Samstag, 25. Februar 2006

„Bleichibeiz“ Wald ZH: DRS 1-„Persönlich“ persönlich erlebt

Was würde auch meine Grossmutter sagen, wenn sie mich in der „Bleichibeiz“ auf einer der Treppenstufen sitzend erspäht hätte? An ihrem einstigen Arbeitsort, der heute umgenutzten „Weberei Bleiche“? Noch stehen die Fabrikgebäude in ihrer ursprünglichen Form an den angestammten Plätzen, aber in ihren Räumen wird modernes Leben gelebt und zelebriert.

Kein Lärm mehr von Webmaschinen, kein krankmachender Staub mehr in den grossen Räumen. Alte Türen, alte Friese und alte Beschriftungen im Vorraum der Toiletten, hätte sie sicher erkannt. Alles andere aber trägt den Touch von heutigem Schönheitsempfinden, von Helle und Frische und aus der Sicht meiner Grossmutter von purem Luxus. So viel Wohnraum für nur ein Paar oder eine kleine Familie, „höre“ ich sie sagen. Ganz anders als ihre Wohnung damals im Kosthaus der „Bleiche“.

Mit dem Hotel- und Wellnessbereich, den Räumen für grosszügiges Wohnen im Stil amerikanischer Lofts, ist hier ein Quartier entstanden, das den urbanen Lebensstil aufs Land gebracht hat. Der Ort ist dort aufgewertet, wo das Alte neu werden darf, wo Altes sinnvoll umgebaut und umgenutzt wird.

Was hätte Grossmutter wohl zu den anwesenden Menschen gesagt? Hätte sie Gesichter als echte Zürcher Oberländer Köpfe erkannt? Und hätte sie den Dialekt noch als den ihren verstanden? Auch Sprache wandelt sich. Auch an ihr wird geschliffen.

Von dieser „Bleiche“ aus, exakt aus der sympathischen „Bleichibeiz“, wurde die Sendung „Persönlich“ am Sonntag, 19. Februar 2006, ausgestrahlt. Röbi Koller sass unter dem Porträt des „Bleiche“-Fabrikgründers Kaspar Honegger und ihm gegenüber die Redaktorin der „Walder Zeitung“, Esther Weisskopf, und der Unternehmer Pio Meyer. Er, der Patron der Firma Bioengineering AG. Auch seine Fabrik war einmal eine Weberei und wurde 1978 auf die Bedürfnisse seiner Biotechnologiefirma umgebaut und mit neuem Leben erfüllt. Meyer bekam grossen Applaus, als er erzählte, dass er die Gebäude der ehemaligen „Weberei Sagenrain“ zwar günstig habe kaufen können, doch was damals billig war, erweise sich heute als teuer. Einfühlsames Renovieren und Instandhalten seien extrem kostenintensiv. Einfacher sei es heute. Man setze eine neue Fabrik einfach auf die grüne Wiese. Er aber ist der Meinung, dass alte Gebäude mit ihrer grossen Geschichte den Menschen erhalten werden sollen.

Von beiden Gesprächspartnern, die von Röbi Koller befragt wurden, hörten wir, dass sie keine Ur-Walder seien. Weisskopf stammt aus dem Limmattal, Meyer aus dem Freiamt, und beide engagieren sich auf ihre Weise mit grosser Hingabe für den ihnen nun lieb gewordenen Ort Wald mit seiner herben landschaftlichen Schönheit und den hier ansässigen Menschen.

Wald war einst eine Hochburg der schweizerischen Textilindustrie und wurde im 19. Jahrhundert als das „Manchester der Schweiz“ bezeichnet. Manchester in England als Zentrum des Baumwollhandels und der englischen Baumwollindustrie wirkte offensichtlich als starkes Vorbild. Noch zeugen Villen von der grossen Vergangenheit. Darum wurde die Hauptstrasse in Richtung Rüti früher „Millionenstrasse“ genannt. Hier wohnten die Herren. So nannten auch meine Eltern ihre Brotgeber. Ihre Mütter waren schon Fabrikarbeiterinnen in einer der einstmals 16 erfolgreichen Textilfabriken. Diese Hochblüte ist längst vorbei. Etliche Gebäude stehen noch, einige wurden umgebaut und umgenutzt. So auch die „Bleiche“, aus der die Radio-Sendung ausgestrahlt worden ist.

