Montag, 17. April 2006

Stadthaus Zürich: Treffpunkt von Verwaltung und Kunst

Wenn ich ins Stadthaus von Zürich gehe, erinnere ich mich manchmal an meine Lehrzeit. Hier musste ich jeden Monat mit einer Namensliste in der Einwohnerkontrolle vorsprechen und Adressänderungen verschwundener oder säumiger Kunden erfragen. Der Verlag, in dem ich die kaufmännische Lehre absolvierte, belieferte nicht nur Buchhandlungen. Er beschäftigte auch Hausierer, damals Vertreter genannt, die das Verlagssortiment mit wertvollen und für damalige Verhältnisse teuren Büchern an den Haustüren anboten.

Unter diesen Männern waren auch Schlaumeier und Betrüger. Wie sich später herausstellte, trafen sich diese dubiosen Gestalten mit Hausierern aus anderen Branchen jeweils im Bahnhofbuffet und unterschrieben sich gegenseitig fiktive Bestellungen. Die Adressen entnahmen sie dem „Tagblatt“ aus der Rubrik „Bestattungen“. Sie wählten ein Datum vor dem Todestag und fühlten sich sicher, dass ihnen in dieser Situation die Provision zustünde. Als dann auffällig viele der ausgeführten Bestellungen mit dem Vermerk „gestorben“ zurückkamen, flog der Schwindel auf.

Heute komme ich aber wegen Mike van Audenhove hieher, denn das Stadthaus ist nicht nur ein Haus der Verwaltung, sondern auch ein Ort für spannende Ausstellungen. Es wird hier gerade das Schaffen des belgisch-amerikanischen Comic-Zeichners gezeigt und das zehnjährige Schaffen in und für Zürich gefeiert. Die Zeichnungen sind hier vielfach vergrössert vorzufinden. Es ist sogar möglich, den Figuren gegenüber zu treten.

Mike zeichnete bis anhin jede Woche für das Ausgehmagazin des „Tages-Anzeigers“, den „züritipp“, eine Episode, die er in unserer Stadt vorgefunden hat. Ich stelle mir vor, dass er die oben beschriebene Betrüger-Geschichte auch dargestellt hätte, wäre sie in der Gegenwart vorgekommen. Wie hätte er die Pointe wohl gestaltet? Alles wird grundsätzlich wohlwollend dargestellt und nicht verurteilt. Er beschreibt uns und unsere Macken, die Bewertung überlässt er den Betrachtenden.

Auf der Rückseite seines dritten Buchs lese ich: „Jede Stadt hat den Chronisten, den sie verdient, aber Zürich ist mit Mike über Gebühr beschenkt.“ Ja, so habe ich sein Wohlwollen auch immer eingestuft. Sein Humor wirkt im besten Sinne des Wortes erheiternd. Er lehrt uns, über Unzulänglichkeiten zu lächeln. Der Häme gibt er keinen Raum. Zürich mit Mike ist eine Spur fröhlicher. Seine Arbeiten hätten Kultstatus, wird gesagt.

In einer Vitrine sind van Audenhoves Malkasten und seine Skizzenbücher zu sehen. Eine leise Ahnung ergreift uns, wie aufwändig die Arbeit für jede Geschichte war. Letizia, die mich durch die Ausstellung begleitet, sieht sofort die beschrifteten Farbtabletten im Malkasten. Wir lesen da: Häuser, Velo, Nebel, Pulli, Jacke, Treppe, Tram usw. Jede Szene und deren Umgebung muss authentisch und erkennbar sein und war es auch.

