Dienstag, 24. Januar 2006

Zurückschauen und etwas Schönes finden

Aber was war denn das Schönste an diesem Tag? Das fragte ich unsere Kinder immer dann, wenn sie aus irgendeinem Grund traurig oder bekümmert waren und ich ihnen ermöglichen wollte, unbeschwert einzuschlafen. Zusammen haben wir immer etwas Schönes gefunden, wenn wir den Tag nochmals anschauten.

Letzte Woche hat mich die jüngere der beiden Töchter wieder einmal darauf angesprochen. Sie befand sich zu Fuss auf dem Heimweg und rief mich übers Natel an. Sie hatte einen struben Arbeitstag hinter sich. Vieles muss schief gelaufen sein. Sie konnte sich über ihn nicht freuen. Deshalb rufe sie an, sagte sie. Sie brauche noch etwas Positives, bevor der Tag zu Ende sei. Ich musste schmunzeln und freute mich. Ja klar, diese Methode helfe ihr bisweilen auch heute noch, das Gleichgewicht zu finden. Also tratschten wir etwas miteinander. Vor allem aber hörte ich zu. Sich selbst reden zu hören, wenn das Herz voll ist, ist immer hilfreich. Es klärt das Problem und gibt einem Übersicht. Das kenne ich und schätze es, wenn auch mir zugehört wird.

Kaum hatten wir uns verabschiedet, rief sie erneut an. Jetzt war sie zu Hause. Mit ihrem angeborenen Schalk korrigierte sie die vorherige Aussage. Leider müsse der Wert des Telefongesprächs mit mir um 0,0001 % zurückgestuft werden. Die Zeitschrift für Inneneinrichtungen aus Skandinavien, ihr ausgesprochener Liebling, habe im Briefkasten auf sie gewartet. Das sei nun die eigentliche Freude des Tages!

Ich habe mich schon oft gefragt, warum wir Menschen als Gesamtheit ob all der Unzulänglichkeiten im Leben nicht verzweifeln. Wie können wir all die Schreckensnachrichten, die täglich in unseren Häusern eintreffen, ertragen? Nur deshalb, weil es auch Lichtblicke gibt. Weil wir auf einmal wieder Gedanken und Worte von Mitmenschen vernehmen, die einen tief innen erreichen und wir sofort wissen, dass sie wahrhaftig sind. Weil sie Ehrfurcht vor dem Leben und Hilfsbereitschaft allen Wesen gegenüber ansprechen. Die Hilfsbereitschaft jenem Wal gegenüber, der sich in der Themse verirrte, ist ein Beispiel dafür.

Manchmal ist auch ein Buch eine moralische Kraft, die einem Licht ins Leben bringt. Da fühle ich mich dann mit meinen eigenen Fragen nach der Sinnfindung und den persönlichen Antworten, die ich schon gefunden habe, nicht allein und gleichzeitig gestärkt.

Ein solches Buch habe ich kürzlich gefunden. Es hat mich aus einer Ladenauslage einfach angelächelt. Sein Name „Die Zeit der Sternschnuppen“. Autor: Sergio Bambaren, Peru.

Eine der Geschichten aus diesem Buch handelt von einem Knaben, der trotz widriger Umstände unbeirrt versucht, einen Drachen zu bauen, mit dem er ins Himmelsgewölbe fliegen könne. In Wahrheit war er ein Stern, der auf die Erde gefallen war und wieder zurückkehren wollte. Absurd? Bambaren nimmt einenm so behutsam mit, dass die Geschichte erlebbar wird. Da leuchten dann die Sternschnuppen im eigenen Innern auf.

Wenn wir noch wissen, dass Bambaren sich für „Dolphin Aid“ engagiert und Vizepräsident der Umweltschutzorganisation „Mundo Azul“ ist, bekommen seine Geschichten ein noch stärkeres Gewicht.