Ein Glücksfall, wenn Menschen von ausserhalb hier einziehen und sich für den Ort und die reiche Geschichte interessieren. Sowohl Frau Weisskopf als auch Herr Meyer sorgen dafür, dass hier nicht nur Brot verdient werden kann, sondern auch Kultur leben darf und Menschen sich entwickeln dürfen. Ich habe der Redaktorin ganz aufmerksam zugehört. Sie konnte ihre Arbeit in einem Team von 10 Personen gut verständlich schildern. Pio Meyers Interesse an Wald empfinde ich aussergewöhnlich, sagenhaft.

Und ich war stolz für „mein“ Dorf. Hier bin ich ja geboren. Ich habe als Kind erlebt, wie die Bahn elektrifiziert wurde und erinnere mich lebhaft an die Ankunft der ersten elektrischen Lokomotive. Und jetzt freue ich mich, dass Radio DRS hierher gekommen ist und den Menschen, die hier leben und arbeiten, zugehört hat.

Sonntag, 19. Februar 2006

Haste noch Worte? – Wenn Computer oder Rücken streiken

„Haste noch Worte?“, sagte jeweils meine Freundin Annedore aus Berlin, wenn sie überwältigt war von der Schönheit einer Aussicht oder wenn sie eine unglaubliche Geschichte vernahm.

„Haste noch Buchstaben?“, fragte ich meinen Computer, als er sich weigerte, auch nur einen einzigen auf dem Bildschirm antreten zu lassen. Streik war angesagt. Keine Worte, keine Texte. Es war wie vor kurzem hier in Zürich, als die Bühnenarbeiter des „Schiffbaus“ für bessere Löhne streikten.

Als ich meinem Computer dann eine Stunde Ruhe zugestand, war er wieder bereit, zu arbeiten. Die Buchstaben, die mir seither wie Tänzer erscheinen, begrüsse ich nun freundlich und dankbar. Ich schaue ihrem Auftritt jetzt aufmerksamer zu, viel mehr als vorher. Da war es einfach selbstverständlich und zum System dieses Apparates gehörend, dass sie taten, was meine Finger anschlugen. Der Computer ist schliesslich ein Stromgehirn. So sollen die Chinesen ihn umschreiben, habe ich dieser Tage gelesen. Also sollte er funktionieren, wenn die verschiedenen Kabel korrekt eingesteckt sind.

Vieles in unserem Leben basiert auf Selbstverständlichkeiten. Wenn sie aber erlahmen, erschrecken wir. Dasselbe gilt auch für den Körper. Auch er leistet natürlicherweise Enormes, ohne dass wir besonders achtsam sind. Überfordern wir ihn, ächzt und stöhnt er, und wenn diese Signale nichts bewirken, streikt auch er. Aber das wird einem erst im Nachhinein bewusst.

Die Hexe, die mir ins Kreuz geschossen ist, ist zwar wieder abgereist, doch hat sie schmerzende Denkzettel hinterlassen. Auch ich muss nun vermehrt „eine Stunde ruhen“, um wieder funktionieren zu können. Zu den heilsamen Denkzetteln gehört auch die Einsicht, dass im Rücken die ganze Lebensgeschichte gespeichert ist. Alle Lasten sind hier eingeschrieben, alle freudigen Bewegungen auch. Zusammen formten sie die Wirbelsäule mit. Unvorstellbar die Fülle ihrer Arbeit, ihr Mitschwingen, ihre Beweglichkeit. Solche Einsicht jagt mir einen Schauer über den Rücken. Da kann ich mit Annedore nur sagen: Haste noch Worte?

Sonntag, 12. Februar 2006

Die Emanzipation der Frau führt aus Zwängen heraus


Ich habe das Buch „Der Weiblichkeitswahn“ von Betty Friedan nicht gelesen und mich dennoch emanzipiert!

Ich betrachte die Emanzipation der Frau als eine natürliche Folge der Französischen Revolution, von der wir immer noch profitieren. Es war nicht Betty Friedan, die die Emanzipationswelle ausgelöst hat. Es war Zeit für diesen Kampf, der auch mit einer Revolution verglichen werden kann. Sie hatte die Gabe, die Ungerechtigkeiten in einem Buch zu beschreiben. Viele der Frauen erkannten sich darin wieder. Darum wurde das Buch ein Erfolg. Nicht umgekehrt. Ein Buch allein hätte kaum eine solche Revolution auslösen können, wenn der Boden für den Befreiungskampf nicht vorbereitet gewesen wäre. Ich erachte das auch nicht als etwas typisch Amerikanisches. Ganz und gar nicht.

Im „Lexikon der 1000 Frauen“ aus dem Verlag J. H. W. Dietz finde ich 57 Frauenrechtlerinnen mit Geburts-Jahrgängen von 1808 bis 1894.