Unten in der Schalterhalle, wo sich Einwohner an- oder abmelden, stosse ich noch auf die beinahe lebensgrossen Figuren meines Lieblings-Comics. Thema: Am SBB-Schalter. Die Geschichte einer alten Frau, die in aller Seelenruhe ihre Fragen stellt, derweil sich hinter ihrem Rücken eine grosse Schlange von Wartenden bildet. Ihr Reiseziel ist über verschiedene Strecken erreichbar. Sie ist unschlüssig und lässt sich informieren. Nein, umsteigen könne sie auf keinen Fall. „Wüssed Sie, wäge de Chnüü.“ (Wegen ihrer schwachen Knie.) Und sie sinniert weiter: „Fröge choscht nüt, säg ich mir immer.“ (Fragen koste nichts, sage sie sich immer.) So geht es weiter. Dann erscheinen ihr die Preise zu hoch. Sie sagt „Jesses Gott, wänn ich dänke, wie viels früener koschtet hät. Und s Billett isch erscht no us Karton gsi.“ (Sie erschrickt und denkt an früher, wie viel billiger die Fahrt damals gewesen und das Billett sogar noch aus Karton hergestellt worden sei.)

Hier unten in der Eingangshalle, die eigentlich ein überdeckter Hof ist, öffnet sich die Tür von alleine, wenn jemand in ihr Umfeld tritt. Und sie hat viel zu tun. Zu öffnen und zu schliessen. Es kommen ganze Schulklassen, die „Zürich by Mike“ anschauen müssen oder wollen. Es treffen Brautleute in rauschenden Kleidern für die Ziviltrauung ein. Es werden Blumen hineingetragen. Am runden Tisch mit seinen Nischen und den Tintenfässli für allfällige Dokumenten-Unterzeichnungen sehen wir vergessene Kartonteller mit restlichem Apéro-Gebäck. Hier wurde also auch gefeiert. In der Mitte dieses Raums der Informationsschalter. Eine Dame gibt Auskunft und Wegweisung. Auf einer Seitenbank sitzen junge Frauen, die auf das Eintreffen einer Hochzeitsgesellschaft warten. Es wird gequatscht und gelacht. Oben im 1. Stock vor dem Büro des Zivilstandsbeamten stehen 2 Männer mit Rosen am Revers. Wollen sie ihre Partnerschaft registrieren lassen? Oder sind es Bräutigam und Brautführer, die die Frauen erwarten? Das weiss man heute nicht mehr so genau.

Aber das wissen wir: Hier im Stadthaus ist Mike van Audenhoves Werk bestens aufgehoben.

Ausstellungsdauer
Diese Ausstellung dauert noch bis 16. Juni 2006 (Montag bis Freitag, 9 bis 18 Uhr).

Sonntag, 16. April 2006

Vom Osterfest und der „Pas-cha“ aus dem alten Russland

Ostern hat für mich viele Gesichter. Da ist das Osternest aus der Kindheit mit den im Zwiebelschalen-Sud gekochten Eiern. Dann der Schokolade-Osterhase und das Ei aus Blech mit seinem zuckersüssen Inhalt und der Abbildung der Familie Hase auf dem Deckel. Zu Ostern gehörten auch Moos, erste Blumen, Waldspaziergänge und das heitere Licht durch den noch unbelaubten Wald. Dann auch das Osterlicht aus der Kirche und später, viele Jahre lang, Ostergeschichten aus dem alten Russland. Solange sein Volk durch den eisernen Vorhang von uns getrennt war, empfand ich es spannend, wenigstens die Geschichten seiner Dichter lesen zu können.

Vor nicht langer Zeit hat mich dieses österliche Russland wieder eingeholt. Eine Kundin brachte ihre hölzerne Form für den traditionellen Topfen-Kuchen, eine dem Osterfest vorbehaltene Quarkspeise mit dem Namen „Pas-cha“, zur Renovation in unsere Werkstatt. Eine Form aus ausgewaschenem Holz, geschmückt mit einem eingekerbten Blattmotiv, die als Grundmasse 2 kg Topfen fassen kann. Wenn die „Pas-cha“ hergestellt ist, trägt sie das Dekorationselement auf der Oberfläche, genau so wie unsere Butter-Mödeli die ihren präsentieren. Und die Geschichte dazu durften wir auch noch erfahren.