Montag, 9. Januar 2006

Nach dem Hexenschuss: Das Warten in der Arztstation

Mit scheinbar letzter Kraft hatte ich mich in die PERMANENCE im Zürcher Hauptbahnhof geschleppt. Die Tramfahrt war mir nicht mehr zuträglich. Aber Beine und Füsse wollten mich noch tragen. So erreichte ich dann zu Fuss die in Zürich beliebte Arztstation für dringende Konsultationen. Ein Hexenschuss hatte mich getroffen.

Da stand ich also schon kurz nach 7 h morgens, war aber nicht die erste, die Hilfe brauchte. Andere Leidende waren schon vor mir angekommen. Sie lasen die Zeitungen, schauten kaum auf. Ich konnte nicht sitzen. Die vorhandenen Stühle erwiesen sich für mich als viel zu tief. Darum wartete ich stehend, hielt ich mich an einer Säule fest und bewegte mich sachte, in der Meinung, ich sei ein vom Wind berührter Baum.

Mein Stehplatz beim Eingang bot mir viel Abwechslung und Einblicke in die Arbeit einer solch lebhaften, viel benützten Station. Alle Ankommenden schienen dankbar, dass sie freundlich angesprochen wurden. Nach etwa einer halben Stunde fiel mir eine Frau auf, die scheu an die Anmeldungs-Theke trat, sich erfassen liess, nur mühsam und sehr leise sprach. Auch sie setzte sich nicht. Sie stellte sich neben mich hin. „Wir leiden offenbar an Gleichem. Können Sie auch nicht sitzen?“, fragte ich. Sie hob die Hand, deutete auf die Brust und hechelte. Dann sagte sie leise. „Ich kann nicht mehr atmen.“

Zuerst dachte ich, ich sei weniger leidend als sie. Man sollte sie schnell behandeln können, doch wurde mir sofort auch klar, dass ich mit einem solchen Wunsch Unordnung ins Getriebe gebracht hätte. Es kommen ja hier nicht nur die so genannten Notfälle, sondern auch Patienten, die mehrmals erscheinen müssen und auf einen bestimmten Zeitpunkt bestellt sind. Es läuft hier auch nicht alles linear, denn die Unangemeldeten werden vielleicht geröntgt oder es werden Blutuntersuchungen nötig, und für die Resultate müssen die vorher Untersuchten und wieder Wartenden nochmals aufgerufen werden. Da stand ich also und fühlte die Beklemmung dieser mir unbekannten Frau. Diese Situation kenne ich, dachte ich dazu, auch wenn sie Jahrzehnte zurückliegt.

Und im gleichen Augenblick erinnerte ich mich an eine Reisebeschreibung einer Gruppe Europäer, die mit ortskundiger Führung in die Wüste gingen. Dort wurde eine Person krank. Als Erstes habe der arabische Reiseleiter die Hand der erkrankten Frau in die seine genommen und sie damit beruhigt. Soll ich das auch machen?, überlegte ich mir.

„Geben sie mir Ihre Hand!“ sagte ich, über mich selbst erstaunt. Die Frau hatte sofort Vertrauen. Meine Hand gab ihr Wärme und die für uns beide überraschende Geste lenkte sie ab. Der Atem floss plötzlich ausgeglichener, und meine eigenen Probleme verschwanden. Es floss etwas zwischen uns hin und her. Bald konnte sie ohne Angst sprechen. Ich hörte von grossen Problemen am Arbeitsplatz. Sie fühle sich wie eine Sklavin, arbeite in einem Hotel. Es würden ihr immer mehr Aufgaben wie etwas Selbstverständliches aufgebürdet. Sie wisse nicht mehr ein und aus. Das konnte ich verstehen. Ich erfuhr von ihr, dass sie schon 12 Jahre in der Schweiz lebe, aus dem Kosovo stamme.

Als ich dann nach einer weiteren halben Stunde aufgerufen wurde, bemerkte die Ärztin unsere Verbindung und stutzte einen Augenblick. Sie sprach mich aber nicht darauf an. Zu meiner grossen Überraschung meldeten sich in diesem Augenblick die eigenen Schmerzen und Blockaden mit voller Wucht zurück. Vorher warteten sie und verhielten sich geduldig. Nun war meine Zeit gekommen, und ich durfte über mein Leiden sprechen.