Jeder Revolution geht grosses Unrecht voraus. Es sind unhaltbare Zustände, die vernichtet werden sollen. Darum ist eine Revolution nie etwas Schönes. Sie bewegt sich in den Niederungen menschlichen Daseins und kämpft mit skrupellosen Mitteln. Darum haben mir auch die Artikel von Frauenrechtlerinnen nie gefallen. Alice Schwarzer erreichte mich auch nicht. Ihre Anklagen waren mir fremd. Ich konnte in einer Ehe leben und doch ein freier Mensch sein. Ich fand die Schilderungen jeweils abscheulich. Aber nach und nach spürte ich die wahre Absicht hinter dieser Bewegung, und es dünkte mich, ich hätte nicht das Recht, diese kämpfenden Frauen zu verabscheuen, die ganz andere Erfahrungen gemacht hatten als ich. Schilderte ich meine Einsichten über die Männer-Macht jeweils am Familientisch, sagte ich aber dazu immer noch schnell: Anwesende ausgeschlossen! Ich tastete mich langsam und ohne kriegerische Ansätze in dieses Thema vor. Und heute merke ich, dass Primo, mein Ehemann, manchmal viel sensibler auf dieses Thema reagiert als ich. Zugunsten der Frauen.

Etwas später habe ich – ohne mein Zutun – männliche Dominanz in der Sprache gefunden. Etwas Schönes war herrlich. Ein anderes Wort, Herrschaft, wirkt ebenfalls abstossend auf mich. Zwar nicht inhaltsgetreu, aber dem Klang nach schafft der Herr. So Herrschaften! sagte manchmal Primo ganz arglos, wenn er zu uns heimkam. Dann reagierten die Töchter unmissverständlich: Hier schaffen Frauen.

Es gab eine Zeit, da sprangen mir solche Worte zu, auf dass ich endlich begreife, was vor sich gehe. Und so bin ich heute allen Kämpferinnen dankbar, denn ich profitiere auch davon, dass ich heute mehr als Mensch denn als untergeordnete Frau wahrgenommen werde und mir viele Türen offen sind.

Ja, gueti Frau! war auch so eine Antwort, wenn man eine Frage stellte und ein Mann meinte, die ihm gegenüberstehende Frau könne die Antwort sowieso nicht begreifen. Oft erlebte ich, wenn ich einen Handwerker für eine Reparatur im Haus rufen musste, dass dieser ein Stichwort sagte und dazu anfügte: Ihre Maa chunnt dänn scho druus (Ihr Mann wird sich schon zurechtfinden).

Ich erlebte noch in den 60er-Jahren nur zu oft, wie in Gesellschaft nur die Männer redeten. Brachten es die Frauen fertig, sich einzumischen, wandten sich die Männer ab. Einer ist mir besonders in Erinnerung, der die Pfeife stopfte und auf den Balkon umzog, weil ihm das Thema zu frauen- oder familienfreundlich war.

Im Januar/Februar 1996 besuchte ich Ringvorlesungen an der Zürcher Volkshochschule, die der Geschichte der Zürcher Bahnhofstrasse gewidmet war. Ein Abend war den Frauen (von einst) an der Bahnhofstrasse gewidmet. Da berichteten Historikerinnen von den Arbeitsmöglichkeiten dieser Frauen, wenn ich mich recht erinnere zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Es ging da um einen Bericht von ersten Möglichkeiten, ausserhalb des Hauses arbeiten zu können. Das Telegrafenamt stellte Frauen als Telefonistinnen ein. Die Frauen aus dem Bericht gaben zu Protokoll: Jeder Mann an diesem Ort war unser Chef, selbst der Lehrling. Dies ist für mich das Paradebeispiel für die Zustände in der Schweiz.

Und in der katholischen Kirche ist es heute noch so. Es ist das männliche Element, das die letzten Fragen beantworten will und Frauen aus den höchsten Ämtern ausschliesst.

Mir kommen auch Frauen in den Sinn, die schriftstellerisch tätig sein wollten und sich ein männliches Pseudonym anlegen mussten, um akzeptiert zu werden.

Für mich ist Emanzipation Entwicklung, die aus Zwängen herausführt. Sie ist eine Metamorphose zum mündigen Menschen hin, die nicht männliche oder weibliche Herrschaft (schon wieder dieses Wort) zum Ziel hat. Männer und Frauen – gleichberechtigt. Gleichberechtigt in Bezug auf Schulbildung und Talent-Förderung. Gleich viel wert, ob Mann oder Frau.