Ihr Grossvater, ein Vertreter der Textilindustrie aus Wald im Zürcher Oberland, wanderte nach Russland aus, fand dort seine Frau, heiratete, wurde Vater, konnte eine gute Existenz aufbauen. Die russische Revolution aber machte alles zunichte. Er musste heimkehren. Das Bürger-Asyl in Wald ZH nahm die Familie auf. Auf die Flucht nahm Grossmutter ihren Samovar und die hölzerne Topfen-Form und ihre Tischwäsche mit. Diese für sie wichtigen Gegenstände überlebten bis heute und werden von der Enkelin sorgsam gehütet. Die „Pas-cha“-Form ist jetzt mehr als 100-jährig.

Seitdem wir das Osterfest im Haus dieser Frau und mit ihrem Freundeskreis feiern durften, gehört ein Hauch altes Russland weiterhin zu unseren Osterfesten, denn alle Erfahrung sammelt sich zu einem Ganzen, dem Gefühl oder Wissen, was dieses Fest ist. Wir durften damals im Haus versteckte Ostereier suchen und die köstliche „Pas-cha“ kosten. Dazu wurde Tee aus dem Samovar der Grossmutter ausgeschenkt und wir benutzten ihre Servietten. Da fühlte ich dann Bezüge zu meinen Vorfahren. Haben sie diese Flüchtlinge aus Russland gekannt? Auch meine Familie stammt aus dem Dorf Wald, wie ich im Blog vom 25. Februar 2006 erzählt habe.

Ostern hat viele Ebenen. Dieses Fest gehört zum Frühling und zur Auseinandersetzung mit dem Winter. Frühling ist aber manchmal noch gar kein Frühling. Es überfallen uns Nässe, Kälte und Schnee, wenn wir schon glaubten, die wärmere Jahreszeit sei angekommen. Da bewundere ich dann die Widerstandskraft der schon gekeimten Samen. Sie trotzen dem Frost und setzen sich durch. Kein Wunder, dass auf der Ebene der Transzendenz die Auferstehung das zentrale Thema dieses Festtages ist. An Ostern feiern wir das Leben und die Freude am Leben.

Zu einem Festtag gehören Speisen, die nicht alltäglich sind. An Ostern ist das Lamm oft Mittelpunkt. In meinem Elternhaus gab es nur den selbst gemachten Hackbraten und in ihm versteckt gekochte Eier. Auch eine Art von Osternest. Seitdem ich verheiratet und von der italienischen Mentalität beeinflusst bin, gehört die Colomba, das Hefegebäck in Taubenform, auf unseren Tisch. Wir trinken dazu den Vinsanto, nachdem wir in der Osternacht das Haus mit Weihrauch ausgeräuchert haben. Zur Colomba lese ich in einer Publikation von „Globus Delicatessa“, sie sei die feinste Art, Frieden zu geniessen. Verschiedene Legenden würden sich um die Entstehung des traditionellen Osterkuchens ranken und alle handelten vom Frieden.

Der Inhalt unserer Feste bleibt sich immer gleich. Wir, die wir sie feiern, bekränzen sie aber mit dem persönlichen Verständnis und der eigenen Fantasie und gestalten damit die Familien-Kultur. Niemand lebt alle Facetten aus, darum sieht Ostern für alle etwas anders aus. Ich bin zum Beispiel noch nie im Stau auf der Autobahn Richtung Tessin stecken geblieben, weil ich kein Auto besitze. Ich stelle mir vor, dass die Geduld für das Nadelöhr in den Süden für viele Reisende Bestandteil der Osterferien ist und möglicherweise als wohltuend empfunden wird. Da gehören dann alle zusammen, können nicht weglaufen, sich nicht anders beschäftigen. Sie haben Zeit füreinander.

Montag, 10. April 2006

Der Warenmarkt Zürich-Oerlikon, eine Entdeckung für mich

Das wusste ich nicht, dass in Zürich-Oerlikon nach einer Winterpause immer am letzten Donnerstag im Monat ein Warenmarkt stattfindet. Celeste schickte mich dorthin. Sie brauchte Roman-Nachschub.

