulhauses zu erzählen, doch da war die Zeit schon um.

Er wollte ihnen beschreiben, wo die Eisenbahnwagen mit den Südfrüchten aus Italien ankamen. Wenn beim Ausladen angefaulte Früchte entdeckt wurden, schnitten freundliche Arbeiter den schimmligen Teil weg und verschenkten die andere Hälfte einem Kind. Orangen waren damals exotische Früchte und Luxus. Kein Wunder, dass die Schüler gerne an diesem Ort herumschlichen.

Zu Primos Erinnerungen gehört auch die Ankunft eines Walfisches auf offenen Güterwaggons der SBB im Bereich Sihlquai. Gegen ein Eintrittsgeld durfte er besichtigt werden. Er stank fürchterlich.

Und zu den Zeiten des 2. Weltkrieges musste auch Primo mit seiner Mutter im Limmathaus jeden Monat die Karte mit den Bons abholen, die die Familie berechtigte, Brot und andere Lebensmittel einzukaufen.

Und unauslöschlich präsent sind ihm die Kirchenglocken geblieben, die in der ganzen Stadt läuteten, als der Krieg zu Ende war. Es wurde ihnen dazu gesagt, dass jetzt überall auf der ganzen Welt – und damit meinte man wohl in ganz Europa – die Friedensglocken läuten würden.

Mittwoch, 3. Mai 2006

Mit Robert Walser und Emil Nolde im Berner Oberland

Robert Walser hat geschrieben: „Wie müde macht dich das Leben, wenn du keinen tragenden, emporhebenden Gedanken, keine Anschauung, Betrachtung kennst, die dich mit den Enttäuschungen, die im Leben liegen, freundlich aussöhnen.“

An dieses Wort denke ich öfters, wenn ich ausfliegen und in der Höhe Übersicht gewinnen kann. Wohl verstehe ich Walsers Worte auch als philosophische Aufforderung, sich den Sinnfragen zu stellen, aber ebenso sind sie mir nahe, wenn ich meinen Alltag für eine Weile verlassen und in die Berge gehen kann. Dann verwirklichen sich beide Seiten seiner Gedanken. Die innere und äussere Sicht weitet sich.

Diesmal geschah das im Berner Oberland in der wohltuend ruhigen Zwischensaison und während des erwachenden Bergfrühlings. Ohne Tourismus-Rummel. Ohne Sensationen, die von Menschen gemacht werden. Zu sehen gab es genug: Seen, Berge und Alpen in vielen Variationen und das Lichtspiel auf sie. Und in Mürren die prominenten schneebedeckten Viertausender Eiger, Mönch und Jungfrau. Aber auch die Matten, denen eben erst die Schneedecke weggezogen worden ist. Die Schmelze, die Bächlein, die sich ihre Wege suchen, kaum sind sie der Starre entronnen. Und die durchsichtig weissen und violetten Krokusse, die zu tausenden erblüht sind. Da dachte ich an Emil Nolde, an sein Gemälde „Der grosse Gärtner“, in dem er jene Kraft darstellte, die alles Wachstum lenkt und aufrichtet.

Beim Anblick der Jungfrau nochmals Bezüge zu Nolde, zu seinen Bergpostkarten von 1894 mit den Silhouetten der Massive. Unter diese gestaltete er Gesichter, mit denen er die Berge personifizierte. Die Jungfrau mit Hut und Schleier, der Mönch als dreister Typ, Eiger als Fabelfigur. Und von der Jungfrau her, vermutlich im Stechschritt marschierend, 3 kleine, selbstbewusste Bergsteiger mit Rucksack und Pickel.

Auch das „Hardermannli“ sei einst ein Mönch gewesen, erfuhr ich aus einer Publikation von „Interlaken Tourismus“. Meine Gastgeberin machte mich schon am ersten Tag auf diese Figur aufmerksam. Fündig wurde ich am Harder, dem Hausberg von Interlaken. Es ist ein wildes Männerantlitz im Felsgestein, von der Natur erschaffen. Von Wald umgeben. Es sind auch weitere Gestalten zu erkennen. Eine Frau? Kinder? Es ranken sich Geschichten und ein Brauchtum um diese Erscheinung. Todesfälle beim Wandern oder Bergsteigen in seinem Hoheitsgebiet würden oft dieser Sagengestalt angelastet, wurde mir erzählt.

Die Legende dazu: Vor langer Zeit verfolgte einmal ein Mönch hoch am Harder ein Unterseener Mädchen, das Holz sammelte. Das Mädchen floh, stürzte aber über eine Felswand hinaus und kam ums Leben. Als Strafe wurde der Mönch zu Stein und blickt seither als „Hardermannli“ auf das Bödeli hinunter. Diese Figur ist nicht zu übersehen. Auch in der Bäckerei in Matten ist sie vertreten. Dort wirbt ein feines, dunkles Harderbrot mit spitzen Ohren für den Aussichtsberg.

Auf den Fahrten der Lütschine entlang wurden mir die Wunden der Überflutungs-Katastrophe vom letzten Sommer gezeigt. Keine Foto konnte mir bis anhin das Ausmass dieser Sintflut zeigen. Unglaublich der Platzanspruch der verheerenden Wasser und beeindruckend nun die Aufräumarbeiten, die neue Brücke, die Verbesserungen an den Flussbetten, die gefällten Bäume und Sträucher. Und die Lütschine fliesst heute scheinheilig brav, wie wenn nichts geschehen wäre.

Im Umfeld von Wilderswil beobachtete ich einen Bauer, wie er den Humus liebevoll auf seinem Land verteilte, vielleicht neu auftrug. Sein Feld erschien mir geschunden und blank. Das grosse Wasser hatte offensichtlich die oberste Schutzschicht weggetragen. Und wieder musste ich an Walser denken, an den eingangs erwähnten Text und an den „grossen Gärtner“, der unsere Mitarbeit braucht, um das, was geknickt wurde, wieder aufzurichten. Das gilt auch für Menschen, nicht nur für Pflanzen.