Es geht nicht darum, dass die Emanzipation die Familie zertrümmern soll. Es geht nicht darum, dass die Mütter ihre Kinder nicht mehr begleiten sollen und dass Familienfrauen belächelt werden. Viele Familienfrauen sind echte Organisationstalente und engagieren sich dann, wenn die Kinder flügge sind, anderswo auch wieder. Es geht einzig und allein darum, dass Frauen sich aus dem Machtdenken der Männer befreien dürfen. Männer und Frauen sollen das Leben gemeinsam gestalten. Mann und Frau in der Ehe sollten, so paradox das klingen mag, gleichwohl freie Menschen sein.

Ich will aber nicht in Abrede stellen, dass es dann die negativen Begleiterscheinungen gegeben hat und immer noch gibt. Für mich sind das aber Auswüchse von Verantwortungslosigkeit.

Wir haben es mittlerweile erlebt, dass Frauen in ehemaligen Männerdomänen ganz gut zurechtkommen und ihren Beitrag an Entwicklungen und Forschungen leisten.

Primo arbeitet jetzt in einer Frauen-Schreinerei und hat keine Mühe zu sagen: Das ist meine Chefin, die dann jeweils liebenswürdig schmunzelt. Mich dünkt, die Emanzipation sei nur noch in unserer Generation ein Thema, das furios machen kann.

Ich bin übrigens gar nicht der Meinung, dass die Welt besser wäre, wenn die Frauen die alleinige Macht übernähmen. Unser Leben kann doch nur sinnvoll sein, wenn das männliche und das weibliche Element entwickelt werden.

Dienstag, 7. Februar 2006

Besuche bei Nachbarn: Immer etwas ganz anderes

Auf einer der Neujahrskarten, die in meinem Briefkasten gelandet sind, hiess es: „Nicht der Fluss fliesst, sondern das Wasser. Nicht die Zeit vergeht, sondern wir.“

Dieses Wort hat sich dieser Tage wieder einmal bestätigt. Unser Nachbar N. ist gestorben. Trotzdem fliesst die Limmat hinter unseren Reihenhäusern unbekümmert weiter, und unsere Zeit mit all ihren Einflüssen gibt es auch immer noch.

Für die direkt Betroffenen ist ein Tod oft Schicksalsschlag, manchmal auch Erlösung. Auf jeden Fall verändert er vieles. Manche Angehörigen bekommen durch ihn augenblicklich einen neuen Platz im Leben. Für Aussenstehende ist das anders. Aber sogar sie werden – wenn auch nur kurz – von seinem Geheimnis berührt.

In unserer Reihenhaus-Siedlung ist es üblich, dass für verstorbene Nachbarn gesammelt wird. Früher stand das Abschiedsgeschenk als Kranz mit Schleife als letzter Gruss am Grab. Heute wird gemeinnütziger Institutionen gedacht.

So bin ich jetzt wieder unterwegs, klopfe an manche Tür, werde willkommen geheissen, finde Einlass, höre Geschichten. Ein Tod beschliesst Lebensgeschichten, lässt aber zuerst noch manche Episoden neu aufflackern. Aber eines bleibt sich eigentlich immer gleich. Es fällt plötzlich leicht, bei Menschen, die im Miteinander knorrig und eigenwillig erschienen, die guten Seiten zu sehen und vorher vorhandene Abneigungen aufzulösen.

Solche Gänge sind für mich immer noch etwas ganz anderes. Wer mich einlässt, öffnet auch eine Tür zu sich selbst. Wenn ich von Haus zu Haus ziehe und die verschiedenen Einrichtungen sehe, zeigt sich mir auch das Bild des inneren Menschen, seiner Werte, seiner Vorlieben, seiner Art von Kultur. Da möchte ich dann den Erbauer Hans Bernoulli auf diese Gänge einladen und ihm zeigen, was Menschen von heute aus seinen Häusern aus den Jahren 1920–1930 machen. Zusammen würden wir sicher von Welten reden, die sich uns da offenbaren. Von Lichtdurchlässigkeit und Heiterkeit, von Kuriosem, aber auch von Düsternis und Angst. Es gibt hier Häuser, die dunkel und wie Burgen abgeschlossen, mit vielen Warnschildern versehen sind. Als Bernoulli sie baute, wurden die Mauern einheitlich weiss getüncht, Türen und Läden grün gestrichen. Und heute? Das Kunterbunte ist zum Massstab geworden. Im Innern wurden und werden an vielen Orten Wände herausgetrennt und grössere Räume geschaffen. Wintergärten wurden angebaut usw. Und immer noch sind diese Häuser Vorzeige-Objekte für Architekturstudenten.

Wenn ich nun nochmals das Eingangs-Zitat lese, wird mir klar, wie die Zeit zwar nicht vergeht, aber der Zeitgeist sich ändert.