Es ist ein nasskalter Morgen, als ich hier eintreffe. Ich fühle mich wie in Ponte Tresa, weil ich letztes Jahr zur selben Zeit und mit gleichen Wetterbedingungen durch die Angebote schlenderte.

Diesmal habe ich einen Auftrag und ein festes Ziel: Ich muss an einem bestimmten Stand nach den billigen Roman-Heften mit Geschichten von Fürstenhäusern fragen. Affären, Intrigen, Glanz und Gloria sind Eckpfeiler von Celestes Interesse.

Der Andrang ist riesig. Hier werden einerseits mehrfach gelesene Roman-Hefte angeboten, anderseits solche von der Kundschaft wieder zurückgenommen. Eine Art marktfahrende Bibliothek. Offensichtlich eine erfolgreiche Sache. Frau an Frau steht da, sucht, sammelt, hebt in der einen Hand die Beute hoch und gibt mit der andern die eben gelesenen Titel wieder zurück. Die Preise scheinen moderat. So etwas kann man sich leisten.

Hier ist alles neu für mich. Ich stehe da, schaue zu und weiss nicht, wie ich meinen Auftrag ausführen soll. Offensichtlich befinde ich mich an einer Futterkrippe. Ausser mir wissen alle, wo sie ihre Hefte herauszupfen können. Da eine Geschichte von der ersten Beige, dort 2 weitere aus einer anderen Rubrik usw. Die Marktfrau ist sehr konzentriert, schaut kaum auf, zählt, rechnet, verrechnet und lässt die Hefte in einen Plastiksack gleiten. Dann nimmt sie die Zahlung entgegen und ordnet das zurückgenommene Gut sofort wieder in die entsprechenden Rubriken ihrer Auslage ein. Und dort werden sie von den Wartenden auch gleich wieder weggenommen. Die Sache hat Stil und lebt von Ordnung. Neben der Frau amtet auch der Partner mit gleich nüchterner Genauigkeit. Für Sprüche gibt es weder Bedarf noch Zeit.

Da ich Rat brauche und somit noch keine vollen Hände zur Marktfahrerin ausstrecken kann, werde ich auch nicht bedient. Das wird von einer Kundin neben mir bemerkt. Sie ermuntert mich, einfach zu rufen, was ich brauche. Ja, es ist wahr. Ich stehe da wie ein scheues Kind, das Rot-Kreuz-Abzeichen verkaufen sollte und sich nicht getraut, die Menschen anzusprechen. Ausser mir wissen hier alle, wie der Laden läuft. Das Warten aber ist spannend. Eine Art Theater. Andere zahlen dafür ein Eintrittsbillett. Ich lerne etwas bisher Unbekanntes kennen.

Ich frage mich, ob diese betagten, wirklich alten Frauen, die hier einkaufen, der Lebenslust nachtrauern und noch Geschichten erleben wollen, die ihnen das Leben vorenthalten hat. Oder ob sie einfach aufblühen, wenn sie sich mit einer Romanheldin identifizieren können. Der Hunger nach Geschichten, nach Liebe und Happy-End ist spürbar. Alle sind auf der Jagd nach gutem Stoff. Spannung muss sein, so ist das Leben noch schön. Im Vergleich zu den TV-Glotzern sind diese Herz-Schmerz-Leserinnen von hochgradiger geistiger Potenz.

Eine Kundin erschrickt, findet ihr Portemonnaie nicht gleich. Die Marktfahrerin tadelt: „Ich sage es euch immer wieder: Wenn ihr das Portemonnaie in der Aussentasche versorgt, dann wird es euch auch gestohlen.“ Die Betroffene findet aber gerade in diesem Augenblick den gesuchten Geldbeutel. Die Falten in der Innentasche hielten ihn versteckt. Sie ist so froh darüber, dass sie sich nicht einmal über die abkanzelnden Worte ärgert. Sie bedankt sich und geht weg. Sie hat gefunden, was sie sich gewünscht hat.