Dienstag, 14. März 2006

Capunet aus Poschiavo, dem „schönsten Ort auf Erden“

Gestern war ich bei Celeste im Altersheim. Heute kochte ich Capunet (Spinatgericht aus dem Puschlav). Kein Wunder. Diese Verwandte hat immer noch grossen Einfluss auf mich. Durch sie habe ich die Puschlaver Küche kennen gelernt. Diese ist ehrlich, kräftig und von südländischer Güte. Und so wie sie mir vermittelt worden ist, kommt sie ohne bewilligte Hilfsmittel aus. Das imponiert mir. Einige ihrer Rezepte gehören heute ganz alltäglich auch in meine Küche.

Celeste stammt aus Poschiavo. Sie wuchs in der Grossfamilie in diesem von mediterraner Kultur geprägten Ort auf. Aber schon mit 13 Jahren musste sie ihre Heimat verlassen, denn das Puschlav kann nicht allen hier Geborenen einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz anbieten. Die Kehrseite seiner landschaftlichen Schönheit und Unberührtheit sind die fehlenden Arbeitsplätze.

Oft erzählte sie mir von diesem Abschied, der jetzt ungefähr 77 Jahre zurückliegt. Immer wieder tauche er vor ihrem inneren Auge auf. Sie schilderte, wie sie in der Rhätischen Bahn wegfuhr und immer nur rückwärts schaute. Sie sei untröstlich gewesen, habe herzzerbrechend geweint, als sich der Zug in jene Höhe hochgeschraubt hatte, wo er ein letztes Mal Aussicht auf das gesamte Tal bot. Die Reise den Seen entlang und vorbei an der Wasserscheide in die unbekannte Deutschschweiz, wo Steine und Licht grauer sind, alle diese Stationen schaute sie durch den Tränenvorhang.

In einer Gruppe mit andern jungen Mädchen kam sie in eine Spinnerei. Dort musste sie als Fabrikarbeiterin ihren Lebensunterhalt eigenständig verdienen. Die Arbeitsbedingungen waren demütigend. Celeste ereifert sich auch heute noch darüber, dass die Milch in grosse Becken geleert und anderntags der Rahm abgeschöpft werden musste. Dieser war für den Pfarrer bestimmt. Den Mädchen stand nur die wässrige Milch zu. Ihre Wut kann ich nachvollziehen. Zudem ist sie eine Geniesserin und kennt Qualität. Sie hatte dann das Glück, die Nahrung zum Hauptthema ihres gesamten Lebens zu machen. Sie fand Arbeit im Gastgewerbe. Auch im privaten Kreis kochte und bewirtete sie andere gern.

Viele Puschlaver mussten auswandern, wie sie. Viele fanden Arbeit und Auskommen in der Gastronomie. Berühmt sind Zuckerbäcker, die nach Spanien emigrierten und dort erfolgreich wurden. Aber das Heimweh war schliesslich stärker als der Erfolg. Für den Lebensabend kamen sie zurück und bauten am südlichen Ortsende, etwa um 1830, das so genannte Spaniolenviertel, aneinander gereihte, farbenfrohe Villen.

Poschiavo ist ein prächtiger Hauptort. Er liegt in der Talsenke, ist keine Stadt, aber ein Flecken mit interessanter Architektur, prächtigen Häusern und Palazzi und einer spannenden Geschichte. Hier wird pus‘ciavin gesprochen. Es ähnelt dem Veltliner-Dialekt. Poschiavo gehört zum italienisch geprägten Teil des Kantons Graubünden. Die offizielle Sprache ist hier Italienisch. Das Tal erstreckt sich vom Hospiz des Berninapasses bis an die italienische Grenze.

Im Gegensatz zu den Zuckerbäckern kann Celeste nicht an ihren Geburtsort zurückkehren. Sie ist zu krank. Sie denkt immer mehr ans Sterben. Und sie will vorsorgen, dass es am Leidmahl für sie etwas Rechtes zu essen gibt. Schon vor Jahren, als sie einmal meinte, ihr Ende stünde bevor, eilte sie in jenes Gasthaus, in dem wir uns dann zu ihrem Abschied treffen sollen. Sie verlangte die Speisekarte, erkundigte sich nach den Preisen und traf ihre Wahl. Dann informierte sie den Chef, es handle sich um das Leidmahl für sie selbst. Dem verblüfften Wirt sollen die Worte im Hals stecken geblieben sein. Fürchtete er vielleicht, der Geist einer verstorbenen Person stünde vor ihm? Celeste erzählte, dann habe sie gelacht und schliesslich er auch mit ihr.

Das Capunet-Rezept
Celeste konnte mir den Namen Capunet nicht ins Deutsche übersetzen. Capunet ist Capunet. Ein Eigenname. Eine Puschlaver-Spezialität.

Capunet, das Gericht aus Spinatklössen

Die Zutaten:
zirka ½ kg Blattspinat
5 Esslöffel Paniermehl
Butter
1 Zwiebel, gehackt
1 Büschel Petersilie, gehackt
Muskatnuss
2 Eier
5 Löffel Weissmehl
Salz
Butter
geriebener Parmesan
2–3 Knoblauch-Zehen

Die Zubereitung:
Für dieses Gericht mahle ich trockenes Brot und röste es ohne Fettzugabe in der heissen Pfanne. Oder: Gewöhnliches Paniermehl rösten.

Den Blattspinat und die Zwiebel separat dünsten und durch das Passevite (handbetriebenes Passiergerät mit Siebeinsatz) treiben. Oder: Es kann auch gefrorener, aufgetauter Spinat verwendet werden.

Spinat erkalten lassen, mit dem Paniermehl mischen.

Salz zufügen. Petersilie beigeben. Die Eier darunter ziehen.

Das Mehl darüber streuen. Mit Muskatnuss würzen.

Zu einem dicklichen Teig verarbeiten. Eventuell nach Gutdünken zusätzlich etwas Mehl dazugeben. Die Masse auf ein Brett ausstreichen und ruhen lassen.

Ich bereite die Masse jeweils im Laufe des Morgens zu und lasse sie mindestens 1 Stunde ruhen. Mehl und Brot quellen auf und bilden einen guten „Leim“, der das Gemüse zusammenhält.

Davon dann Klösse abstechen und ins siedende Salzwasser geben. Wenn sie aufsteigen, werden sie herausgehoben, mit dem Käse bestreut und mit flüssiger Butter, in der die ausgepressten Knoblauchzehen gedünstet wurden, übergossen. Celeste sagt: Viel Käse darüber streuen.

Wenn eher grosse Klösse geformt worden sind, steigen sie vielleicht nicht so leicht auf. Das Gefühl muss dann entscheiden, wann sie gar sind und aus dem kochenden Wasser herausgehoben werden können.

Primo gibt noch die Anleitung, wie die Klösse fachgerecht hergestellt werden. In seinem Elternhaus wurde diese Arbeit wie ein Ritual gehandhabt. Man arbeitete mit 2 Löffeln. Er sagt: Man nimmt in jede Hand einen Löffel. Mit dem 1. stichst du aus der Masse eine Portion ab. Mit dem 2. Löffel deckst du diese Portion zuerst zu und hebst sie danach aus ihm heraus. Jetzt liegt sie auf dem anderen Löffel. Dieses Wechselspiel soll sich einige Male wiederholen. Es bewirkt, dass die Klösse gleich gross und etwas gepresst werden. So fallen sie beim Kochen nicht auseinander.

Nach kurzer Anlaufzeit wird diese Arbeit zum Spiel, zum Tanz der Löffel.

Diese Perfektion ist aber nicht zwingend und soll niemanden abhalten, Capunet herzustellen. Die Klösse munden auch, wenn sie ungleich und nur von Hand geformt sind.

Meine Schnell-Version von Capunet
Das typische Capunet-Aroma entsteht im Zusammenspiel von Spinat, Brot, Knoblauch, trockenem Käse und zerlassener Butter.

Oft gibt mir hartes Brot den Impuls, mein eigenes Capunet herzustellen. Ich wäge nichts ab, arbeite mit dem Gefühl. Für einen ersten Versuch kann man sich an obige Masse halten.

Ich mahle immer zuerst das harte Brot zu Paniermehl und röste es. Dann widme ich mich dem Spinat. Zusammen mit der gehackten Zwiebel wird er gedünstet und durchs Passevite gedreht. Dann werden Brot und Spinat gemischt, 2–3 ausgepresste Knoblauchzehen dazu gegeben, ebenso den geriebenen Käse und etwas Kräutersalz und Pfeffer. Wenn vorhanden, mische ich auch Petersilie darunter. Dann träufle ich noch wenig Olivenöl oder zerlassene Butter darüber und fertig ist die schmackhafte Beigabe zu einer währschaften Polenta.

Im Frühjahr ersetzen jeweils die ersten Bärlauchsprossen den Knoblauch in dieser Capunet-Version.

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